Foto: Denkfabrik R21/Carsten Ovens

Carsten Ovens über Israel, Gaza und die Abraham Accords

Zwei Jahre nach dem Überfall der Hamas kamen nun endlich die letzten israelischen Geiseln frei. Carsten Ovens, CEO von ELNET, spricht bei R21 über die aktuelle Situation und die Perspektive auf Frieden in der Region. „Der Westen darf die Fehler der vergangenen zwei Jahrzehnte nicht wiederholen“, mahnt er. „Wir haben die Hamas mitfinanziert, ihre tödliche Ideologie ignoriert und Israel gleichzeitig bei den Sicherheitsfragen alleine gelassen.“

 

Der ehemalige CDU-Politiker Carsten Ovens leitet das Berliner Büro des European Leadership Network (ELNET), einer Denkfabrik zur Förderung der europäisch-israelischen Beziehungen.

Martin Hagen: Carsten, vor eineinhalb Jahren waren wir gemeinsam auf einer Delegationsreise in Israel und haben mit Angehörigen der Geiseln gesprochen. Letzte Woche konnten die letzten lebenden Geiseln endlich nach Hause zurückkehren. Wie wurde ihre Freilassung in Israel aufgenommen, wie ist die Stimmung dort?

Carsten Ovens: Der 7. Oktober hat Israel in ein kollektives Trauma gestürzt, aus dem es bislang kein Entrinnen gab. Durch die Rückkehr der letzten noch lebenden 20 Geiseln – zwei Jahre nach ihrer brutalen Entführung durch die Hamas – herrscht nun eine Mischung aus großer Erleichterung und vorsichtiger Hoffnung auf bessere Zeiten. Viele sprechen davon, dass sich für die betroffenen Familien ein Kreis schließt. Zugleich ist den Menschen in Israel bewusst, dass „der Tag danach“ kein Datum im Kalender ist, sondern ein Prozess mit offenen Sicherheitsfragen. Genau dieser Zwiespalt – große Freude über die Heimkehr und die Sorge um die langfristige Stabilität – prägt derzeit das Land. Viele Menschen sind irritiert, wie verschiedene Akteure in Europa versuchen, die israelische Gesellschaft zu isolieren. Es gibt immer mehr Versuche, Israel aus europäischen Programmen in Kultur, Sport oder Wissenschaft herauszudrängen. Dies erfüllt immer mehr Israelis mit Sorge. Hier ist vor allem Deutschland in der Verantwortung, diesem offenen Antisemitismus die rote Karte zu zeigen.

Martin Hagen: Wie geht es im Gazastreifen weiter? Lässt die Hamas sich entwaffnen? Wer übernimmt die Kontrolle?

Carsten Ovens: Kurzfristig bleibt Israel militärisch präsent, während international über ein Stabilisierungskonzept gerungen wird. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder erleben wir eine „Internationalisierung“ des Konfliktmanagements – mit einer möglichen internationalen Friedenstruppe, die vor allem von arabischen und muslimischen Staaten gestellt werden könnte – oder die Aufmerksamkeit weicht wieder, und Israel steht erneut allein vor den bekannten Dilemmata. Eine vollständige Entwaffnung der Hamas ist ohne klaren Durchsetzungsmechanismus, dazu gehören Truppen im Gazastreifen, nicht realistisch. Der Westen darf die Fehler der vergangenen zwei Jahrzehnte nicht wiederholen. Wir haben die Hamas mitfinanziert, ihre tödliche Ideologie ignoriert und Israel gleichzeitig bei den Sicherheitsfragen alleine gelassen. Denkbar sind nun zunächst schrittweise Sicherheitsarrangements mit externer Unterstützung und einer reformorientierten palästinensischen Verwaltung, die jedoch international stark gestützt werden müsste.

Martin Hagen: Der Deal zur Freilassung der Geiseln und der Waffenruhe war Donald Trumps Werk. Welche Rolle haben die Europäer gespielt? War es klug, dass einige europäische Regierungen einen Staat Palästina anerkannt haben?

Carsten Ovens: Die Rolle der USA war in den letzten Wochen außergewöhnlich direkt –  und erfolgreich. Europa war parallel diplomatisch aktiv, u.a. in humanitärer Koordination, politischem Druck für Geiselbefreiungen und in sicherheitspolitischen Dialogformaten, wie auch das European Leadership Network (ELNET) sie im Europa und im Nahen Osten ausrichtet.  Die einseitigen Anerkennungen eines palästinensischen Staates durch Spanien, Irland und Norwegen haben in Israel überwiegend für Unverständnis gesorgt – vor allem wegen des Timings rund um den 7. Oktober. Eine Anerkennung ohne belastbare Sicherheits- und Governance-Architektur bringt dabei keine Friedensperspektive. Im Gegenteil, die europäischen Nationen haben sich damit selbst eines Arguments für Friedensverhandlungen beraubt und somit das falsche Signal gesendet.

