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Geopolitische Herausforderungen im 21. Jahrhundert

Rückkehr der Geschichte

Der Angriff Wladimir Putins auf die Ukraine markiert eine Epochenwende. Das Jahr 2022 wird in einer Reihe mit 1979, 1989 und, je nach weiterem Verlauf des Krieges, mit 1938, 1939 oder 1945 genannt werden.

Putin hatte bereits vor einem Jahr in seinem Aufsatz über die Ukraine erkennen lassen, dass er seine Version der „Geschichte“ als einen Auftrag betrachtet. Diese Art von Revisionismus verbindet ihn mit dem chinesischen Staatschef Xi, dessen erklärtes Ziel der Wiedereingliederung Taiwans Teil chinesischen Selbstverständnisses geworden ist, und auch mit osmanischen Phantasien des türkischen Staatschefs Erdogan.

Dass Putin bereit ist, Gewalt einzusetzen, war seit 2008 sichtbar. Dass er Vereinbarungen über deren Ende oder Eindämmung nicht respektieren würde, war spätestens seit den Waffenstillstandsverhandlungen 2014, die zum Abkommen von Minsk führten, offensichtlich. Der seit Dezember 2021 vor aller Augen vorbereitete Angriff auf die gesamte Ukraine führte zu einer intensiven Vorbereitung von Sanktionsmaßnahmen des Westens. Dieser schloss die Möglichkeit militärischer Reaktionen aus, weil die westliche Politik unverändert auf der Prämisse beruhte, der russische Staatschef dürfe nicht „provoziert“ werden. Das seit über 20 Jahren dominierende Narrativ, demgemäß der Westen die Gründe für die russische Aggressivität primär bei sich selber suchte, verhinderte bis in die letzten Stunden vor dem Angriff eine realistische Lageeinschätzung. Der von dem US-Präsidenten Obama bis zur Bundeskanzlerin Merkel praktizierte Verzicht auf „strategische Ambiguität“ liegt in dieser Logik und ist Teil des Versagens westlicher Abschreckungspolitik.

Die Dramatik dieses Scheiterns hat innerhalb weniger Tage zu einer völligen Umkehr der deutschen und europäischen Verteidigungspolitik geführt, und sie erschüttert Dogmen deutscher Klima- und Energiepolitik. Sie decouvriert einen Politikansatz, der sich in Deutschland seit Jahrzehnten den Luxus erlaubt hat, auf eine Karte zu setzen: Frieden ohne Waffen, Energieversorgung ohne Alternativen.

Dabei war die intellektuelle Verarbeitung der rasanten Veränderungen der Weltlage schon lange in vollem Gange. Von der These der Auflösung der „G20“ zu „G0“ über den „Return to Great Power Politics“ bis zur „Therapy for Internationalists“ spiegelte sie die Dynamik, mit der sich die realpolitischen Entwicklungen in Europa und im Pazifik seit Jahren zuspitzen und auch im Mittleren Osten jederzeit eskalieren können.

Der Optimismus des Westens, Teil einer Fortschrittserzählung zu sein, die sich mit dem Fall der Mauer und Chinas Eintritt in die WHO zum Lebensgefühl einer Generation aufgebaut hatte, ist einer bitteren Ernüchterung gewichen. Man musste nicht unbedingt ein Anhänger von Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ sein, um seinerzeit gute Gründe für diesen Optimismus gehabt zu haben.  Denn die sich damals abzeichnende neue Weltordnung bestand nicht nur in einem scheinbaren Zuwachs an Akzeptanz für regelbasiertes und auf Kooperationen angelegtes internationales Handeln, sondern auch in einer rapide zunehmenden ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Vernetzung, die durch die Ereignisse im China des Jahres 1989 zunächst nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde.

