EZB-Anleihekäufe: Verpasste Chance
Am 16. Dezember hat der Governing Council der Europäischen Zentralbank EZB entschieden: Die Zinsen werden voraussichtlich nicht vor Ende 2022 angehoben. Das Krisenankaufprogramm „PEPP“ soll ab März auslaufen, zugleich aber soll das jetzige Volumen durch Reinvestition von Fälligkeiten bis 2024 bestehen bleiben und dabei „flexibel“ genutzt werden können. „Flexibel“ heißt in diesem Fall unter anderem: abweichend vom Kapitalschlüssel der EZB, dessen Sinn ist, Umverteilungseffekte in der Währungsunion zu verhindern. Schließlich soll das bestehende Ankaufprogramm „APP“ von aktuell 20 Mrd. auf bis zu 40 Mrd. EUR pro Monat aufgestockt werden, bevor es dann wieder auf das aktuelle Niveau reduziert wird.
In Kritik und Kommentierung stehen die Zinsentscheidung und die ihr zugrunde liegende Inflationseinschätzung im Vordergrund. Mit dieser setzt sich die EZB deutlich von der amerikanischen FED, der Bank of England und der norwegischen Zentralbank ab, und das hat einen Grund: Die wirtschaftliche Dynamik gerade in den USA ist deutlich größer als im Euroraum, mit entsprechenden Konsequenzen für Arbeitsmarkt und Inflationsausblick. Sollten sich positive Erwartungen von Analysten für den Euroraum bis zu 4,5% sowie über 5% für Italien für 2022 bewahrheiten, könnte die EZB früher als erwartet gezwungen sein, ihre derzeitige Position zu korrigieren.
Normalisierung vertagt
Die EZB vertagt jedoch nicht nur auf der Zinsseite, sondern auch bei den Anleihekäufen eine Normalisierung. Das Vertrauenskapital, das sie in den akuten Krisen der Jahre 2012 und 2020 aufgebaut hat, Denn das eiserne Festhalten an den Kaufprogrammen nährt unverändert den Verdacht, dass die Bank faktisch das betreibt, was sie selbst als rechtlich ausgeschlossen betrachtet: die monetäre Finanzierung hoch verschuldeter Euroländer.
Die der Europäischen Union haben mit dem Wiederaufbaufonds über 750 Mrd. EUR fiskalischen Einsatz für deren wirtschaftliche Erholung massiv erhöht und diese Mittel ebenso massiv asymmetrisch zugunsten einzelner Empfängerländer verteilt. Damit haben sie genau das getan, wofür die EZB stets geworben hat. Dass diese den Zeitpunkt für einen Einstieg in den Ausstieg nun verpasst hat, könnte noch manches Bedauern auslösen.
Während die EZB auf der Zinsseite gegen den Strom zu schwimmen scheint, kann sie sich bei den Anleihekäufen auf einen fest etablierten Zentralbank-Mainstream berufen. Dabei wäre es geboten, diesen einer profunden wissenschaftlichen Kritik zu unterziehen.
Stimulierende Effekte fraglich
Gemäß dem in Japan entwickelten Konzept des „Quantative Easing“ (QE) greifen Zentralbanken statt über Zins- und Einlagensteuerung durch Anleihekäufe am Markt ein, um die Wirtschaft zu stimulieren. Es ist dort, gemessen an seinem umfassenden Einsatz, jedoch von geringer Wirkung geblieben. Die enormen Ausweitungen der Zentralbankbilanzen in den entwickelten Volkswirtschaften haben sehr komplexe Auswirkungen – wirtschaftliche Stimulanz über die Ausreichung von Bankkrediten ist dabei allerdings am wenigsten feststellbar. Damit entfällt eine der immer wieder vorgebrachten Rechtfertigungen der Ankaufprogramme. Sicher ist nur, dass sie die Bankbilanzen in Form von „Bankreserven“ aufblähen.
Dazu kommt, und das wird bislang viel zu wenig diskutiert, dass die Programme auch gegenläufige monetäre Effekte haben. Liquidität und kurzfristiger Kredit werden zunehmend über besicherte Rückkaufvereinbarungen bereitgestellt. Bei einem solchen sogenannten „Repo“ übertragen oder erhalten Banken und andere Kapitalmarktteilnehmer Wertpapiere und erhalten oder verleihen dagegen kurzfristige Liquidität. Weil dasselbe Wertpapier gleich mehrfach als Basis einer Rückkaufvereinbarung dient, entsteht ein Kreislauf, der den Charakter von Geldschöpfung hat. Die Anleihekäufe führen jedoch zu einer Verknappung der Verfügbarkeit gerade jener Wertpapiere, die für solche Geschäfte benötigt werden – im Ergebnis entspricht das in etwa dem gleichzeitigen Betätigen von Gaspedal und Bremse.
Doch Mainstream hin oder her: Für die USA und Großbritannien sind im kommenden Frühjahr Strategien für das deutliche Schrumpfen ihrer Zentralbank-Bilanzen zu erwarten. Die Bilanz der EZB soll dagegen bis 2024 weiter anwachsen.
Es wird Zeit, dass die Eurozone wieder Zutrauen zu sich selber fasst. Dauerhaftes Sedieren von Märkten und das damit einhergehende Fortbestehen von Fehlanreizen sind nirgendwo eine Lösung. Wenn sich gleichzeitig wesentliche Koordinaten der Finanzarchitektur des Eurosystems verschieben, wie sich das mit der Forderung nach einer Erhöhung der Schuldengrenze von 60 % auf 100 % andeutet, wird der Fehlanreiz zur Fehlkonstruktion.