Martin Hagen: Im September jährten sich zum fünften Mal die so genannten Abraham Accords, das in Trumps erster Amtszeit ausgehandelte Abkommen zwischen Israel und anderen Staaten der Region. Mit diesem diplomatischen Erfolg wurden damals große Hoffnungen verbunden. Wie ist der aktuelle Stand?

Carsten Ovens: Trotz der Erschütterungen seit dem 7. Oktober sind durch die Abraham Accords wirtschaftliche, technologische und sicherheitspolitische Initiativen entstanden – und haben gehalten. Die beteiligten Staaten haben ein gemeinsames Verständnis für die Potentiale in Handel, Energie, Verteidigung sowie dem gesellschaftlichen Austausch. Dies haben wir zuletzt bei unseren eigenen strategischen Dialogformaten, dem Europe Middle East Forum (EMEF) in Abu Dhabi sowie dem Abraham Accords Summit in Berlin erlebt. Israel und die beteiligten arabischen Staaten verbindet weit mehr als nur ein paar Verträge. Es ist der Leitgedanke, trotz vielerlei Unterschiede zu einer großen Familie zu gehören. Dies wird auf vielfältige Weise gelebt. Eine Ausprägung davon sind heute beispielsweise fast stündliche Flugverbindungen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten und Israel (VAE) – bedient auch von Fluggesellschaften aus den VAE, während europäische Airlines seit dem 7. Oktober fast gar nicht mehr nach Israel fliegen. Darüber hinaus gibt es ein gemeinsames Verständnis, dass dem Terrorismus kein Raum gegeben werden darf. Und es wird jeweils entschlossen gehandelt, man steht füreinander ein. Dies ist bisweilen komplex und für Europäer offenbar auch nicht immer verständlich. So haben mehrere arabische Staaten Israel in den vergangenen zwei Jahren gegen direkte Angriffe des Irans verteidigt –  auch solche, die keine Unterzeichner der Abraham Accords sind. Ein Ausdruck der Veränderungen im Nahen Osten, zusätzlich befördert durch die Abraham Accords.

Martin Hagen: Inwiefern haben die militärischen Auseinandersetzungen seit dem 7. Oktober 2023 Einfluss auf die Abraham Accords?

Carsten Ovens: Anfang September diesen Jahres haben wir erstmals eines unserer Dialogformate in einem arabischen Land ausgerichtet. Mit dem 5. Europe Middle East Forum (EMEF) kamen Europäer, Israelis und Vertreter mehrerer arabischer Länder in Abu Dhabi zusammen. Schon die Tatsache, dass dieser Dialog rund zwei Jahre nach dem 7. Oktober und während Israels laufenden Krieges gegen die Terrororganisation Hamas am Golf stattfinden konnte, wohlgemerkt sogar mit dem Emirates Policy Center als lokalem Partner, ist mehr als ein wichtiges Zeichen. Es unterstreicht die Dialogbereitschaft aller beteiligten Akteure auch in schwierigen Zeiten. Sicherlich hat der Krieg den Normalisierungsprozess belastet. Wirtschaftlich allerdings weitaus weniger, als mit anderen Teilen der Welt. So sank Israels weltweiter Handel seit dem 7. Oktober um 18 Prozent, mit den Abraham Accords Staaten lediglich nur um 4 Prozent. Mittel- bis langfristig sehen wir drei Faktoren, welche die Abraham Accords stützen:

  1. Eine gemeinsame Bedrohungsanalyse (Iran, Raketen, UAV, Cyber). Diese erhöht den Anreiz für interoperable Luft-, Raketen- und Cyber-Abwehr.
  2. Gemeinsame Potentiale in Energie & Konnektivität. Strom-, Wasser-, Wasserstoff- und Digitalkorridore bleiben wirtschaftlich für die Region attraktiv, übrigens auch für Europa, weshalb der India-Middle East-Europe Economic Coordior (IMEEC) mehr als nur eine interessante politische Vision ist. Deutschland sollte dieses Thema unbedingt voranbringen.
  3. Pragmatische Regionaldiplomatie. Die Golfstaaten und moderat agierende Partner treiben Stabilität an, wenn glaubwürdige Sicherheitsarchitektur und Wiederaufbaupfade für Gaza sichtbar werden. Es braucht neue Perspektiven für die junge Bevölkerung.

Martin Hagen: Wo liegen Perspektiven und Potentiale der weiteren Entwicklung?