Mit dem 2007 von Niall Ferguson geprägten Begriff „Chimerica“ war für die Realisten unter den Fortschrittsgläubigen das Stabilitätsversprechen auf einen prägnanten Nenner gebracht: Wechselseitige Abhängigkeit würde in einer globalisierten Welt für Ausgleich und Verlässlichkeit sorgen, während die Integration Chinas der Weltwirtschaft stabiles Wachstum und dem Reich der Mitte eine historisch einmalige Überwindung von Hunger und Unterentwicklung bescheren würde. Naheliegend war die Hoffnung, dass sich im Zuge dieser Dynamik auch das westliche Freiheitsversprechen den Weg in die von totalitären Verheerungen geprägten Gesellschaften Chinas und Russlands bahnen würde.

Für Europa und insbesondere Deutschland schien mit dieser Entwicklung ein neues Zeitalter anzubrechen: Von sowjetischer Bedrohung befreit und die wirtschaftliche Verheißung in China beherzt verfolgend, dabei unverändert unter amerikanischem Schutz stehend, war es seit langem nicht mehr so komfortabel, das westliche Ende Eurasiens zu sein. Die Friedensdividende war eine willkommene Entlastung überall angespannter Haushalte westlicher Wohlfahrtsstaaten, während die Erweiterung der Europäischen Union (EU) nach Mittel- und Osteuropa das eigentliche Ende der Nachkriegszeit markierte. Die Einführung des Euro demonstrierte schließlich den Willen der Mitgliedsländer der EU, mit der Fortsetzung der europäischen Integration das in der Welt bisher einmalige Modell eines Verbundes von Nationalstaaten unter freiwilliger Aufgabe von Souveränitätsrechten in wesentlichen Teilbereichen von Staat und Wirtschaft weiterzuentwickeln.

Bruchlinien der regelbasierten globalen Ordnung

In der Rückschau werden die Bruchlinien dieser Fortschrittserzählung freigelegt. Sie wird in den USA inzwischen zur unverzeihlichen Selbstgefälligkeit umgedeutet, den Systemwettbewerb gewonnen zu haben, obwohl sie in Wahrheit den Aufstieg des größten Systemrivalen der USA ermöglicht habe. In einem Bestseller wird die amerikanisch-chinesische Rivalität als „Thukydides-Falle“ beschrieben, in der den Amerikanern die Rolle der von dem Aufstieg Athens bedrohten Lakedaimonier zufällt. Warnungen vor dem Niedergang sind in der amerikanischen Politik nicht neu.  Doch inzwischen ist der Kampf gegen Chinas Aufstieg, dem die USA sich mit allen wirtschaftlichen, militärischen und technologischen Mitteln zur Wehr zu setzen haben, das einzige große Thema, bei dem die gespaltene politische Klasse der USA Konsens finden kann.

Diese Betrachtung vermischt allerdings zwei sehr unterschiedliche Aspekte: Dass ein Land, das fast fünfmal so viele Einwohner hat und dreimal so groß ist wie die USA, mit seiner wirtschaftlichen Öffnung enorme Kräfte freisetzen würde, ist eine Selbstverständlichkeit und im Interesse globalen Wohlstands. Zu einer geostrategischen Herausforderung – nicht nur für die USA, sondern auch für Europa und Asien – wird China jedoch aufgrund des Anspruchs seiner Führung, das Land zur neuen globalen Hegemonialmacht zu machen und dabei die Spielregeln neu zu verhandeln.

Die Globalisierung hat die Systemkonkurrenz also nicht beseitigt, sondern sie im Ergebnis neu befeuert. Ökonomisch hat die verbesserte internationale Arbeitsteilung einen enormen Entwicklungsschub gerade für ärmere Länder bewirkt, während die Integration Chinas in die Weltwirtschaft über mehrere Dekaden neben einem positiven Wachstums- auch einen moderierenden Effekt auf die globale Inflation gehabt hat. Die Protestbewegungen der sogenannten Globalisierungsgegner blenden diese positiven Wirkungen der Globalisierung aus. Ihre dennoch breite Resonanz nährt sich aus mangelhaften Anpassungsprozessen im Umgang mit dem Verlust industrieller Arbeitsplätze vor allem in den USA, aber auch in Europa. Politisch stehen der Kampf zu beiden Seiten des Atlantiks gegen Freihandelsabkommen sowie der zunehmende Drang nach nationaler und kultureller Selbstbehauptung auch für ein ausgeprägtes Bedürfnis, Kontrolle zurückzugewinnen und den Verlust an Mitsprache angesichts der zunehmenden Bedeutung supranationaler Strukturen und der empfundenen Übermacht liberalisierter Märkte zu stoppen.

