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Die Corona-Generation: Wie unsere Kinder um ihre Zukunft gebracht wurden

Während der Pandemie hat unsere Gesellschaft gegenüber Kindern und Jugendlichen dramatisch versagt – das schreibt Kristina Schröder im Vorwort des neuen Buches „Die Corona-Generation“ von Birgit Kelle und Eva Demmerle. Die ehemalige Bundesfamilienministerin und stellvertretende Leiterin der Denkfabrik R21 kritisiert Schulschließungen und mangelnde Rücksicht auf die psychischen und sozialen Bedürfnisse junger Menschen.

Das Vorwort von Kristina Schröder im Wortlaut:

Juni 2021, seit Tagen liegen die Temperaturen in unserer Heimatstadt Wiesbaden um die 30 Grad. Endlich erbarmt sich das Hessische Kultusministerium: Wenigstens die Maskenpflicht auf dem Schulhof wird aufgehoben – in den Klassenzimmern müssen die Kinder natürlich weiter unter der Maske schwitzen.

Wenige Tage später schreibt das Wiesbadener Gesundheitsamt an die örtlichen Schulleiter und „empfiehlt“, dass die Kinder dennoch auch im Freien weiter Maske tragen, „wenn ein Abstand von mindestens 1,5 m nicht gewährleistet werden kann“, so die absurde Maßgabe der Behörde, die sich etwa auf einem Grundschulpausenhof nur umsetzen lässt, wenn man jedes Kind in einen Kreidekreis stellt und ihm verbietet, diesen zu verlassen. Sollte es zu einer „Unterschreitung des Mindestabstands ohne Masken“ kommen, könne dies „für eine große Anzahl von Kontaktpersonen Quarantänemaßnahmen zur Folge haben“, lautet die kaum verhohlene Drohung des Amtes gegenüber Sechsjährigen, die es wagen, die Maske im Freien bei 30 Grad auch tatsächlich abzunehmen.

Meine damalige Nachfrage bei einigen Wiesbadener Unternehmen, ob ihnen gegenüber das Wiesbadener Gesundheitsamt denn ähnlich drastisch vorgehe, ergaben einhellig: Nein, nichts dergleichen.

Ausgerechnet gegenüber Kindern und Jugendlichen herrschte in den Jahren der Pandemie in Deutschland ein unbarmherziger Rigorismus, den ich in unserem liberalen Land niemals für möglich gehalten hätte – und der mich dazu brachte, ab Ende April 2020 in Texten, Talkshows und auf Twitter meine Stimme zu erheben. Mein Gefühl war ganz klar: Hier läuft etwas völlig falsch. Basale Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie – etwa, dass auch Kinder und Jugendliche vulnerabel sind, und zwar psychisch. Oder dass in der Adoleszenz verpasste soziale Erfahrungen kaum nachholbar sind – zählten plötzlich nicht mehr. Wer es doch wagte, derartiges zu erwähnen, wurde herrisch zurechtgewiesen: „Das Virus diskutiert nicht“.

Dabei kam es auch zu einer Erosion des Verantwortungsbegriffs. Als besonders verantwortungsbewusst galt der, der Schutzmaßnahmen möglichst rigoros umsetzte. Und der auf die lange Zeit ja sehr drastischen staatlichen Vorgaben freiwillig noch mal eine Schippe drauflegte – hier taten sich viele Leitungen von Gemeinschaftseinrichtungen, etwa Seniorenheimen, Behinderteneinrichtungen oder eben auch Schulen und Kindergärten eifrig hervor (das Gegenteil gab es aber auch: Heimleiter oder Schuldirektoren, die hart an die Grenze des Legalen gingen, um die Regeln für ihre Schutzbefohlenen so erträglich wie möglich zu machen). Dabei übernahmen die, die versuchten, auch noch das kleinste Restrisiko auszuschließen, nach meiner Überzeugung gerade keine Verantwortung im eigentlichen Sinne.

Sondern das übernahmen die, die auch bereit waren, ein kalkuliertes Risiko einzugehen, wenn sie nach sorgfältiger Abwägung aller Zieldimensionen zu dem Ergebnis kamen, dass dieser Weg insgesamt mehr Nutzen als Schaden bringt.

