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Foto: Denkfabrik R21, Bild Armin Nassehi: Hans-Günther Kaufmann

Ist der Zeitgeist nicht mehr grün?

DIE ZEIT: Herr Rödder, Sie haben in einem viel beachteten Text in der FAZ festgestellt, die grüne Hegemonie sei zu Ende gegangen, und der Zeitgeist sei deutlich konservativer geworden. Sind Sie ins Grübeln gekommen, seit Hunderttausende gegen Rechtsextremismus demonstrieren?

Andreas Rödder: Diese Demonstrationen sind ein vielschichtiges Phänomen. Aufrichtige Empörung in der Mitte der Gesellschaft über inhumanen Extremismus ist das eine. Sie überlagert sich mit dem Versuch, den Verlust der grünen Deutungshegemonie abzuwehren. Nachdem das Hamas-Attentat vom 7. Oktober viele unbequeme Fragen zu Migration und Antisemitismus aufgeworfen hat, geht es nun darum, die alte Schlachtordnung wiederherzustellen: „gegen rechts“.

ZEIT: Das heißt, Sie waren selbst nicht auf einer solchen Demo?

Rödder: Ich nehme an keiner Veranstaltung teil, bei der „rechts“ und „rechtsextrem“ gleichgesetzt werden. Damit stellt man die Legitimität einer demokratischen rechten Mitte infrage. Das wird inzwischen richtigerweise kritisiert. Allein daran erkennt man, dass wir es mit einem grundsätzlichen Deutungskonflikt zu tun haben.

ZEIT: Herr Nassehi, wie war das bei Ihnen, haben Sie demonstriert?

Armin Nassehi: Auch nicht, aber aus profaneren Gründen: Ich war auf Reisen. Ich wäre ansonsten in München dabei gewesen, angesichts einiger Reden aber auch mit einem gewissen Unbehagen. Trotzdem begrüße ich die Demonstrationen sehr. Es ist gut, dass eine große Menge sich gegen Grenzverschiebungen wendet, auch des Sagbaren.

ZEIT: Sie galten als Vordenker einer schwarz-grünen Koalition. Hat Herr Rödder damit recht, dass die grüne Hegemonie vorbei ist?

Nassehi: Ich bin kein Vordenker von Schwarz-Grün, ich habe vielmehr über diese Option nachgedacht, als sie im Bereich des Möglichen lag. Und was die grüne Hegemonie angeht, teile ich schon die Prämisse nicht. Herr Rödder lehnt sich an Antonio Gramscis Hegemonietheorie an, die grob besagt: Wem es gelingt, die Begriffe zu besetzen, der kann Herrschaft ausüben. Aber ich bezweifle stark, dass es je so etwas wie eine grüne Hegemonie gab – auch wenn wir gerade viel über den Klimawandel und die ökologische Transformation sprechen. Ich glaube, Herr Rödder, Ihnen geht es um eine politische Agenda. Sie haben sich immer wieder gegen eine angebliche Öffnung nach links durch die Merkel-CDU gewehrt und gefordert, das Konservative müsse konservativer werden.

ZEIT: Könnte die Tatsache, dass wir so viel über den Klimawandel sprechen, ein Beleg für eine grüne Hegemonie sein?

Nassehi: Es gibt immer Konjunkturen von Herausforderungen. Themen wie Krieg und Frieden, Umweltschutz, Migration, Integration und Emanzipation sind Themen, anhand derer öffentliche Debatten ausgetragen werden. Aber ausschließlich grüne Themen, wie Herr Rödder behauptet, sind das nicht. Diese Phänomene betreffen alle politischen Lager, und sie haben das konservative Milieu viel stärker verändert als andere – und zwar von innen heraus. Die Gesellschaft hat in ihrer Breite Öffnung, Pluralisierung, Universalisierung gelernt. Und alle Untersuchungen sagen, dass wir damit besser zurechtkommen, als es aussieht. Herr Rödder verwechselt das bisweilen mit einem Kulturkampf, aber der wird in Wahrheit nur von wenigen Eliten geführt.

ZEIT: Herr Rödder, Sie gelten als konservativer Vordenker der Union. Sind Sie wirklich Teil eines Kulturkampfes?

Rödder: Wer ist das denn nicht? Herr Nassehi vermutet bei mir eine politische Agenda. Die Unterstellung gebe ich gern zurück. Die Themen Umwelt, Sexualität oder Migration sind im Umfeld der grünen Bewegung als emanzipatorische Themen entstanden. Als Homosexueller lebt man heute zweifellos viel emanzipierter als früher. Da sind Konservative mitgegangen, das kritisiere ich nicht. Ich kritisiere die ideologische Überspitzung.

ZEIT: Welche konkret?

Rödder: Ich erinnere daran, wie die Humboldt-Universität mit der Biologin Marie-Luise Vollbrecht umging, weil sie von zwei Geschlechtern sprach. Das Gesetz über sexuelle Selbstbestimmung für Minderjährige halte ich für extrem bedenklich. Ich war in der letzten Legislaturperiode Mitglied der Fachkommission zur Integrationsfähigkeit Deutschlands und habe da die Minderheitsmeinung vertreten, dass sich nicht alle Integrationsprobleme dadurch lösen, dass die Mehrheitsgesellschaft ihren Rassismus ablegt. Diese Kulturkämpfe finden momentan überall statt, viele Menschen nehmen das genauso wahr. Das kann man nicht als die überspitzte Wahrnehmung Konservativer abtun. Probleme zu leugnen, löst sie nicht.