Herausforderung China

Als der Zusammenbruch des Kommunismus den Völkern des sowjetischen Machtbereichs die Freiheit eröffnete, demonstrierte die chinesische Führung mit dem Massaker von Tian’anmen ihren Behauptungswillen, unter gar keinen Umständen den Weg der zerfallenden russischen kommunistischen Partei zu gehen. Heute sind der chinesische Leninismus und die kommunistische Partei Chinas mit rd. 95 Mio. Mitgliedern das ideologisch und politisch am intaktesten gebliebene Machtzentrum seit dem Zweiten Weltkrieg, mit allem, was den Kommunismus charakterisiert: Von Einparteienherrschaft über Personenkult bis zur Verfolgung von Dissidenten im In- und Ausland.

Diese konsequente Bekämpfung jeglichen Freiheitsimpulses wird durch den Auf- und Ausbau der ersten effektiven Digitaldiktatur der Menschheitsgeschichte perfektioniert. Weite Teile der Welt werden nicht nur im Zuge der „Belt&Road“ Strategie zu Schauplätzen geoökonomischer Machtpolitik. Ländern, die unter US-Sanktionsdruck stehen, bietet sich China als „schwarzer Ritter“ an; andere werden der vollen Wucht chinesischen Drucks ausgesetzt, um politisches Wohlverhalten zu erzwingen. Dass China dabei kein Spielfeld auslässt, zeigt das Vorgehen in internationalen Organisationen, die es strategisch zu „majorisieren“ versucht. Dem territorialen Führungsanspruch im Südpazifik, zu dessen intellektueller Untermauerung selbst Carl Schmitt herhalten musste, entspricht eine militärische Aufrüstung, die unter anderem das explizite Ziel verfolgt, in wenigen Jahren volle Handlungsfreiheit bei der Wiedereingliederung Taiwans zu erlangen. Diese Entwicklungen spielen sich in einer Weltregion ab, in der es nach dem Zweiten Weltkrieg keine Europa vergleichbare Verständigungspolitik gab, und in der massiv aufgerüstet wird.

Russischer Revisionismus

Russland schließlich sucht zu korrigieren, was es in Ermangelung eines eigenen „Tian’anmen-Moments“ nach Einschätzung der Führung unter Putin viel zu lange hatte laufen lassen. Anders als die chinesisch-leninistische Partei stützt Putin sich auf eine Oligarchen-Machtstruktur, und seinen militärischen Feldzug gegen die Ukraine begründet er unter anderem mit der notwendigen Korrektur von Fehlern der russischen Kommunisten, denen er vorhält, Russland mit dem Bazillus von Selbstbestimmung und Nationalismus infiziert zu haben.

Weniger amerikanisch-westlicher Übermacht erlegen, sondern als wirtschaftlich marode und politisch aus der Zeit gefallene Kolonialmacht ist Russland nach 1990 nicht nur territorial, sondern auch ideologisch an den Rand des Zusammenbruchs geraten. „Russlands Weg“ unter Putin zielt darauf, den erlittenen Machtverlust Schritt für Schritt zu wenden und seinem Land wieder jenen „Respekt“ einer Großmacht zu verschaffen, aus dem er innenpolitisch einen großen Teil seiner Legitimation bezieht – einschließlich einer politischen Einflusssphäre im postsowjetischen Raum, die er seit 2008 gewaltsam zu erzwingen sucht.

