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Foto: "Münze" von OlegRi via Shutterstock

Die EZB und die Eurozone: The spread is your friend!

Framing ist uns aus der Werbung, den Medien und der Politik bekannt. Es wird besonders dann eingesetzt, wenn Fakten, Massnahmen oder Aussagen unerwünscht sind oder Ablehnung hervorrufen könnten.

Neu und alarmierend ist, dass sich mit der EZB nun auch eine führende Zentralbank eines solchen „Frames“ bedient. Als vor einigen Wochen die Zinsen auf italienische Staatsanleihen auf über 4% angestiegen waren, berief die EZB eine Krisensitzung ein. Ergebnis war die Ankündigung, an einem „Anti-Fragmentierungsinstrument“ arbeiten zu wollen, um größeren Zinsunterschieden in der Euro-Zone entgegenwirken zu können.

Fragmentierung ist ein sperriger Begriff und im allgemeinen Sprachgebrauch negativ belegt: aufgesplittert, unharmonisch, sich nicht zusammenfügend. Klingt gut, wenn die EZB dem entgegenwirken will. Tatsächlich aber handelt es sich hier jedoch um einen klassischen Fall von „Framing“. Denn gar nichts wird gut, wenn die Notenbank ihr „Anti-Fragmentierungsinstrument“ auspackt. Im Gegenteil.

Stein des EZB-Anstoßes ist das, was in der Geldpolitik „Spread“ genannt wird: Zinsabstände in der Eurozone. Konkretes Beispiel: Der Renditeabstand zwischen den 10 Jahre laufenden Staatsanleihen Deutschlands und Italiens betrug vor dem Hintergrund des deutlichen Zinsanstiegs der letzten Monate im Juni in der Spitze etwas über 2.4% (240 Basispunkte, abgek. BP). Im Langzeit-Schnitt bei rund 200 BP, überschritt er in der Staatsschuldenkrise im Juli 2012 500 BP. Dann hielt der damalige EZB-Präsident Mario Draghi 2012 seine berühmte „whatever it takes“-Rede, und der Spread bildete sich schrittweise zurück. Heute wird Mario Draghi zu Recht zugeschrieben, mit seinem Eingreifen eine aufkeimende Spekulation des Marktes auf ein mögliches Auseinanderbrechen der Währungsunion beendet zu haben.

Spreads vergleichen Finanzierungskosten von Staaten. Warum gilt der Spread zwischen Italien und Deutschland als besonders relevant? Er setzt zwei Kernländer der Eurozone ins Verhältnis: Italien mit hoher Verschuldung und geringer wirtschaftlicher Dynamik und Deutschland mit mäßiger Verschuldung und vergleichsweise stärkerer wirtschaftlicher Dynamik, verbunden mit der Rolle als Stabilitätsanker der Eurozone, die den deutschen Zins zum Referenzzins in der Eurozone macht. In der Normalsituation reflektiert der Renditeabstand diese Unterschiede und ist damit Ergebnis der Risikobetrachtungen von Anlegern. In einer akuten Krise wie 2012 wird der Spread jedoch zu einem Krisenbarometer der Eurozone: Ihr Auseinanderbrechen, oder der Austritt eines der beiden Länder, hätte besonders weitreichende Konsequenzen.

Weil wir heute nicht annähernd in einer solchen Lage sind, bemüht die EZB einen „Frame“. Sie deutet die Lage an den Märkten als Ausdruck einer „Fragmentierung“, für die Spekulanten verantwortlich zu machen seien, und denen die EZB durch den Ankauf italienischer Staatsanleihen entgegentreten können müsse.

In der italienischen Politik ist diese Vorlage offenbar rasch als Ermutigung zur Entfaltung parteitaktischer Ränke angenommen worden. Es könnte ihnen ausgerechnet die erste reformfähige italienische Regierung seit Monti zum Opfer fallen.

Damit wurde aus dem Frame für die EZB eine Falle: Nimmt sie ihre Ankündigung zurück, enttäuscht sie eine von ihr selber unnötigerweise kreierte Markterwartung. Lässt sie nicht davon ab, wirkt sie wie ein Handlanger politischer Spieler. Ganz anders im Oktober 2018: Als Salvini gegen die europäischen Schuldenregeln randalierte, stieg der Spread auf leicht über 300 BP. Als er damit nicht durchkam, wurde es selbst den Spielern in der italienischen Politik zu mulmig, Salvini ruderte zurück, der Spreadanstieg hatte seine Wirkung getan und für Vernunft gesorgt.

Nicht nur dieses Beispiel zeigt: Die Verantwortung für das Schicksal der Eurozone und ihrer Mitgliedsländer gehört genau dorthin zurück, in die Politik. Dafür liefert uns der Begriff „Fragmentierung“ hinreichende Anschauung, man muss nur auf die richtigen Bereiche schauen: Arbeitsmärkte, Bankenmärkte, Energiemärkte, Kapitalmärkte, Rüstungsbeschaffung uvm sind in Europa tatsächlich „fragmentiert“. Dazu kommen unterschiedliche Niveaus bei Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Allen guten Absichten zum Trotz: Statt der erwarteten und erwünschten Konvergenz ist die Wirklichkeit der Euro-Zone mehr denn je geprägt von Divergenz zwischen den Mitgliedsländern.

Die EZB ist kein Rettungs-, Reparatur- oder Pausenbetrieb der Politik, der den Regierungen der Euro-Zone unangenehme Reformaufgaben in der Finanz-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik erspart. Künstlich niedrige Zinssätze auf Staatsanleihen setzen falsche Anreize, und sie verstärken Fliehkräfte innerhalb der Union, wenn sie durch Umverteilung erzeugt werden.

Die EZB weiss all dies. Sie sollte morgen, am 21.7.2022, ihren Frame wieder verlassen, und dafür zu ihrem Mandat zurückkehren.

Martin Wiesmann

Martin Wiesmann sitzt dem Beirat von R21 vor. Nach politik- und betriebswissenschaftlichen Studien in Bonn, Paris und Pittsburgh war er 30 Jahre in der Finanzindustrie tätig, zuletzt als Vice Chairman Investment Banking Europe, Middle East and Africa von J.P. Morgan. Seit 2020 war er u. a. Senior Associate Fellow der Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) für Geoökonomie und arbeitet heute als Managing Partner bei der geopolitischen Beratungsgesellschaft Berlin Global Advisors. Wiesmann ist Aufsichtsrat der LEG Immobilien SE, Düsseldorf, sowie u. a. Mitglied der Atlantik-Brücke und der Baden-Badener Unternehmer Gespräche. Neben langjährigem Engagement in der Elternarbeit ist er zudem in den Kuratorien des Literaturhauses, des Städelmuseums und der Schirn in Frankfurt sowie der Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt aktiv.

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