Nassehi: Das sind Übersprungshandlungen eines akademischen Milieus, die zum Teil dazu führen, dass die realen Probleme nicht mehr wahrgenommen werden. Da stimme ich Ihnen zu. Aber die gesellschaftliche Praxis ist längst weiter, die Menschen leben heute viel selbstverständlicher und unaufgeregter plural. Ich bin der Letzte, der sagen würde, es gebe keine Integrationsprobleme. Trotzdem stelle ich fest, dass wir über Migration bisweilen auf geradezu neurotische Art sprechen. Deshalb war ich Friedrich Merz dankbar, dass sogar er nach der Vorstellung des Grundsatzprogramms sagte, wir seien ein erfolgreiches Einwanderungsland. Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie Probleme thematisieren, Herr Rödder. Aber Sie interessieren sich zu wenig für die Empirie!

ZEIT: Herr Rödder, Sie behaupten, über bestimmte Themen werde nun anders gesprochen und nachgedacht. Was kommt nach der von Ihnen diagnostizierten grünen Hegemonie?

Rödder: Das Pendel schlägt von links-grün nach rechts aus. Das Heizungsgesetz hat gezeigt, dass die Klimapolitik der Grünen an die Grenze der Zustimmungsfähigkeit geraten ist. Der Terror der Hamas am 7. Oktober hat unser Sprechen über Migration und Integration verändert und das Thema des importierten Antisemitismus auf die Agenda gesetzt. Robert Habeck hat sich in einem Video in einer Weise geäußert, die vor dem 7. Oktober als rechtsradikal gegolten hätte. Er hat den Aufenthaltsstatus mit einem bestimmten Verhalten verbunden.

Nassehi: Einspruch! Habeck hat gesagt, dass man über den Aufenthaltsstatus derer reden muss, die kriminell geworden sind, und bei Einbürgerungen strenger sein müsste. Ich bin mit vielem, was Habeck sagt, einverstanden, aber dass er von den deutschen Muslimen verlangt, sich von der Hamas zu distanzieren, ging mir zu weit. Die allermeisten führen hier seit Generationen ein unauffälliges Leben.

Rödder: Die entscheidende Frage ist: Führt diese Pendelbewegung zu mehr Zustimmung bei der demokratischen rechten Mitte, also der Union – oder landet das auf den Mühlen der AfD? Das ist offen.

ZEIT: Was sollte die Union Ihrer Meinung nach tun?

Rödder: Die Union muss die Themen der AfD aufgreifen, ohne ihr nach dem Mund zu reden. Deren Themen liegen zu lassen, hat die Partei erst so stark gemacht. Die aktuellen Probleme in der Energiepolitik zum Beispiel kommen doch daher, dass durch das grüne Paradigma viel zu einseitig in erneuerbare Energien investiert wird. Wir hätten auf jene hören sollen, die die Grünen dafür kritisiert haben!

Nassehi: Auch ich bin über die Zunahme des Antisemitismus erschrocken und entsetzt – über den bürgerlichen, den linken und gerade sehr deutlich den islamistischen. Nun müssen wir uns an Fragen heranwagen, die vorher vermieden wurden. Wenn man allerdings dreimal Abschiebung sagt, ist kein Problem gelöst. Der AfD semantisch entgegenzukommen, befriedet das Land nicht. Was die Energiepolitik angeht: Dass die CDU unter Merkel gemeinsam mit dem Koalitionspartner den Ausbau der Erneuerbaren verschleppt hat, ist doch ein weiterer Beweis dafür, dass es die grüne Hegemonie nie gab.

ZEIT: Aber in einem Punkt hat Herr Rödder recht: Schwarz-Grün ist vorbei?

Nassehi: Rein rechnerisch sowieso. Aber es wird etwas passieren, was in der Bundesrepublik nicht neu ist: Die Falschen müssen das Richtige machen. Helmut Kohl hat als konservativer Kanzler die meisten nationalen Souveränitäten an die supranationale Organisation der EU abgegeben, Gerhard Schröder hat Hartz IV eingeführt, und die CDU-Kanzlerin Merkel hat in der Flüchtlingskrise die Nerven behalten. Und so wird das Klimaschutzproblem wahrscheinlich nur unter Beteiligung von Mitte-rechts-Parteien gelöst werden können. Von mir aus auch ohne Grüne. Es spricht für unsere politische Kultur, dass dieses Switchen oft produktiv war. Deshalb irrt Herr Rödder, wenn er sagt, das Pendel gehe jetzt automatisch nach rechts.

