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“Gramsci des Monats” (4): Die sich weiter öffnende Schere

Geht es um Arm und Reich in Deutschland, wird häufig das Bild der Schere bemüht. In Zeitungsartikeln, TV-Reportagen und Reden von Politikern öffnet sie sich seit Jahrzehnten immer weiter. Gemeint ist: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Die eingängige Botschaft kommt bei den Bürgern an. Umfragen in Deutschland zeigen, dass sie die Struktur der Gesellschaft als deutlich ungleicher wahrnehmen, als sie eigentlich ist.

Die allermeisten Menschen in Deutschland gehören mit ihren Einkommen weder zu den Gering- noch zu den Großverdienern, sondern sind Teil einer breiten Mittelschicht. Die Ungleichheit hat in den letzten Jahren weder bei der Verteilung von Einkommen noch bei der Verteilung von Vermögen wesentlich zugenommen. Bei beiden ist die relative Verteilung in den letzten 10 bis 15 Jahren bemerkenswert stabil. Der sogenannte Gini-Koeffizient, der zwischen Null (alle haben das gleiche Einkommen oder Vermögen) und 1 (nur eine Person erhält das gesamte Einkommen/besitzt das gesamte Vermögen, alle anderen nichts) schwanken kann, liegt bei den Einkommen in Deutschland seit Jahren bei etwa 0,29, bei den Vermögen bei etwa 0,75.


Quelle: IW Köln

Quelle: IW-Kurzbericht Nr. 81 vom 17.12.19

Hat Corona Ungleichheit gefördert?

Zur aktuellen Entwicklung der Einkommensungleichheit während der Corona-Krise liegen nur vorläufige Daten vor. Diese deuten aber darauf hin, dass auch während der Corona-Krise durch umfangreiche sozialstaatliche Maßnahmen die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen nicht angestiegen ist.

Dass die Ungleichheit bei den verfügbaren Einkommen und Vermögen in den letzten Jahren nicht zugenommen hat, ist umso erstaunlicher, als eine große Zahl an niedrig qualifizierten Zuwanderern nach Deutschland kam. Diese Zuwanderer erzielen in der Regel nur geringe Einkommen und bringen nur wenig Vermögen mit.

Doch nicht nur innerhalb Deutschlands nimmt die statistisch gemessene Einkommensverteilung nicht zu, auch weltweit. Da viele Menschen in großen, schnell wachsenden Ländern wie China in den letzten Jahrzehnten sich aus bitterer Armut befreien konnten, schließt sich seit etwa 30 Jahren länderübergreifend die Schere zwischen Arm und Reich. Gleichzeitig nimmt weltweit die Unterernährung ab, die Lebenserwartung und das Bildungsniveau steigen.

Konsummöglichkeiten nicht vergessen

Schaut man nicht nur auf die statistische Einkommens- und Vermögensverteilung, sondern auf das, was sich Arme und Reiche tatsächlich leisten können und vergleicht nicht nur die letzten 10 Jahre, sondern die letzten 100 Jahre, so erscheint das Bild von einer sich weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich noch schräger. Wie der Economist anschaulich beschreibt, konnten vor 100 Jahren Reiche ihre Lebensmittel in einem Kühlschrank lagern und mit Automobilen Urlaubsreisen antreten. Der große, ärmere Teil der westlichen Gesellschaften musste sich zu dieser Zeit mit einem Paar Schuhen und einem Eiswürfel begnügen.