Putins Deutung der Auflösung der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ begründet nicht nur die aggressiv-revisionistische Politik in Europa und die Eliminierung jeglicher Opposition, die sich aus westlichem Gedankengut speist. Aus ihr leitet Putin auch international den Anspruch her, „Ordnung“ zu schaffen, wie er es im Nahen Osten praktiziert, da die alte Ordnung vom Westen zerstört worden sei. Russland fehlen zwar die ökonomischen, technologischen und kulturellen Ressourcen, wie China sie aufzubieten hat, und als Gasexporteur ist es abhängig von seinen Abnehmerländern. Zugleich ist es aber auch ein geoökonomischer Spieler, der seinen Einfluss durch die zielgerichtete Bereitschaft zu hybrider und effektiver Gewaltanwendung maximiert und der dort, wo Vakua durch eine zurückhaltende amerikanische und zögernde europäische Politik entstehen, seine Relevanz als weltpolitischer Spieler unter Beweis stellen kann. Dabei dient die im Ukraine-Konflikt offenbar werdende Einteilung der Welt in Freund und Feind dazu, nach außen den Anspruch Russlands auf territoriale und ideologische Kontrolle der Ukraine zu begründen, und nach innen die Machtposition der herrschenden Oligarchie durch den Einsatz von Repression und Nationalismus politisch und gesellschaftlich abzusichern. Das eigentliche Motiv des militärischen Einsatzes in der Ukraine besteht nicht in der Abwehr eines vermeintlich aggressiven Gegners, sondern des destabilisierenden Einflusses der demokratischen Entwicklung eines „russischen Brudervolkes“.

Hilfloses Europa vor einer Zeitenwende?

Unterdessen wirkte die EU auf dem europäischen ebenso wie auf den asiatischen und afrikanischen Schauplätzen lange Zeit hilflos. Von der durch die Kommissionspräsidentin von der Leyen ausgerufenen „geopolitischen Kommission“ war nicht viel zu hören. Außer einem Investitionsschutzgesetz, das es erlaubt, China an dem Erwerb kritischer Technologie zu hindern, war in Sachen Selbstbehauptung wenig Greifbares passiert. Das kurz vor Amtsantritt der Biden-Administration abgeschlossene Investitionsabkommen mit China ist durch das EU-Parlament auf Eis gelegt worden. Für einen handelspolitischen Durchbruch und entsprechende Demonstrationen von Eigenständigkeit wäre es zu klein gewesen, für eine nachhaltige Irritation im transatlantischen Verhältnis war es groß genug.

Geoökonomisch ist die Lage für Europa komplex. Für die asiatischen Nachbarn Chinas gilt: Die USA für die Sicherheit, China für die Wirtschaft. Für Europa gilt: Die USA für die Sicherheit, China und die USA für die Wirtschaft. Dabei leidet Europa unter einer doppelten Asymmetrie: Als Handelspartner ist China für Europa wichtiger als für die USA, während der pazifische Raum für die USA sicherheits- und wirtschaftspolitisch inzwischen wichtiger ist als Europa. Es spricht viel für die These von Stephen Green, dass der amerikanisch-chinesische Konflikt weite Teile des 21. Jahrhunderts bestimmen wird. Hingegen spricht bisher wenig dafür, dass Europa darin eine wirklich eigenständige Rolle zu spielen vermag.

Die EU findet keine Antwort auf den wachsenden Einfluss Chinas als Infrastruktur-Financier, weder in Afrika noch in den instabilen mitteleuropäischen Beitrittsländern. Dominiert wurde das diplomatische Krisenmanagement in der Ukraine-Frage von einem Aufgebot amerikanischer Diplomatie, das es seit den Dayton-Verhandlungen zur Beendigung des Krieges in Bosnien und Herzegowina 1995 nicht mehr gegeben hatte. Europa muss über das Ausmaß und die Entschlossenheit der USA erleichtert sein – denn angesichts der Abwesenheit einer gemeinsamen Außenpolitik sowie völlig unzureichender „hard power“, wie ausgerechnet Joseph S. Nye, der „Erfinder“ des Begriffs „soft power“, beobachtet hat, ist die EU derzeit nicht strategie- und handlungsfähig.

