Friede der Komfortzone
Hinter dem Silberblick vieler Linken auf Putin steckt die hartnäckige Weigerung, die eigene ideologische Verblendung aufzuarbeiten
Es ist legitim, auf die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation des Ukraine-Krieges hinzuweisen. Doch tappen Habermas und seine linken Adepten in Putins antifaschistische Propagandafalle, wenn sie aus Angst vor der Atomdrohung hochmoralisch Defaitismus verbreiten.
Die Ukrainer kämpfen seit der Maidan-Revolution 2014 für das Selbstbestimmungsrecht ihrer Nation, die Fortsetzung ihres Wegs gen Westen, für Freiheit und Demokratie. Die Antwort Putins darauf waren die Annexion der Krim, seine «grünen Männchen», welche die vermeintlich prorussischen Gebiete im Osten des Landes «befreiten».
Die Putin-Versteher und Putin-Knechte im Westen wollten keineswegs nur billiges Gas für Europa. Sie denken bis heute in imperialen Einflusssphären und repetieren das Märchen von der Demütigung und Kränkung Putins, weil sich die Nato nach Osten ausgedehnt habe. Nach der Annexion der Krim äusserte Helmut Schmidt Verständnis für Putins Vorgehen und sprach den Ukrainern das Recht ab, eine Nation zu sein.
Nicht wirklich eine mentale Umkehr
Dieser wohlwollende Blick nach Moskau hat insbesondere in Deutschland eine lange Tradition. Unmittelbar vor der Verhängung des Kriegsrechts in Polen und der Niederschlagung der Solidarnosc-Bewegung 1981 sagte Schmidt in einem Gespräch, er könnte verstehen, wenn sich die Sowjetunion engagierte, denn sie müsse «als Führungsmacht ihren Laden sauber halten». Im Juni 2015 bezeichnete Frank-Walter Steinmeier – trotz den Protesten aus den USA, den ostmitteleuropäischen Ländern, dem Baltikum und der Ukraine – die Vereinbarung zu Nord Stream 2 als «Brücke zwischen Russland und Europa», die dem Frieden diene.
Frieden war der Linken schon zu Zeiten der Entspannungspolitik immer wichtiger als Freiheit.
Inzwischen entschuldigt man sich angesichts des offenkundigen Scheiterns der Brückenpolitik ein bisschen, und Olaf Scholz stellt in seiner Rede zum Jahrestag des 8. Mai 1945 die Unterstützung der Ukraine auch mit schweren Waffen unter das neue Motto «Freiheit und Sicherheit». Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil kündigt unter dem öffentlichen Druck eine neue Ostpolitik an.
Doch das lange Zaudern lässt an einer grundlegenden mentalen Umkehr zweifeln – nicht nur in der SPD, sondern auch bei Intellektuellen, die jetzt nur wenig verhohlen die Kapitulation der Ukraine zugunsten des Weltfriedens fordern. Besonders die Sozialdemokratie hat ihre Verbundenheit mit den Kommunisten in Moskau und später mit Putin nie aufgearbeitet. Frieden war ihr schon zu Zeiten der Entspannungspolitik immer wichtiger als Freiheit. Am Status quo der Nachkriegsordnung sollte nicht gerüttelt werden: Wandel durch Annäherung und Liberalisierung durch Stabilisierung.
Doch letztlich sorgte weniger Michael Gorbatschow als vielmehr der Nato-Doppelbeschluss und die resolute Abschreckungspolitik des Westens und Ronald Reagans sowie die friedlichen Revolutionen der Bürgerrechtsbewegungen 1989 für einen anderen Lauf der Geschichte. Sozialdemokraten und viele Intellektuelle hatten die ostmitteleuropäischen Dissidenten lange Zeit als gefährliche Störenfriede des Weltfriedens und der Entspannungspolitik angesehen. Günter Grass rechtfertigte noch 1990 die Mauer und die Teilung Europas als Strafe für Auschwitz. Und Jürgen Habermas mokierte sich angesichts der Wiedervereinigung über den «DM-Nationalismus» der Ostdeutschen.
1989 – muss das sein?
Auf die Vorhaltung des polnischen Historikers und Dissidenten Adam Michnik, warum in seinem Werk keine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Stalinismus zu finden sei, antwortete Habermas 1993, die Angst vor dem Beifall der falschen Seite habe ihn schweigen lassen, er habe nicht in ein «antikommunistisches Fahrwasser geraten» wollen. Wer vor 1989 in der Bundesrepublik das antikommunistische Aufbegehren der Dissidenten gegen die kommunistische Diktatur unterstützte, galt im linksliberalen Intellektuellenmilieu und bei vielen Sozialdemokraten als kalter Krieger, als reaktionär und rechts.
