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Zeitenwende? Es fehlt die Strategie!

Vor einem Jahr hat Bundeskanzler Olaf Scholz die „Zeitenwende“ ausgerufen. Für Martin Wiesmann, Vorsitzender des Beirats von R21, markiert dieser Begriff das „Ende der Illusionen, in denen es sich die deutsche Politik über Jahrzehnte bequem eingerichtet hatte“. Eine tatsächliche Zeitenwende könne aber nur dann gelingen, wenn die Politik in Deutschland endlich ihr eklatantes Strategiedefizit überwinde. „Der Staat muss handlungsfähig sein, und er muss auf Basis eines ressortübergreifenden Ansatzes in Schlüsselbereichen gesamthafte Strategien entwickeln, statt wie bisher in bürokratischer Versäulung zu verharren“, fasst Wiesmann seine Forderungen zusammen. Hier das R21-Interview mit Martin Wiesmann im Wortlaut:

Mit dem Abstand von einem Jahr: Hat die vielbeschworene Zeitenwende tatsächlich stattgefunden?

Der Begriff der Zeitenwende ist höchst ambivalent: Die Regierungserklärung von Bundeskanzler Scholz drei Tage nach der Invasion der Ukraine markiert eine Zäsur. Aber eher im Sinne eines Endes der Illusionen, in denen es sich die deutsche Politik über Jahrzehnte bequem eingerichtet hatte. Diesen Realitätsschock hat der Kanzler mit der „Zeitenwende“ begrifflich gefasst. Das heißt aber noch lange nicht, dass in der praktischen Politik entsprechend gehandelt wird.

Was muss Ihres Erachtens getan werden?

Zwei Dinge sind zu tun: Zum einen muss Deutschland nach außen und nach innen strategiefähig werden. Unter größtem Druck kommen durchaus die richtigen Entscheidungen zustande, siehe Panzer-Lieferungen oder der vergleichsweise rasante Bau der LNG Terminals. Aber offensichtlich sind wir nur im absoluten Krisenmodus entscheidungs- und durchsetzungsfähig. Insgesamt fehlen  übergreifende Strategien. Ohne die wird eine „Zeitenwende“ nicht gelingen.

Zum zweiten müssen wir uns sehr viel mehr und intensiver damit beschäftigen, wie wir das Überleben unseres freiheitlichen Gesellschaftsmodells sichern. Bedroht wird dieses Modell von einer extremen Rechten und einer extremen Linken, die inhaltlich gemeinsame Sache machen. Der Anti-Amerikanismus und die Träumerei von Deutschland als neutraler Mittelmacht dieser Koalition der Unverbesserlichen reichen bis in den gesellschaftlichen Mainstream hinein. So kommen dann die offenen Briefe zustande, die faktisch die Ukraine dazu auffordern, sich dem russischen Terror zu ergeben.

Zu Ihrem ersten Punkt: Was bedeutet Strategiefähigkeit nach innen und aussen? 

Strategiefähigkeit hat zwei Komponenten: Der Staat muss handlungsfähig sein, und er muss auf Basis eines ressortübergreifenden Ansatzes in Schlüsselbereichen gesamthafte Strategien entwickeln, statt wie bisher in bürokratischer Versäulung zu verharren.

Bei der Handlungsfähigkeit unseres Staates gibt es leider in vielen Bereichen enorme Defizite. Nur zwei hinlänglich bekannte Beispiele: Die mangelnde Einsatzfähigkeit der Bundeswehr und der seit Jahrzehnten stockende Infrastrukturausbau, an dem auch die Ziele des beschleunigten Ausbaus erneuerbarer Energien scheitern werden.

Aber genauso groß sind unsere strategischen Defizite. Auch hier ein Beispiel: In einem echten, im Kanzleramt angesiedelten und nach dem Vorbild des NSC in den USA gestalteten Bundessicherheitsrat hätten die elementar voneinander abhängigen und miteinander verflochtenen Themen Klimaziele, Energieversorgung und Sicherheitspolitik zusammen gedacht werden können. Gute Vorschläge dazu liegen seit langem auf dem Tisch.

Woran scheitert die Umsetzung?

An Ressort-Egoismus, mangelndem Problem-Bewusstsein und inadäquaten Strukturen. Und das in einer Welt, die immer komplexer wird. Wenn wir unabhängiger von China werden wollen, verlangt das ein strategisch ausgefeiltes, kluges Vorgehen und vernetztes Denken. Denn von Indien über den Mittleren Osten bis nach Lateinamerika werden selbstbewusst nationale und zum Teil aggressive ethnisch-kulturelle Interessen verfolgt.

Nun mangelt es der Bundesregierung nicht an ambitionierten Zielen, von Klima über Energie bis zu Verteidigung. Es sollen doch erkennbar die Defizite aufgearbeitet werden.

