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Foto: Shutterstock / Pukhov K

Nukleare Abschreckung und internationale Ordnung

In der aktuellen Phase des Russland-Ukraine-Konflikts werden drei fundamentale Punkte überdeutlich. Erstens: Die Idee einer Welt ohne Kernwaffen ist Wunschdenken. Zweitens: Ob Kernwaffen zur Stabilität der internationalen Ordnung beitragen, hängt stark davon ab, wer sie kontrolliert. Drittens: Angesichts nuklearer Bedrohungen bleiben liberale Demokratien auf unbestimmte Zeit existenziell auf nukleare Abschreckung angewiesen.

Der erste Punkt war und ist für viele – insbesondere in Deutschland – so schmerzlich, empörend oder normativ inakzeptabel, dass er häufig verdrängt, mit Erwartungen an Rüstungskontrolle umgangen oder moralisierend als Verblendung selbsternannter „Realisten“ verächtlich gemacht wurde und wird. Mittlerweile ist sogar der internationale „Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons“ (TPNW) in Kraft, der eine Ächtung von Kernwaffen bewirken soll. In Zeiten unverhohlener Drohungen mit dem Einsatz von Kernwaffen durch die Russische Föderation – also durch ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates! – drängt sich der Vergleich mit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 auf. Zwischen den Weltkriegen abgeschlossen, hatte dieser „General Treaty for Renunciation of War as an Instrument of National Policy“ alles in allem sehr wenig Realitätsrelevanz im Vergleich zu wichtigeren machtpolitischen Faktoren – aber immer noch mehr, als der TPNW jemals haben wird. Denn der TPNW fand gar keine Unterstützung durch irgendeine Groß- oder Atommacht und wird auch keine finden, wohingegen der Briand-Kellogg-Pakt von allen sieben Großmächten seiner Zeit unterzeichnet wurde.

Eine nukleare Revolution hat den Lauf der Weltgeschichte irreversibel verändert. Viele Staaten sichern ihr Überleben mittels Kernwaffen oder nuklearen Schutzverhältnissen, darunter auch Deutschland. Atommächte setzen milliardenschwere Investitionsentscheidungen zur Modernisierung ihrer Nuklearstreitkräfte um. Die Zahl von Atommächten wird im 21. Jahrhundert eher größer werden als gleichbleiben. Ein Faktor ist, dass Russlands Aggression in der Ukraine Erwartungen von Nichtkernwaffenstaaten an das Verhalten von Kernwaffenstaaten unterminiert, wie sie vor allem seit dem Abschluss des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages von 1968 bestehen.

Hinzu kommt das ungelöste technische Problem, wie nukleare Abrüstung bis zu einem Null-Niveau verifiziert werden könnte. Gerade die Existenz von Kernwaffen reflektiert und verstärkt übergeordnete antagonistische Elemente in den internationalen Beziehungen – etwa Misstrauen –, die jeden Verifikationsprozess überschatten, gerade in den Details. Aus alledem folgt: Auf Kernwaffen bezogene Probleme müssen gemanagt werden, weil sie im eigentlichen Sinne nicht gelöst werden können. Verantwortliche Politik muss diesen Umstand als Rahmengegebenheit hinnehmen.

Dies führt zum zweiten Punkt: Es ist von fundamentaler Bedeutung für die Stabilität der internationalen Ordnung, wer Kernwaffen kontrolliert. Kernwaffen können als „defensive“ Mittel zum Schutz einer Regionalordnung genutzt werden, um nationale Selbstbestimmung, Prosperität und Konfliktmoderation mit friedlichen Mitteln zu ermöglichen. Die nukleare Abschreckung der USA war eine Überlebensbedingung für die liberalen Demokratien Europas im Kalten Krieg, stabilisierender Faktor in der großen friedlichen Transition am Ende des Ost-Konflikts und ein Ermöglichungsfaktor für die Einheit Deutschlands in Freiheit.

Kernwaffen können aber auch als „offensive“ Mittel der Nötigung und Erpressung eingesetzt werden, um die internationale Ordnung zu unterminieren oder zu imperialen Zwecken zu verändern. Genau das sehen wir im Russland-Ukraine-Konflikt: Zusammengenommen hat Russland in zwei Tranchen 2014 und 2022 rund 135.000 km2 ukrainisches Gebiet – also etwas mehr als die Fläche Englands! – annektiert, diese Annexionen mit wenig verhohlenen Nukleardrohungen gegenüber der Ukraine zu sichern versucht und die eigene nukleare Abschreckung genutzt (vor allem im Jahr 2022), um eine direkte militärische Intervention von NATO-Staaten zu verhindern.