Trotz nicht unerheblich gestiegener Verteidigungsbudgets Schwedens, Großbritanniens und Deutschlands ist Europa nach Berechnungen von Benedikt Franke rd. €100 Mrd. p.a. von einem glaubwürdigen Beitrag zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit entfernt. In Frankreich hat immerhin eine Diskussion über die Rolle der französischen Nuklearabschreckung für Europas Sicherheit begonnen. In Deutschland dagegen wünschen sich Vertreter der regierenden Sozialdemokraten unverändert ein Ausscheiden der Bundesrepublik aus der sogenannten nuklearen Teilhabe mit den USA. Und bezeichnenderweise führte der seit Monaten und Jahren sich aufbauende Druck Russlands nicht dazu, dass die EU die Idee einer Verteidigungsunion wiederbelebt hätte. Vielmehr denken einzelne Länder wie Schweden und sogar Finnland über einen NATO-Beitritt nach, und die östlichen EU-Mitglieder verfolgen Macrons Vermittlungsbemühungen mit Argwohn, während sie ihre Sicherheit ausschließlich durch die USA und in deren Fahrwasser Großbritannien gewährleistet sehen.

Hinzu kommt in Deutschland die Bereitschaft zu einer entschiedenen Realitätsverweigerung. Der lange verfolgte Versuch, die Energiebeziehungen zu Russland als „nicht geopolitisch“ zu isolieren, entsprach einem großkoalitionären Konsens. Und bis zuletzt tauchte in den Reden der deutschen Außenministerin der Verweis auf die deutsche Vergangenheit als Legitimation für die Weigerung auf, der Ukraine auch mit Waffenlieferungen zur Hilfe zu kommen. Ebenso Opfer des deutschen Vernichtungsfeldzuges im Zweiten Weltkrieg wie Russland, hat die Ukraine 1994 im Vertrauen auf den Wandel in Russland und den Schutz des Westens auf eigene Nuklearwaffen verzichtet. Welche „Geschichte“ rechtfertigt oder entschuldigt was?

Dem Ausmaß dieser Realitätsverweigerung entspricht die Wahrnehmung der Kehrtwende der deutschen Sicherheitspolitik als „revolutionär“. Putin hat durch seine Aggression europäische Einmütigkeit in einer geopolitischen Kernfrage gestiftet, wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr feststellbar war.

Die Frage ist, welche dieser Veränderungen ihren Weg in neue Strukturen und Fundamente der EU finden, die langfristig und nachhaltig deren Strategiefähigkeit herstellen.

Das Selbstverständnis eines europäischen Staatenverbundes, der die Werte und Vorzüge des freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsmodells kultiviert und dabei gleichzeitig seinen Mitgliedern nationale Eigenständigkeit einräumt, war seit Jahrzehnten nicht mehr hinreichend, um die Zustimmung zu weiterer Integration zu erhalten. Nach außen stieß die prinzipiengeleitete Vertretung einer regelbasierten Weltordnung regelmäßig an die Grenzen machtpolitischer Realitäten – woran auch ein weitreichendes Sanktionspaket gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine nichts Grundlegendes ändern. Am weitesten kam die Europäische Union bisher, wenn sie ihr wirtschaftliches Gewicht mit ihrer zentralen Kompetenz für den Handel bündelte. Instrumente wie Reziprozität, die z.B. bei einer Carbon Border Tax zur Anwendung kommen, können ausschlaggebend für den Erhalt von strategischen Handlungsfreiräumen sein. In anderen Bereichen wie der Abwehr ökonomischen Drucks aus China oder dem Umgang mit Dollar-Sanktionsmaßnahmen, sind Gegenmaßnahmen der EU bisher weitgehend wirkungslos. Gleiches gilt für ihre Fähigkeit, militärische Sicherheit herzustellen, oder eine wirksame Grenzschutz- und Migrationspolitik zu entwickeln. Schließlich erweist sich die institutionelle Struktur der Union als anfällig für Erpressungen durch einzelne Mitgliedsländer, so dass die strategisch eigentlich gebotene Aufnahme von neuen Mitgliedern wie Nord-Mazedonien, Serbien oder Montenegro das Risiko in sich bergen, dass China als deren Großfinancier durch die Hintertür am Tisch des Europäischen Rates Platz nimmt.

