Pilotin ohne Richtung
Von Andreas Rödder
Der Text wurde erstmals am 30. November 2024 in der „NZZ“ veröffentlicht.
«Freiheit» lautet der Titel von Angela Merkels Erinnerungsbuch. Von Freiheit ist wenig die Rede. Putins Machtanspruch will sie früh erkannt haben. Konsequenzen hatte dies allerdings keine.
Was für eine Karriere: Im Alter von 36 Jahren stösst eine Frau aus der DDR ohne Hausmacht und Netzwerke zu den westdeutsch und männerdominierten Christlichdemokraten. Innerhalb von zehn Jahren kämpft sie sich an die Spitze der Partei und binnen weiterer fünf an die Regierungsspitze des Landes. Dort hält sie sich mit der längsten Amtszeit nach Helmut Kohl und wird am Ende international als Lichtgestalt der freien Welt verehrt.
Es waren vor allem eitle Männer, von Gerhard Schröder über Silvio Berlusconi und Wladimir Putin bis zu Donald Trump, von denen sich Angela Merkel als unaufgeregte und unprätentiöse Persönlichkeit absetzte – und von denen sie immer wieder unterschätzt wurde. Ihr Satz «Sie kennen mich» gehörte zu diesem Setting. Aber wer kannte sie wirklich? Sich nicht in die Karten schauen lassen war Teil von Merkels politischer Persönlichkeit nach der Devise Deng Xiaopings: «Verberge deine Stärke und warte auf deine Zeit.»
Anders als Helmut Kohl unternahm Merkel während ihrer Kanzlerschaft keine geschichtspolitischen Aktivitäten in eigener Sache. Jetzt aber veröffentlicht sie ihre Memoiren, zwischen deren Erscheinen und ihren Inhalten die «Zeitenwende» liegt. Einer zunehmend kritischen Sicht auf ihre Regierungszeit stellt Merkel ihre Geschichte entgegen, wie man sie kennt: authentisch, ohne Selbstkritik, und die persönliche Mitte bleibt eigentümlich leer. Ist hinter der Fassade etwas, das sie auch hier verbirgt? Zumindest gilt das wohl für die politische Person Angela Merkel: Dahinter ist nichts.
Das gilt auch für die Quellengrundlage: Interne Dokumente wie Aktenvermerke oder Gesprächsmitschriften sucht man vergebens, zitiert werden allein offizielle Protokolle öffentlicher Reden. Der historische Quellenwert liegt in Merkels Selbstdeutung, die offenkundig sehr nahe an ihrer zeitgenössischen Wahrnehmung liegt. Das ist eine wichtige Perspektive, darüber hinaus eröffnet sie aber nichts wirklich Neues.
Hegemonie des grünen Denkens
Von jeder Kanzlerschaft bleiben wenige Dinge: Westbindung und Soziale Marktwirtschaft im Falle Konrad Adenauers, Willy Brandts Ostpolitik und gesellschaftspolitische Reformen, deutsche Wiedervereinigung und Europäische Union bei Helmut Kohl. Im Falle Merkels sind es vier Dinge, wobei sich die historischen Prioritäten noch nicht final sortiert haben: Atomausstieg und Energiewende, die Russlandpolitik, die Migrationspolitik und der Aufstieg der AfD.
Nach dem Reaktorunglück von Fukushima 2011 realisierte Merkel, wie sie schreibt, einen breiten gesellschaftlichen Konsens gegen die Kernenergie. Das war der entscheidende Grund für die Revision des Beschlusses zur Verlängerung der Restlaufzeit der Kernkraftwerke, den ihre Regierung kurz vorher getroffen hatte. Zugleich war diese Politik Teil der «grossen Transformation» hin zur postfossilen Gesellschaft, für die der «Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen» 2011 einen hochambitionierten «Gesellschaftsvertrag» vorlegte.