Dies sind Umwälzungen von welthistorischer Tragweite. Und mehr noch: Beobachter kommentieren öffentlich, aufgrund ukrainischer militärischer Erfolge wachse das Risiko, dass Russland selektiv Kernwaffen einsetzen werde, um den Ausgang des Krieges gegen die Ukraine zu bestimmen. Stabilitätsorientierte Stellungnahmen westlicher Regierungen, aus dem Krieg in der Ukraine dürfe kein bewaffneter Konflikt zwischen Russland und der NATO erwachsen, beeinflussen dabei zwangsläufig die Kalkulationen russischer Entscheider. Solche Stellungnahmen westlicher Regierungen reflektieren Kosten und Risiken einer direkten westlichen Intervention in Anbetracht der Tatsache, dass die Ukraine nicht Verbündeter, sondern Partner ist.

Die Einschätzung des Kalküls der russischen Führung hinsichtlich selektiver Kernwaffeneinsätze gegen Ziele in der Ukraine ist voraussetzungsreich und fällt in die Domäne insbesondere der Nachrichtendienste. Eine „Vorhersage“ ist auch ihnen nicht möglich. Grundsätzlich aber kann deren Methodik der Einschätzung in Verbindung mit einer durch entsprechende Sensorik ermöglichten Lagefeststellung zu wichtigen Informationsvorsprüngen von Regierungen führen, die sie im Interesse der Handlungsfähigkeit strikt geheim halten oder – wie die strategische Kommunikation der USA im Jahr 2022 – gegebenenfalls in Teilen öffentlich machen, um auf die Kalkulationen der russischen Regierung einzuwirken.

In ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die russische Regierung Kernwaffen eingesetzt, um die psychologische Wehrlage in der Ukraine zu beeinflussen und abschreckend auf NATO-Staaten einzuwirken. Dies ist Ausfluss eines strategischen Konzepts der russischen Regierung, das auch nach dem Scheitern des ursprünglich beabsichtigten rapiden Regime Change in Kiew und auf der Basis einer scharf anti-westlichen Bedrohungsperzeption russischer Machthaber auf kalibrierte – auch steigerungsfähige – Anwendung militärischen Drucks setzt und dabei in Kategorien der Ausweitung des geopolitischen Großkonflikts mit den USA in Europa und eines harten, das Risiko eines bewaffneten Konflikts mit der NATO allerdings scheuenden Offensivkurses operiert. Russlands Kernwaffen sind ein integraler Bestand dieses Konzepts.

Gerade die Fortdauer nuklearer Bedrohungen im globalen Maßstab, der Russland-Ukraine-Krieg und seine fundamentalen, in vielerlei Hinsicht nicht absehbaren Auswirkungen verdeutlichen, dass nukleare Abschreckung auf unbestimmte Zeit eine existenzielle Notwendigkeit verantwortlicher staatlicher Sicherheitsgewährleistung in liberalen Demokratien darstellt. Sollte Russland in der Ukraine selektiv Kernwaffen einsetzen und so den aus freier Selbstbestimmung resultierenden Widerstandswillen der ukrainischen Regierung brechen, hätte dies massive globale Auswirkungen und würde die Fundamente der U.S.-geführten Sicherheitsordnungen in Europa und Ostasien erschüttern. Die liberalen Demokratien in der NATO müssen aber auch über den Ukraine-Krieg hinausdenken.

Das bedeutet zum einen, dass die historisch gewachsenen Zusammenhänge zwischen der U.S.-amerikanischen nuklearen Abschreckung und der Stabilität der euro-atlantischen Ordnung wieder neu verstanden werden müssen, einschließlich der unausweichlichen Dilemmata, die damit einhergehen. Zum anderen dürfen einflussreiche nicht-nukleare NATO-Staaten wie Deutschland ihr Denken nicht an die Atommächte in der Allianz outsourcen und sie müssen strategisches Denken stärken.

Konkret gilt es, rechtzeitig Antworten auf dringliche und zugleich zeitlose Probleme zu finden und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen: Erstens ist die kriegsgefährliche Krise der wirkliche Test eines Abschreckungsapparats. Zweitens sind solche Krisen in Ostasien – vor allem im Blick auf Taiwan – und perspektivisch auch im Russland-NATO-Verhältnis eher zu erwarten als nicht zu erwarten. Drittens kann das Verhalten westlicher Staaten vor allem mittels Verteidigungsmaßnahmen dazu beitragen, Risikokalkulationen insbesondere Russlands und Chinas so zu beeinflussen, damit es gar nicht erst zur kriegsgefährlichen Krise kommt. Viertens müssen Fähigkeiten und Prozesse des Krisenmanagements Top-down, also von existenziellen Bedrohungen und nuklearer Abschreckung ausgehend, sowie in enger Verbindung zwischen nordamerikanischer, europäischer und indo-pazifischer Sicherheit gedacht werden.

Andreas Lutsch

Dr. Andreas Lutsch ist Juniorprofessor für nachrichtendienstliche Analyse an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Abteilung BND, und aktuell Gastprofessor am Institut d’études politiques de Paris (Sciences Po). Er legt ausschließlich seine persönlichen Ansichten dar, nicht diejenigen irgendeiner staatlichen Stelle der Bundesrepublik Deutschland.

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