Prioritäten für Deutschland und den Westen

An Deutschland allein hängt es nicht, auf diese komplexen und potentiell existentiellen Herausforderungen für Europa und die Europäische Union die richtigen Antworten zu finden.

Umgekehrt aber gilt: Ohne Deutschlands Willen und Bereitschaft, seine strategischen und geoökonomischen Interessen nüchtern zu analysieren und als eine europäische Führungsmacht zusammen mit den europäischen Partnerländern im transatlantischen Verhältnis zu definieren und konsequent zu verfolgen, könnte das europäische Projekt zum Scheitern verurteilt sein. Festlegungen in der nationalen Energiepolitik der vergangenen fünf Jahrzehnte sind ein Beispiel dafür, wie aufgrund von Pfadabhängigkeiten außen- und europapolitische Gestaltungsmacht verspielt werden kann. Die Geschwindigkeit, mit der augenblicklich seit Jahrzehnten dominierende Narrative für obsolet erklärt werden, ist noch lange keine Garantie dafür, dass aus dem momentanen Krisen- auch ein ernstzunehmender Gestaltungsmodus wird.

Die westliche Fortschrittserzählung hat eine harte Landung erlitten. Der Westen muss nun Prioritäten setzen, auf Deutschland und die Europäische Union kommen große Aufgaben zu:

  • Das Überleben des demokratisch-liberalen Gesellschaftsmodells sichern, das sowohl von innen wie von außen unter Druck steht und zudem in den kommenden Jahrzehnten eine anhaltende sozio-kulturelle Pluralisierung verarbeiten muss, die aufgrund von Migration und demographischen Entwicklungen in den meisten Ländern des Westens unaufhaltsam voranschreiten wird.
  • Die EU als größten demokratisch verfassten und ökonomisch integrationsfähigen Ordnungsrahmen eigenständiger Nationalstaaten zukunftsfähig machen.
  • Das transatlantische Verhältnis neu begreifen als große politische und wirtschaftliche Gestaltungschance tief miteinander verflochtener Demokratien.
  • Ein Konzept für Stabilisierung und Kooperation mit den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens finden, nachdem der „Arabische Frühling“ nirgendwo zu gesellschaftlichem oder wirtschaftlichem Fortschritt geführt hat.
  • Neue Formen abgestufter globaler Beziehungen entwickeln: die Vertiefung mit gleichgesinnten Partnern, selektive und wehrhafte Kooperationen mit Wettbewerbern und Gegnern in Feldern wie Sicherheit, Klima und Migration, sowie die konsequente und koordinierte Abschreckung und Eindämmung von Aggressoren.
  • Die Erlangung außenpolitischer Strategiefähigkeit auch durch den Auf- und Ausbau hinreichender eigener militärischer Fähigkeiten.
  • Neuformulierung einer wirksamen Abschreckungspolitik durch die Nato und die EU.

Welchen konkreten Beitrag Deutschland zu diesen multidimensionalen Politikfeldern leisten sollte, wird ein interdisziplinärer Arbeitsschwerpunkt der Denkfabrik R 21 sein.

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Martin Wiesmann

Martin Wiesmann sitzt dem Beirat von R21 vor. Nach politik- und betriebswissenschaftlichen Studien in Bonn, Paris und Pittsburgh war er 30 Jahre in der Finanzindustrie tätig, zuletzt als Vice Chairman Investment Banking Europe, Middle East and Africa von J.P. Morgan. Seit 2020 war er u. a. Senior Associate Fellow der Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) für Geoökonomie und arbeitet heute als Managing Partner bei der geopolitischen Beratungsgesellschaft Berlin Global Advisors. Wiesmann ist Aufsichtsrat der LEG Immobilien SE, Düsseldorf, sowie u. a. Mitglied der Atlantik-Brücke und der Baden-Badener Unternehmer Gespräche. Neben langjährigem Engagement in der Elternarbeit ist er zudem in den Kuratorien des Literaturhauses, des Städelmuseums und der Schirn in Frankfurt sowie der Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt aktiv.

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