Nur eine Minderheit im linken Spektrum sah dies anders. Das Ende des Eisernen Vorhangs und der Fall des «antifaschistischen Schutzwalls» riefen bei vielen Intellektuellen denn auch keine grosse Begeisterung hervor. Mit der vereinigten Nation haderten sie und sahen einen neuen Nationalismus aufkommen. Als fortschrittlich galt hingegen, wer Nationalstaaten für obsolet hielt und das Lob des Postnationalismus und des europäischen Bundesstaats anstimmte.
Es passte vielen nicht, dass während der friedlichen Revolutionen 1989 ausdrücklich die «bürgerlichen» Freiheiten, die eigene Nation und die Rückkehr in die westliche Wertegemeinschaft auf der Agenda standen. Unbehagen bereitete auch, dass mit dem Ende der sowjetischen Herrschaft die Abgründe kommunistischer Verbrechen zumindest für kurze Zeit wieder ein Thema öffentlicher Debatten waren. Hatte doch im Zuge der Studentenbewegung 1968 ein einschneidender Paradigmenwechsel stattgefunden, der den antitotalitären Konsens der Nachkriegszeit auflöste.
Die Renaissance des Marxismus an den Hochschulen wie in den gesellschaftlichen Debatten machte den westlich-liberalen Totalitarismustheorien, die Nationalsozialismus, Faschismus, Kommunismus und Stalinismus vergleichend untersuchten, den Garaus. Diverse Faschismustheorien dominierten nun den Diskurs, Stalins Verbrechen blieben ausgespart.
Eine Melange aus Antifaschismus, Antikapitalismus, Antikolonialismus und Antiamerikanismus – infolge des Vietnamkrieges – verdichtete sich zu einem ausgeprägt antiwestlichen Ressentiment, das in sozialdemokratischen Kreisen ebenso anzutreffen war wie in intellektuellen Zirkeln. Zugleich galt es als chic, einen generalisierten Faschismusverdacht gegenüber der Bundesrepublik zu propagieren. Eine läuternde intellektuelle Selbstreflexion steht bis heute aus.
Putin spielt auf der Klaviatur der Komplexe
Offensichtlich berührt Putin mit seiner Antifaschismus-Rhetorik noch heute diesen blinden Fleck bei Linken, Sozialdemokraten, Intellektuellen sowie Kulturschaffenden und verfängt damit. Weniger die westlichen Alliierten im Kampf gegen Hitler stehen im Fokus historischer Wahrnehmung als vielmehr die glorreiche Sowjetunion mit ihrer Roten Armee. Der Mythos von der siegreichen Niederschlagung des Faschismus adelte die Sowjetunion als die grosse antifaschistische Befreierin.
Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 blieb ebenso unterbelichtet wie die erfolgreiche Praxis der sowjetischen Kommunistischen Partei, westliche Intellektuelle und Künstler (Pablo Picasso, Leon Feuchtwanger, André Gide) auf ihren antifaschistischen Schriftstellerkongressen als Fellow Travellers zu instrumentalisieren. Unter der Wucht der prunkvollen Paraden in Moskau zum 9. Mai 1945 zur Feier des Sieges über den Faschismus sind über die vielen Jahrzehnte die Millionen Opfer der kommunistischen Verbrechen vergessen, die Greueltaten verharmlost oder geleugnet worden. Der Mythos von der antifaschistischen Befreierin und Stifterin des Weltfriedens ist latent immer noch wirkmächtig und verstellt den Blick auf Russland.
Wladimir Putin beschwört mit seinen Geschichtslügen und der Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses immer noch das Bild der Russen als Hauptopfer der Nazis. Obwohl vom deutschen Vernichtungskrieg und den Greueltaten besonders Polen, Weissrussland und die Ukraine betroffen waren, starben in der von Stalin initiierten Hungersnot zuvor vier Millionen Ukrainer. Heute bezeichnet Putin die Ukrainer als Faschisten und Nazis, die einen Genozid an den Russen planten, und will ihren Staat und ihre Kultur austilgen.
Es ist legitim und notwendig, auf Gefahren einer unberechenbaren Eskalation und Ausweitung des Krieges hinzuweisen. Doch tappen Jürgen Habermas und die zur ukrainischen Kapitulation aufrufenden Intellektuellen in Putins antifaschistische Propagandafalle, wenn sie seine Drohung mit dem Atomkrieg aus Angst übernehmen.
Ängstliches Zurückweichen wird den Hunger des Imperators nicht stillen, sondern steigern. Wenn wir Putin jetzt nicht stoppen, wird nicht nur die Ukraine vernichtet. Dann wird auch der von Putins Chefideologen Alexander Dugin 2015 ausgerufene «Jihad gegen den westlichen Liberalismus» erfolgreich gewesen sein. Der Krieg und die Krise um die Ukraine haben erst begonnen. Es braucht nun im ganzen Westen dringend einen neuen, antitotalitären Konsens, um die Freiheiten robust verteidigen und den gewaltigen Herausforderungen begegnen zu können.
Der Gastbeitrag wurde erstmals am 14. März 2022 in der NZZ veröffentlicht.