Ziele sind keine Strategien. Nehmen wir die Europa-Politik: Im Koalitionsvertrag steht etwas von einem „europäischen Bundesstaat“. Weiß jemand, was das bedeutet oder was damit konkret angestrebt wird? Wie sieht die Realität aus? Auf den amerikanischen Inflation Reduction Act hat Europa keine Antwort, außer dass Deutschland und Frankreich mit einem hektischen Subventionswettlauf beginnen. Oder: Als Deutschland sich auf das Verbot des Verbrennermotors in der EU ab 2035 eingelassen hat, sind da die Konsequenzen für den Industrie-Standort Deutschland wirklich durchdacht, alternative Ansätze zur Erreichung von Klimaschutzzielen in der EU erarbeitet worden? Zur Energiepolitik: Ja, es ist tatsächlich gelungen, Deutschland von russischen Gaslieferungen unabhängig zu machen. Aber ist mit der Diversifizierung unserer Bezugsquellen für Gas schon die grundsätzliche Frage beantwortet, wie und zu welchen Kosten Deutschland in zehn Jahren seinen wachsenden Bedarf an Strom und Energie decken können will? Es fehlt an einer vernetzten Strategie. Das Erreichen von Einzelzielen sind nur Kurzfristerfolge, lösen die Probleme nicht. Die deutsche Politik leidet unter einem eklatanten Strategiedefizit – und das schon seit vielen Jahren.

Die komplexen Problemlagen werfen – wieder einmal – die Frage auf: Sind Demokratien denn überhaupt strategiefähig?

In den letzten Jahrzehnten war es unter wirtschaftsaffinen Intellektuellen populär, autoritär geführten Staaten die größere Fähigkeit zu zielorientierter Langfristplanung beizumessen. Wir konnten in den letzten Jahren beobachten, wie gefährlich und kurzsichtig eine solche Argumentation ist. Aber es reicht ja nicht, zum Beispiel auf Chinas verfehlte Covid-Politik zu verweisen. Oder auf sein Abdriften in eine Digitaldiktatur. Wenn Demokratien an großen Langfristherausforderungen scheitern, liegt das nicht alleine an einem institutionellen Mangel an Planung und Voraussicht. Strategiedefizite sind auch auf Diskurs-und Kommunikationsdefizite zurückzuführen.

Was meinen Sie damit konkret?

Es ist verständlich, dass der Krieg in der Ukraine in der deutschen Bevölkerung Ängste auslöst. Hier ist politische Führung gefragt. Die gelingt dann, wenn Menschen sich ernst- und mitgenommen fühlen. Da darf man sich nicht mit Botschaften begnügen wie „Sie kennen mich“ oder „Ich lasse mich nicht treiben“. Wer Langfristherausforderungen bewältigen will, braucht Ziele, Strategien, braucht Führungs- und Überzeugungskraft. Der Verweis auf Ängste und Sorgen der Menschen oder machtpolitischer Opportunismus sind eine sehr schlechte Entschuldigung für Nicht-Handeln.

Welche Langfristherausforderung außer den angesprochenen sicherheits- und standortbezogenen Themen sehen Sie noch, in denen es an politischer Führung mangelt?

Das nächste Erwachen steht uns bevor, wenn die Politik den Folgen der „Demographie-Wende“ nicht mehr ausweichen kann. Noch viel mehr als bei der sogenannten „Zeiten-Wende“ gilt auch hier: Wir wissen seit Jahren, eigentlich schon seit Jahrzehnten, was zu tun wäre. Aber Olaf Scholz konnte mit der Behauptung Bundeskanzler werden: „Die Rente ist sicher“, ohne dass er von seinen Gegenkandidaten oder den Medien  dafür zur Rede gestellt wurde. Dabei hatte der Wissenschaftliche Rat des Bundeswirtschaftsministers kurz vor der Wahl die Rentenpolitik der Bundesregierung als das entlarvt, was sie seit Jahren ist: Die nächste große Illusion im Land der Wünsche Bundesrepublik Deutschland.

Martin Wiesmann sitzt dem Beirat von R21 vor. Nach politik- und betriebswissenschaftlichen Studien in Bonn, Paris und Pittsburgh war er 30 Jahre in der Finanzindustrie tätig, zuletzt als Vice Chairman Investment Banking Europe, Middle East and Africa von J.P. Morgan. Seit 2020 war er u. a. Senior Associate Fellow der Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) für Geoökonomie und arbeitet heute als Managing Partner bei der geopolitischen Beratungsgesellschaft Berlin Global Advisors. Wiesmann ist Aufsichtsrat der LEG Immobilien SE, Düsseldorf, sowie u. a. Mitglied der Atlantik-Brücke und der Baden-Badener Unternehmer Gespräche. Neben langjährigem Engagement in der Elternarbeit ist er zudem in den Kuratorien des Literaturhauses, des Städelmuseums und der Schirn in Frankfurt sowie der Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt aktiv.

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