Heute lässt sich von der Ausstattung mit Konsumgütern kaum noch auf die Einkommens- und Vermögenssituation schließen. Auch armutsgefährdete Haushalte sind fast durchgehend mit TV-Geräten, Computern oder Smartphones ausgestattet. Ebenfalls der Autobesitz ist längst nicht mehr ein Privileg der Oberklasse, ein Kühlschrank in jedem Haushalt schon gar nicht. Was heute selbstverständlich ist, sorgte in den 1950er Jahren noch für Diskussionen. Neue Technologien sind bei ihrer Markteinführung meist nur für wenige erschwinglich. Erst wenn die produzierten Stückzahlen steigen, sinken die Preise. Von dieser Entwicklung profitieren gerade einkommensschwächere Konsumenten. Ludwig Erhard verweist 1953 in dem Artikel „Ein Kühlschrank in jeden Haushalt“ darauf, dass „ein Luxus von heute nur dann allgemeiner Konsum von morgen werden kann, wenn wir es ertragen, daß es in der ersten Phase immer nur eine kleinere Gruppe mit gehobenen Einkommen sein kann, deren Kaufkraft an jene Güter heranreicht.“ Wenn das sozial anrüchig ist, so Erhard, müsse eben die ganze Volkswirtschaft auf diese Güter verzichten.

Noch wichtiger als die Versorgung mit Konsumgütern ist der breite Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland sind so weit ausgebaut wie noch nie, um diesen Zugang für alle Menschen zu bieten.

Dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland seit Jahren nicht öffnet heißt nicht, dass alles Bestens ist und in Zukunft alles so bleibt. Vor allem zwei Entwicklungen sind beunruhigend:

Inflation trifft vor allem die Kleinsparer

Die steigende Inflation trifft unterschiedliche Schichten mit unterschiedlicher Wucht. Während Menschen mit hohen Einkommen und Vermögen einen kleineren Teil ihres Einkommens konsumieren und stärker Anlagen wie Aktien nutzen, die die Preissteigerung auffangen, sitzt gerade die Mittelschicht in der Inflationsfalle. Ihre Ersparnisse liegen zu einem großen Teil auf dem Sparbuch oder dem Festgeldkonto, wo sie rapide an Wert verlieren. Um dem etwas entgegenzusetzen, hilft weniger staatliche Umverteilung als eine geldpolitische Wende. Wenn die EZB nicht entschlossen reagiert, bekommen wir ein echtes Gerechtigkeitsproblem: Nicht an den Rändern der Einkommens- und Vermögensverteilung, sondern in ihrer Mitte.

Ungleichheit in Bildungs- und Aufstiegschancen

Zum zweiten gibt es im Bildungssystem weiterhin viel Verbesserungspotential, um Kindern aus armen Familien bessere Startbedingungen zu bieten und um in der Corona-Krise gewachsene Rückstände wieder aufzuholen. Nur hilft es diesen Kindern nicht, ständig eine angeblich wachsende materielle Ungleichheit zu beklagen und nach mehr Umverteilung zu rufen. Diesen Kindern helfen grundlegendere Strukturreformen in Schule und Kinderbetreuung sowie Fortschritte bei der Digitalisierung unseres Bildungssystems. Die eigentlichen Ursachen für die Bildungsrückstande und die schlechteren Aufstiegschancen vieler Kinder sind zu komplex, um damit schnelle Schlagzeilen zu produzieren. Deswegen wird immer wieder eine Armuts- und Reichtums-Schere bemüht, die eher in unseren Köpfen existiert als in der deutschen Realität des Jahres 2022.

Gastautor dieses Textes: Dr. Nils Hesse

Nils Hesse

Nils Hesse berät und unterstützt die Denkfabrik R21 in Fragen der Ordnungspolitik und der Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft. Er hat Abschlüsse in VWL, BWL, Social Science und Politikwissenschaften und an der Uni Freiburg / Abteilung für Wirtschaftspolitik promoviert. Nils Hesse hat unter anderem als Redenschreiber im Bundeswirtschaftsministerium, Referent beim BDI, Wirtschaftspolitischer Grundsatzreferent im Kanzleramt, Journalist, Economic Analyst bei der EU-Kommission, Lehrbeauftragter und Fraktionsreferent der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gearbeitet. Derzeit arbeitet er an einer Habilitationsschrift zum Thema „Ordoliberalismus und Populismus“.

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