Rödder: Diesen traditionellen Links-rechts-Mechanismus zwischen unions- und SPD-geführten Regierungen gibt es so nicht mehr. Das System fächert sich auf, rechts der Union repräsentiert die AfD einen signifikanten Teil der Wählerschaft. Und Horst Seehofer hat recht gehabt: Die Migration ist die Mutter aller Probleme. Jedenfalls ist sie die Mutter der Protestbewegungen in verschiedenen europäischen Ländern. Deshalb hat die Union eine Integrationsfunktion gegenüber jenen, die Sympathien für die AfD hegen. Und hier müssen dringend Reflexe in der öffentlichen Debatte abgebaut werden. Deshalb sehe ich die Gleichsetzung von „rechts“ und „rechtsextrem“ auf den Demonstrationen so kritisch. Immer mehr Menschen durch eine immer enger gezogene „Brandmauer“ auszugrenzen, verstärkt die politische Polarisierung im Land.

ZEIT: Sie sind über die „Remigrations“-Pläne eines Rechtsextremisten wie Martin Sellner nicht erschrocken?

Rödder: Was heißt denn Remigration? Mir ist völlig klar, dass das ein von der AfD gekaperter und vergifteter Begriff ist. Trotzdem sollten wir genau hinschauen und differenzieren. Wenn es um die Rückführung von Asylbewerbern geht, deren Asylantrag abgelehnt wurde, so ist das eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit und ihr Unterbleiben ein rechtsstaatliches Vollzugsdefizit. Wir sollten auch Doppelmoral vermeiden: Ist es wirklich ein kategorialer Unterschied, wenn Olaf Scholz über Abschiebungen „im großen Stil“ redet?

ZEIT: So argumentiert die AfD auch. Aber der Stein des Anstoßes war, dass nicht der Pass darüber entscheidet, wer Deutscher ist, sondern eine vermeintlich nicht ausreichende Integration.

Rödder: Richtig, und das ist der völlig inakzeptable Teil: unliebsame Menschen willkürlich und ohne Rücksicht auf Rechtsstaatlichkeit und Humanität zu entfernen. Lassen Sie mich aber eines ergänzen: Die blutigste Form solcher Remigration haben wir am 7. Oktober durch die Hamas erlebt. Dagegen haben in Deutschland leider viel, viel weniger Menschen demonstriert – oder sie haben gar mit From the river to the sea sympathisiert. Das ist die Devise einer antiisraelischen Remigrations-Ideologie. Und das meine ich mit Doppelmoral.

Nassehi: Das ist ein klassischer Fall von Whataboutism, sorry, Herr Rödder. Wir reden über Anti-AfD-Demos, und Sie kommen mit der Hamas. Dieser Terror darf nicht relativiert werden, von niemandem, von Linken ebenso wenig wie von Muslimen. Natürlich wurde auf dem Geheimtreffen nicht das offizielle Programm der AfD besprochen. Aber es verdeutlicht, in welchen Denkräumen und Vorfeldorganisationen sich die AfD bewegt. Es ist gut, dass das sichtbar wurde. Man sieht, was die AfD alles im Blick hat. Die Lösung von Integrationsproblemen gehört sicher nicht dazu.

Rödder: Es ist kein Whataboutismus, weil sich beides in der Realität auf deutschen Straßen verbindet. Und zur Integration: Ebendeshalb brauchen wir eine Leitkultur für die offene Gesellschaft. Bürgerliche Politik unterscheidet sich automatisch von der AfD, weil sie Verbindlichkeit fordert, aber für die offene Gesellschaft steht und den Erfolg der rechtmäßig hier lebenden Migranten wünscht. Ich möchte der CDU zurufen: Macht euch nicht ständig Gedanken, ob irgendjemand sagen könnte, dasklinge wie die AfD.

Nassehi: Die Leitkultur-Debatte war schon vor 25 Jahren langweilig.

Rödder: Ich bin noch heute dafür.

ZEIT: In den ostdeutschen Ländern wird sich möglicherweise im Herbst für die CDU die konkrete Frage stellen: Bildet man Koalitionen oder schließt Tolerierungsabkommen mit der AfD – oder mit der Linken?

Rödder: Es könnte dazu kommen, dass Parteien die Mehrheit der Stimmen erringen, zu denen die Union einen Unvereinbarkeitsbeschluss hat. Es kann alles auch ganz anders kommen. Aber die CDU ist aus meiner Sicht gut beraten, wenn sie sich rechtzeitig strategische Gedanken macht, wie sie mit einer solchen Situation umgeht.

Nassehi: Aus staatspolitischer Verantwortung bleibt wahrscheinlich nicht viel anderes übrig, als eine Koalition mit den Linken in Erwägung zu ziehen. Wenn die Union hier in den sauren Apfel beißt, kann sie davon sogar profitieren. Eine von der AfD tolerierte Minderheitsregierung würde die Bundes-CDU politisch nicht überleben.

Rödder: Und eine Koalition mit der Linkspartei würde sie auf Landesebene zerreißen und die Liberal-Konservativen generell entfremden. Das ist eine dilemmatische Situation für die Union.

Nassehi: Einigkeit im Dilemma – ob das eine Lösung ist?

 

Das Streitgespräch erschien erstmals am 8. Februar 2024 in der Wochenzeitung DIE ZEIT 7/2024.

Andreas Rödder

Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.

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