In genau diesem Punkt hat unsere Gesellschaft gegenüber Kindern und Jugendlichen dramatisch versagt: Es gab ja noch nicht mal eine nennenswerte gesellschaftliche Debatte darüber, was Schulschließungen und die drastischen Maßnahmen, die Schule, wenn sie denn mal offen war, zu einem kalten, freudlosen Ort machten, für Kinder und Jugendliche bedeuteten. Dass ihnen nicht nur Bildung entging, die sie mitunter nie wieder werden aufholen können. Sondern dass Schule für Kinder und Jugendliche in der Regel auch sozialer Lebensmittelpunkt außerhalb der Familie ist. Wo sie Freundschaften knüpfen, Konflikte austragen und sich verlieben. Wo sie gemeinsam ein Theaterstück einstudieren und es begeisterten Eltern vorführen, auf Klassenfahrt fahren und im Chor singen. Wo sie es zum Ende der Schulzeit mal so richtig krachen lassen.

Was macht das mit einer ganzen Generation junger Menschen, die all das – in der Regel unwiederbringlich – verpassen? Diese Frage wurde im öffentlichen Diskurs tunlichst vermieden – und auch die, die sie laut und vernehmlich hätten stellen müssen, die Medien, der Ethikrat, erst recht die Kirchen, haben ganz überwiegend zu diesen Punkten geschwiegen.

Dabei hätte es für das Seelenheil vieler Kinder, Jugendlicher und ihrer Eltern sicher viel bedeutet, wenn es wenigstens eine erkennbare Abwägung dieser Punkte gegeben hätte. Selbst, wenn man sich am Ende dann doch für den rigorosen Kurs entschieden hätte – Kinder und ihre Eltern hätten dann wenigstens das Gefühl gehabt, dass man sieht, was all das für sie bedeutet. Statt dessen habe auch ich im persönlichen Gespräch mit in der Pandemie verantwortlichen Akteuren aus Politik und Wissenschaft immer wieder erlebt, dass etwa eine Maskenpflicht im Supermarkt und eine in der Grundschule in einem Atemzug genannt wurden. Als sei es das gleiche, wenn ich als Erwachsene 20 Minuten im Supermarkt eine Maske tragen muss, wie wenn unsere mittlere Tochter, die zu der Zeit Erstklässlerin war, sie in Schule und Betreuung sieben Stunden jeden Tag tragen, so lesen und schreiben lernen musste, mit kurzen Unterbrechungen zwei Jahre lang.

Dieser verdienstvolle Band dokumentiert, was war. Er zeigt, dass die Erkenntnis, dass das Virus für Kinder und Jugendliche – zum Glück! – weitgehend ungefährlich war, bereits früh vorlag und von vielen anderen europäischen Ländern auch beachtet wurde, indem sie nach dem ersten Lockdown im Frühling 2020 im weiteren Verlauf der Pandemie Schulen und Kindergärten nicht mehr oder nur kurz schlossen.

Und er zeigt die Folgen unseres deutschen Kurses. Die psychischen Erkrankungen, die Schäden in den Bildungsbiographien, die sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen.

Damit wird mit diesem Band die Grundlage für etwas gelegt, was wir Kindern und Jugendlichen als allererstes schuldig sind: Ehrlichkeit.

Die Wahrheit ist: Sie wurden benutzt. In der Hoffnung, dass andere Teile der Gesellschaft davon einen Nutzen haben, wurden ihnen drastische Dinge angetan, von denen sie fast nur Schaden hatten. Und unter deren Folgen sie, das räumt auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil, in dem es den Schulschließungen seinen umfassenden Segen erteilt, freimütig ein, in vielen Fällen lebenslang leiden werden.

Mit Immanuel Kant könnte man sagen: Wir haben Heranwachsende zu einem Mittel für die Zwecke anderer Menschen gemacht. Völlig unabhängig davon, ob damit wirklich ein Nutzen für andere erzielt wurde oder nicht: In einem freiheitlichen Rechtsstaat darf es eine solche Verzweckung nicht geben. Von Menschen generell nicht, von Kindern und Jugendlichen schon gar nicht.

Wenn dieser Band dazu beitragen kann, dass wir uns als Gesellschaft zumindest darauf wieder einigen können, dann hat er schon viel erreicht.

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