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Foto: Shutterstock / Drop of Light

Ein Jahr russischer Überfall auf die Ukraine

Die Lehren aus der Geschichte

Die Geschichte ist zurück. Mit all ihrer Zerstörungskraft. Die Wucht unserer Gegenwart lässt sich nur in ihren historischen Dimensionen verstehen. Und in dieser Perspektive wird manches Klein-klein der aktuellen Debatten sehr viel klarer.

I.

Ich habe die Schlachtfelder von Gettysburg und von Verdun besucht. Es ist auch über hundert Jahre später kaum erträglich, sich das Leid von Soldaten vorzustellen, die in gegnerisches Maschinengewehrfeuer gelaufen sind oder von Granaten zerfetzt wurden. Wir hatten gedacht, dieses Aufeinandertreffen von vormoderner Kriegführung und moderner Technologie sei eine historische Ausnahme gewesen, die nach 1945 überwunden wurde. Berichte von den Kämpfen im Donbass machen jedoch auf brutale Weise klar, dass 2023 in Europa mit der Grausamkeit des Jahres 1863 oder 1916 Krieg geführt wird – und mehr als das: hinzu kommt eine Brutalität gegen die Zivilbevölkerung, wie wir sie auf dem Zweiten Weltkrieg kennen, sowie Drohnen und Cyberkrieg aus dem 21. Jahrhundert. Es ist die Kombination des Schlimmsten.

II.

Diese Hölle auf Erden im 21. Jahrhundert steht in einem schlagenden Kontrast zur Debattenlage unter etlichen deutschen Intellektuellen, vor allem denjenigen, die als moralische Instanzen auftreten, ohne etwas von der militärstrategischen und historisch-politischen Dimension zu verstehen. Harald Welzer sprach von der Traumatisierung der Deutschen durch den Krieg, und man fragt nach der Logik: Weil der Vater ein Verbrechen beging, steht der Sohn dem Opfer eines Gewaltverbrechens nicht bei? Erklären lässt sich dies nur mit eklatanter Selbstbezogenheit: Dieser Krieg soll uns nicht in der Komfortzone des Friedens und der Zivilität stören. Jürgen Habermas sprach vom “Nichtseinsollen” des Krieges. Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, tritt der Wunsch an die Stelle der Wirklichkeit.

Immerhin sagte die deutsche Außenministerin, wir seien nach Putins Angriff auf die Ukraine in einer neuen Welt aufgewacht. Aber auch das war falsch: Die Welt war dieselbe, wir sind nur aus unseren Träumen gefallen. Wie sagte schon Heinrich Heine: “Franzosen und Russen gehört das Land, das Meer gehört den Briten. Wir aber besitzen im Luftreich des Traums die Herrschaft, unbestritten.” Da ist die Analyse unausweichlicher Realitäten und ihrer Konsequenzen doch besser in den Händen strategischer Experten wie Claudia Major oder Sönke Neitzel aufgehoben. Oder wie die amerikanische Verteidigungsexpertin Kori Schake die angemessene Reaktion auf Putins Eskalationsdrohungen formulierte: Entweder bringen wir Dich nach Den Haag, oder wir bringen Dich um.

III.

Dem steht die deutsche Eskalationsfurcht entgegen: Putin bloß nicht zu reizen, um nicht alles noch schlimmer zu machen. Diese Haltung überlässt dem Aggressor die Eskalationshoheit. Wie sagte mir ein russischer Emigrant an der amerikanischen Westküste: Putin ist ein Streetfighter, der nur die Sprache der Stärke versteht. Das ist nicht ohne Risiko. Aber nur so funktioniert Abschreckung – und hat sie immer funktioniert. Geschichte gibt es nicht zum Nulltarif. Das hat die Menschheit immer gewusst – außer vielleicht der Westen in den Jahren, als er sich am “Ende der Geschichte” wähnte, das seinerseits am Ende ist.

IV.

Nicht am Ende der Geschichte zu sein, sondern in ihre Abgründe zu blicken, wusste kaum jemand besser als Winston Churchill im Frühjahr 1940, das uns die klarste Lektion der Geschichte erteilt: Churchill vs. Chamberlain, Appeasement vs. “We shall never surrender”. Chamberlain hatte den ehrenwerten Grund, eine abermalige Barbarei wie den Ersten Weltkrieg zu verhindern. Und er bewirkte zumindest den Effekt, den Briten Zeit zu kaufen, um die notwendige Aufrüstung nachzuholen. Dieses Argument wurde zuletzt auch für die französisch-deutsche Vermittlung des Minsker Abkommens von 2015 bemüht. Dann aber hätte sich Deutschland niemals zeitgleich auf den Bau von Nord Stream 2 einlassen dürfen, an dem die Kanzlerin gegen alle Warnungen und Widerstände festgehalten hat.

Nichts ist falscher, als einen gewaltbereiten und expansionswilligen Diktator beschwichtigen zu wollen und ihm die Eskalationshoheit zu überlassen. Am Ende war die Appeasement-Politik gescheitert, und zwar würdelos. Chamberlain versus Churchill ist gleich Versagen versus Größe. Und Churchills “Blut, Schweißund Tränen” fand seine Wiederauferstehung in Wolodimir Selenskys Antwort auf das Angebot, ihn auszufliegen: Er brauche keinen Transport, sondern Munition.

Was auch immer über die Ukraine zu sagen ist: Das Land wurde von Putin-Russland so brutal überfallen wie Polen 1939 von Hitler-Deutschland. Wie klar kann die historische Botschaft noch sein? Oder mit den Worten der estnischen Ministerpräsidentin: Lange haben wir Euch Deutschen zugehört. Jetzt ist es an der Zeit, dass Ihr uns zuhört. Dort, nahe der Front, herrscht kein Zweifel, was die Stunde geschlagen hat. Appeasement und die Aufforderung zu Verhandlungen aus deutschen Schreibstuben sind es jedenfalls nicht.

V.

Die historischen Analogien sind wuchtig, aber sie treffen unsere Gegenwart. Sie spielt in der ersten Liga historischer Krisen. Und auch hier wird die aktuelle Entwicklung aus historischer und aus globaler Perspektive erkennbar: Wir erleben einen neuen globalen Konflikt zwischen den Demokratien des Westens und den expansionsbereiten Autokratien im globalen Osten. Und wir müssen uns entscheiden.

Die Ankündigung der “Zeitenwende” wurde Deutschland international hoch angerechnet. Seitdem ist viel geschehen – und zugleich wurde sie verscholzt. Die Definition für “scholzen” ging international viral: “Gute Absichten zu kommunizieren, um dann jeden möglichen Grund zu finden, zu nutzen oder zu erfinden, um diese dann zu verzögern und/oder sie zu verhindern.” Mit historischem Abstand kann der Paradigmenwechsel unserer Gegenwart deutlicher hervortreten. Dafür aber muss Deutschland die Zeitenwende auch einlösen. Und das heißt vor allem: strategisch und global, sprich: groß zu denken, um die internationale Verantwortung unseres Landes konsequent einzulösen. Das hat historische Dimensionen.

Den Gastbeitrag finden Sie auch auf der Website der Allgemeine Zeitung

Andreas Rödder

Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.

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