Zeitenwende als Mentalitätswende begreifen
Die Zeitenwende begann nicht am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland die Ukraine überfiel. Der Versuch der gewaltsamen Landnahme, der sich zu einem seit Monaten andauernden Vernichtungskrieg entwickelt hat, ist der vorläufige Höhepunkt einer harten Konfrontationsstrategie Russlands gegenüber dem Westen. Darin waren sich Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Bundeswehr-Universität in München, und Martin Wiesmann, Programmleiter und Beiratsvorsitzender der Denkfabrik R21, einig. Beide diskutierten im voll besetzten Salon Luitpold in München über „Die Welt aus den Fugen“.
Die Folgen des russischen Überfalls weisen weit über die Ukraine hinaus, bedrohen unmittelbar andere Nachbarstaaten. Dieser „Generalangriff auf die europäische Sicherheitsarchitektur“ (Martin Wiesmann) müsse auf der Seite des Westens umfassende Konsequenzen nach sich ziehen, Konsequenzen politischer, ökonomischer und militärischer Art. Die Zeitenwende, so Carlo Masala, „muss als Mentalitätswende begriffen werden“.
Die Auseinandersetzung mit Russland ist nach Ansicht der beiden Außenpolitik-Experten auf zwei Ebenen zu führen: Zum einen gilt es zu verhindern, dass der Versuch der gewaltsamen Grenzverschiebung gelingt; zum anderen ist dafür Sorge zu tragen, dass Russland seine imperialen Ambitionen nicht länger verfolgen kann, nie mehr zur Bedrohung für seine Nachbarstaaten wird.
Letzterem dienen die Sanktionen, wie Carlo Masala hervorhob: „Sanktionen werden den Krieg nicht beenden, aber sie sind geeignet, den russischen Staat in die Knie zu zwingen.“ Sanktionen brauchten Zeit, um zu wirken, müssten deshalb lange aufrechterhalten werden. Erste Folgen, insbesondere bei der Hochtechnologie, seien bereits erkennbar, hielt der Münchner Politikprofessor Zweiflern am Erfolg der Maßnahmen entgegen.
Martin Wiesmann, der sich bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) mit Geoökonomie befasst, sieht Russland „im besten Falle auf dem Weg in die relative Autarkie bei absoluter Rückständigkeit“. Die künftige Rolle des Landes sei die eines „Juniorpartners Chinas“. Beide Staaten bildeten längst eine „umfassende Allianz“ (Masala), allerdings als reines Zweckbündnis von Ungleichen: Hier das aufstrebende, gestaltende China, dort das absteigende, nur noch zerstörerisch-destruktive Russland.
Deutliche Worte fanden die Diskussionspartner zu den Versäumnissen der Vergangenheit: Nicht genug, dass westliche Staaten, Deutschland allen voran, die wahren Absichten Moskaus nicht haben erkennen wollen, über die Risiken der ökonomischen Verflechtungen sei ebenfalls lange hinweggesehen worden. „Auch die Gaskrise begann nicht am 24. Februar“, machte Martin Wiesmann klar. Spätestens 2020 habe es Verschlechterungen, schon 2021 deutliche Preissprünge gegeben, ohne dass die deutsche Energiepolitik angemessen regiert hätte.
Dem schloss sich Carlo Masala mit der Warnung an, im Umgang mit China „nicht in die gleiche Falle zu tappen“. Neben der ökonomischen Entkoppelung vom „Reich der Mitte“ müsse sich der deutsche und europäische Diskurs ändern. Denn China sei ein „in Asien extrem aggressiv auftretender Staat mit hegemonialen-imperialen Ambitionen“.
Wer soll künftig eine Weltordnung gestalten, die ein regelbasiertes Mit- und Nebeneinander gewährleistet? Martin Wiesmann blickte auf zwei extreme Szenarien: G 2, also eine bipolare Welt, dominiert von der Systemkonkurrenz der USA und Chinas, und G 0, ein Modell, das von einem Machtverfall selbst dieser beiden Großmächte ausgeht. Um beides zu vermeiden, empfahl Wiesmann, ein bewährtes Format weiterzuentwickeln: G 7 plus – die führenden Industriestaaten des Westens als gestaltende Gruppe, die sich weitere Partner sucht und gemeinsam handelt.