Carsten Ovens: Ein Schlüssel für Stabilität, weitere Annäherung und damit dauerhaften Frieden und wirtschaftlichen Wohlstand in der Region ist die Bildung. In den VAE wurden im Rahmen der Abraham Accords die Schulbücher überarbeitet. Der Holocaust sollte in allen Ländern der Region Bestandteil der Bildung sein. Schulbücher dürfen keinen Hass auf andere Völker und Nationen schüren, sondern sollten ein Miteinander fördern, Gemeinsamkeiten betonen. Es braucht insgesamt mehr Dialog zwischen den Gesellschaften der Nationen im Nahen Osten. Ein Ausbau der Kooperation in Wirtschaft und Wissenschaft bildet dabei eine wichtige Grundlage. Wie eben schon skizziert kann auch die Gewinnung und Verteilung von Energie – sowie weiteren Rohstoffen – ein Treiber der weiteren Annäherung sein. Es liegt nicht völlig fern, dabei an die Montanunion zu denken, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Grundstein für die heutige Europäische Union.

Martin Hagen: Inwieweit bringt sich Deutschland bislang in den Normaliserungsprozess im Nahen Osten ein?

Carsten Ovens: Bundesregierung und Bundestag sollten sich zunächst klare Ziele setzen, was im Nahen Osten erreicht werden soll und eine entsprechende Nahost-Strategie entwickeln. Ein arabischer Teilnehmer unseres Abraham Accords Summits formulierte passend dazu den Gedanken, dass es Frieden für die Palästinenser geben wird, wenn sie in Frieden mit Israel leben. Geprägt von diesem Leitgedanken könnte zu den deutschen Initiativen auch der Wiederaufbau in Gaza sowie eine reformierte Palästinensische Autonomiebehörde gehören. Dabei müssen finanzielle Mittel zielgerichtet und konditioniert eingesetzt werden und die Verausgabung transparent überprüfbar sein. Deutschland könnte zudem die Abraham Accords durch eigenen Initiativen fördern – auch auf europäischer Ebene. Ein Abraham Accords Sekretariat mit Sitz in Abu Dhabi, Berlin und Brüssel könnte den Normalisierungsprozess im Nahen Osten nachhaltig fördern, unterstützt von Deutschland und der EU. Dialogformate wie das Europe Middle East Forum (EMEF) könnten zudem als multilaterale Plattformen ausgebaut werden.

 

Author

  • Martin Hagen

    Martin Hagen ist Politiker und Geschäftsführer der Denkfabrik R21. Er wurde 1981 in La Spezia (Italien) geboren, wuchs im Landkreis Rosenheim auf und studierte in München Politikwissenschaft. Danach war er unter anderem als Pressesprecher, Hauptgeschäftsführer und selbständiger Kommunikationsberater tätig. 2018 führte er die FDP als Spitzenkandidat zurück in den Bayerischen Landtag und war dort fünf Jahre lang Fraktionsvorsitzender. Von 2019 bis 2025 war er Mitglied des FDP-Bundesvorstands, von 2021 bis 2025 Landesvorsitzender der FDP Bayern. Kommunalpolitisch engagiert er sich als Gemeinderat in Vaterstetten. Das Wirtschaftsmagazin “Capital” zeichnete ihn dreimal in Folge mit dem Titel „Junge Elite – Top 40 unter 40“ aus. Hagen ist Vater von zwei Kindern und lebt in Baldham.

    Alle Beiträge ansehen
703 Fördermitglieder aktuell
Unser Ziel 1.000
70%
Noch 297 bis zum Ziel!
Jetzt Fördermitglied werden

Neueste Beiträge

Am meisten gelesen

Tags

Denkfabrik R21 Newsletter

Bleiben Sie auf dem Laufenden

News

Ähnliche Artikel

Im Interview mit Ruhrbarone.de spricht Martin Hagen über die Arbeit der Denkfabrik R21, den Vibe Shift als Gegenbewegung zu woken...

Zwei Jahre nach dem Überfall der Hamas kamen nun endlich die letzten israelischen Geiseln frei. Carsten Ovens, CEO von ELNET,...

Am 15. Oktober 2025 fällte das Bundesverwaltungsgericht ein wegweisendes Urteil: Sofern das mediale Gesamtangebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks über einen Zeitraum...

Was nicht verboten ist, ist erlaubt: Wer auf diesem Grundsatz beharrt, erntet heute sofort Widerspruch. So ging es R21-Gründerin Kristina...

Das Ausscheiden der FDP aus dem Deutschen Bundestag war nicht nur ein schwerer Schlag für eine traditionsreiche Partei. Es wirft...

Am 4. November wird in New York City ein neuer Bürgermeister gewählt. Höchstwahrscheinlich wird der 33-jährige Demokrat Zohran Mamdani gegen...

Das argentinische Wirtschaftswunder ist ins Stocken geraten, die Parlamentswahlen am 26. Oktober könnten für Javier Milei zum Schicksalstag werden. In...

Der Wohnungsmarkt ist einer der am schärfsten regulierten Märkte in Deutschland, und dennoch (oder gerade deswegen?) herrscht in den Augen...

In die klima- und energiepolitische Debatte in Deutschland kommt endlich etwas mehr Realismus. Lange endete jede Debatte über eine bessere...