Er verkörperte und beförderte die politisch-kulturelle Hegemonie eines grünen Denkens, die nach der Weltfinanzkrise von 2008 das neoliberale Paradigma ablöste und vor allem auf den Feldern Migration und Diversität, Klima und Energie die politisch-diskursiven Standards setzte. Alles elektrisch, nur Erneuerbare und keine Kernenergie – diese Trias funktionierte allerdings nicht, sondern führte zu politischen Planvorgaben, die an die DDR erinnerten.
Steigende Energiepreise und die Krise der deutschen Automobilindustrie lassen inzwischen manifeste Züge einer Deindustrialisierung der deutschen Wirtschaft erkennen. Und wie Herfried Münkler herausgestellt hat, untergrub der politisch vorgegebene Umbau der deutschen Wirtschaft die europäische Sicherheitsarchitektur, indem er die Energieversorgung in die Abhängigkeit von Russland führte.
Das Problem Putin
Merkel setzt sich in ihren Memoiren ausgiebig mit Wladimir Putin auseinander, den sie in seinen imperialen Ambitionen früh erkannt habe. Was aber waren die Konsequenzen? Ausführlich berichtet Merkel über den Bukarester Nato-Gipfel 2008 und den Konflikt zwischen den USA und den Osteuropäern mit Frankreich und Deutschland über einen Nato-Beitritt der Ukraine.
Beide Seiten hatten Gründe: die USA die gefährliche Grauzone, in der sich die Ukraine befand, und deren Recht auf freie Bündniswahl. Merkel hielt dem entgegen, dass die Ukraine die Beitrittskriterien nicht erfülle und ein Beitritt Putin gefährlich provoziere. Das Ergebnis war ein fataler Kompromiss: der Ukraine die Mitgliedschaft zu versprechen, aber keinen Schritt dahin zu vereinbaren.
Dies war das Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses jenseits persönlicher «Schuld». Schuld ist tatsächlich keine hilfreiche Kategorie, und Merkel weist sie entschieden von sich. Wie man dem ukrainischen Dilemma wirksam hätte begegnen können, bleibt freilich vage. Die Ukraine «näher an die Europäische Union heranzuführen», wie Merkel schreibt, wurde mit dem EU-Assoziationsabkommen 2013 zum Auslöser für die russische Aggression von 2014. Dazu schildert sie detailliert und eindringlich die konkreten Verhandlungen über das Minsker Abkommen, weit weg davon hingegen wenig zum alsbaldigen Bruch der Vereinbarung und nichts zu strategischen Fragen.
Merkel ist und war stets gut darin, zu erklären, was nicht geht – nicht aber, was geht oder sein muss. Ihre Perspektive richtete sich immer auf kurzfristige Machbarkeit statt langfristige Konsequenzen und den grösseren Zusammenhang. In dieser Perspektive markierte das Jahr 2008 die erste Zäsur hin zu einem disruptiven Zeitalter. Robert Kagan diagnostizierte Russlands militärisches Vorgehen gegenüber Georgien als die Rückkehr gewaltsamer Grossmachtpolitik, als die deutsche Politik an die Modernisierungspartnerschaft glaubte.
«Wir schaffen das»
Die zweite Zäsur im Jahr 2015 benennt Merkel selbst, setzt sie aber falsch: Entscheidend war nicht die humanitäre Geste des 4. September, sondern der 13. September mit dem Verzicht auf Zurückweisungen an der deutschen Grenze. Merkel erzählt das schon damals umstrittenste Kapitel ihrer Politik in kleinen Geschichten. Zum Beispiel wie ihr berühmter Satz «Wir schaffen das» aus einem Gespräch mit ihrer Vertrauten, der Büroleiterin und Co-Autorin Beate Baumann, entstand. Er war das deutsche «Yes, we can» – das Problem war nur der Kontext: Wer ist «wir», was heisst «schaffen», und was ist «das»?
Merkel ist noch immer erkennbar bewegt von der Willkommenskultur, während sie Pull-Faktoren kleinredet, wenn sie schreibt, ihre Selfies mit Migranten hätten Menschen nicht scharenweise zur Flucht aus ihrer Heimat bewogen. Auch wenn sie immer wieder Attribute wie «gerecht» und «solidarisch» für sich in Anspruch nimmt, wird das Verdikt des Politikwissenschafters Hans Peter Schwarz nicht entkräftet: «Nie zuvor in den 65 Jahren bundesdeutscher Geschichte hat eine Bundesregierung ein derartiges Chaos verschuldet und seine Fortsetzung wie gelähmt toleriert, bis die Sperrung der Balkanroute durch eine Koalition der Willigen unter Führung Österreichs im März 2016 dem Kontrollverlust ein Ende machte.»
Mit weitreichenden Folgen einer Überlastung von Kommunen und Sozialsystemen, dem Bildungswesen und der inneren Sicherheit schaffte Deutschland «das» nicht. Dauerhafte ungeregelte Migration erwies sich als «Mutter aller Probleme» (Horst Seehofer) und trug zu jener «Vergiftung der gesellschaftlichen Atmosphäre» bei, die Merkel in der Frage der Kernenergie hatte vermeiden wollen. Sie manifestierte sich vor allem im Aufstieg der Alternative für Deutschland, die ihre Gegnerschaft zu Merkel und ihrem Anspruch der «Alternativlosigkeit» schon im Namen führte.
Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen lieferte Merkel die Vorlage für das Konzept der «AfD als Chance für die Union»: Wenn diese neue Wähler im Reservoir von SPD und Grünen erschlösse, überwöge das die Verluste in der rechten Mitte. Diese rein quantitative Argumentation mit Wählerpotenzialen eröffnete freilich eine inhaltliche Repräsentationslücke, die für jede auf Repräsentation beruhende Demokratie ein Problem darstellt. Sie ermöglichte den Aufstieg der AfD, der die CDU in ein strategisches Dilemma der Mehrheitsbildung führte und inzwischen das parlamentarische System zu blockieren droht.
Und die Freiheit?
Und wie steht es schliesslich mit der Freiheit, die das Buch im Titel führt? Ein kurzer Epilog kommt darauf zu sprechen, belässt es allerdings bei persönlichen Bemerkungen. Dabei hätte es durchaus Anlass zur Reflexion gegeben: «Vielleicht habe ich ein autoritäres Verhalten in mir», sagte sie 1991 in einem Interview. Und am Ende gab ihre Pandemiepolitik der Alternativlosigkeit des Exekutierten einmal mehr den Vorrang vor dem Wettbewerb der Ideen. Dieser aber ist das Geheimnis der freiheitlichen Demokratie mit ihrer Bereitschaft zur Selbstkritik und der Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Auch hier: Die «Freiheit» bleibt Fassade, dahinter ist nichts zu erkennen.
Was bleibt? Das herausragende Kennzeichen ihrer Kanzlerschaft war die Moderation des Bestehenden unter Verzicht auf Strategie und Führung in disruptiven Zeiten, wie sie 2008 begannen. Angela Merkel war eine virtuose Mechanikerin der Macht, die sich an Machbarkeit und Mehrheit orientierte. Denn auch das gehört dazu: «Merkelismus» wurde zum Breitensport, vom öffentlichrechtlichen Rundfunk über Kirchen und Wissenschaften bis zu Führungskräften der Wirtschaft, wenn auch mit wachsenden Abbrüchen und Spannungen im System – was freilich für viele westliche Gesellschaften galt.
Wie auch die Memoiren offenbaren, waren weder Energiewende noch Russlandpolitik, weder Migrationspolitik noch AfD-Strategie vom Ende her gedacht. Der Sozialdemokrat Peter Struck hat einmal gesagt, Merkel sei eine gute Pilotin, der man sich bedenkenlos anvertrauen könne, wenn einem egal sei, wo man lande. Darüber ging das Land allerdings in einen Sinkflug über. Als der Co-Pilot das Steuer übernahm, verkündete er die «Zeitenwende». Die Notwendigkeit der Schubumkehr blieb das Vermächtnis der Ära Merkel.