Auf der R21-Konferenz am 11. November in Berlin sprach Norbert F. Tofall über den Liberalismus und seine Feinde. Liberalismus sei ein „gesellschaftliches Befriedungsprogramm“, so der Senior Research Analyst des Flossbach von Storch Research Institute in seinem Vortrag, „weil die Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Herrschaft des Rechts zu ersetzen ist.“
Der Vortrag von Norbert F. Tofall im Wortlaut:
Von jeher war es das Ziel des Liberalismus, die Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Herrschaft des Rechts zu ersetzen. Und nach Immanuel Kant ist das „angeborne Recht des Menschen … nur ein einziges: Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“
Das Recht ist nach Kant deshalb der Inbegriff der Bedingungen, unter denen der Wille des einen Menschen mit dem Willen des anderen Menschen unter einem allgemeinen Gesetz der Freiheit nebeneinander bestehen kann. Auf Recht gegründete Gesellschaften dürfen ihre Mitglieder deshalb nicht auf gemeinsame spezifische Ziele verpflichten, sondern nur auf die Einhaltung von Regeln, welche das friedliche Nebeneinander vielfältiger individueller Handlungen ermöglichen, die auf vielfältigen individuellen und sich gegenseitig widersprechenden Zielen beruhen können.
Der Staat hat zwar die Befugnis zur Anwendung von Zwang, um eine Verfassung von der größten Freiheit zwischen Menschen zu errichten und zu sichern. Der Staat darf jedoch keine Glücks- und Wohlfahrtsvorstellungen per Gesetz – und das heißt per Zwang – durchsetzen oder fördern. Der Staat hat lediglich dafür zu sorgen, daß die Glücks- und Wohlfahrtsvorstellungen der Menschen, also ihre individuellen Ziele, nebeneinander bestehen können. Kein Mensch, keine Gruppe, keine noch so demokratisch gewählte Mehrheit und auch kein Staat haben das Recht, Menschen zu zwingen, auf eine bestimmte Art und Weise glücklich zu sein. Jeder Mensch hat das Recht, auf seine Art nach Glück zu streben. Das heißt, daß der Staat auch nicht das Recht hat, die Gesellschaft auf bestimmte Förderziele zu verpflichten.
Erst durch den Verzicht auf vorgegebene gemeinsame spezifische Ziele kann eine offene Gesellschaft freier Menschen entstehen, in der die verschiedenen Mitglieder von den Tätigkeiten aller anderen nicht nur trotz, sondern sogar aufgrund der Verschiedenheit ihrer jeweiligen Ziele profitieren.
Eine offene Gesellschaft beruht deshalb auf fünf Säulen:
- dem angeborenen Recht des Menschen im Sinne von Immanuel Kant oder kurz: die individuelle Freiheit,
- die Herrschaft des Rechts,
- die Ablehnung der Allein- und Fremdherrschaft,
- die Begrenzung und Kontrolle staatlicher Macht – also die politische Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative – und
- die gesellschaftliche Gewaltenteilung zwischen Staat, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft, Familie usw., die auch als gesellschaftliche Arbeits- und Machtteilung bezeichnet wird; die Soziologen reden von der „funktionalen Ausdifferenzierung“ der modernen Gesellschaft.
Die meisten Angriffe – sei es von Links oder von Rechts – auf den Liberalismus, auf die liberale und offene Gesellschaft und damit auf Globalisierung und Kapitalismus setzen in der Regel nicht an den ersten vier Säulen an. Die meisten Angriffe auf den Liberalismus setzen an der fünften Säule an, also bei der gesellschaftlichen Gewaltenteilung zwischen Staat, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft, Familie usw. Und das ist kein Zufall! Denn in der Entwicklung der liberalen und offenen Gesellschaft kommt der gesellschaftlichen Gewaltenteilung von jeher eine besondere Bedeutung zu.
Unter gesellschaftlicher Gewaltenteilung oder funktionaler Ausdifferenzierung wird die Entstehung von gesellschaftlichen Teilsystemen wie Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Medien, Religion, Kunst etc. verstanden, die auch als Funktionssysteme bezeichnet werden, weil sie für die Gesamtgesellschaft jeweils – und in gewissem Ausmaß selbststeuernd – unterschiedliche Funktionen erfüllen.
Diese gesellschaftliche Arbeits- und Machtteilung in Teilsysteme bedeutet jedoch nicht, daß keine Interdependenzen zwischen den Teilsystemen bestehen. Sollte die Politik der Wissenschaft die Kriterien vorschreiben, nach denen die Wissenschaft vorzugehen hat, dann kann die Wissenschaft ihre wissenschaftliche Funktion für die Gesamtgesellschaft nicht erfüllen. Sollte die Politik der Wissenschaft vorschreiben, was wissenschaftlicher Fortschritt ist, dann wird die Wissenschaft nur sehr selten Innovationen hervorbringen.
Das Gleiche gilt, wenn die Politik der Wirtschaft Vorschriften macht, die der Handlungslogik der Wirtschaft widersprechen. Die Wirtschaft kann dann keinen Wohlstand für alle erzeugen. Umgekehrt führt eine Übertragung von wirtschaftlicher Handlungslogik in die Politik zur Korruption der politischen Entscheidungsträger. Die Politik erfüllt dann nicht ihre Funktion für die Gesamtgesellschaft, allgemeine und abstrakte Regeln durchzusetzen. Und besonders problematisch ist, wenn wirtschaftliche Handlungslogik im Rechtssystem verankert wird. Denn wenn die Frage, was Recht ist, zur Frage wird, wer wieviel zahlt, dann gewinnt der zahlungskräftige Dieb vor Gericht und der mittellose Bestohlene kommt nicht zu seinem Recht.
Die von Walter Eucken betonte „Interdependenz der Wirtschaftsordnung mit allen übrigen Lebensordnungen“ bedeutet deshalb nicht, daß alle übrigen Lebensordnungen die Handlungslogik der Wirtschaft annehmen sollen. Die übrigen Lebensordnungen oder funktionalen Teilsysteme können ihre Leistung für die Gesamtordnung (und damit auch für das Wirtschaftssystem) nur erbringen, wenn sie ihre eigene Handlungslogik bewahren. Gerade in der Bewahrung der eigenen Handlungslogik der gesellschaftlichen Teilsysteme besteht die gesellschaftliche Arbeits- und Machtteilung in offenen Gesellschaften, die in beispielloser Weise Freiheit und Wohlstand für alle ermöglicht hat.
Meine Damen, meine Herren,
die Angriffe von Links und von Rechts auf Liberalismus, Globalisierung und Kapitalismus haben alle die Gleichschaltung von Politik und Wirtschaft wie von Politik und Wissenschaft, Medien, Religion, Kunst, Familie im Fokus.
Den integristischen und identitären Bewegungen von Rechts und Links geht es mutatis mudandis um die Gleichschaltung der ausdifferenzierten Gesellschaft mittels Finalisierung, das heißt um die Re-Integration der ausdifferenzierten Gesellschaft durch Vorgabe und Durchsetzung verbindlicher spezifischer Ziele.
Um die heutigen Entwicklungen in den westlichen Gesellschaften besser fassen zu können, ist der Angriff von Links auf Liberalismus, Globalisierung und Kapitalismus vom Angriff von Rechts der letzten Jahre zu unterscheiden.
Der seit den 1950er Jahren in den westlichen Gesellschaften zu beobachtende Angriff von Links auf Liberalismus, Globalisierung und Kapitalismus und das heißt auf bürgerlich liberale Institutionen hatte die von Wolfgang Abendroth ausgerufene „Transformation des liberalen Rechtsstaats in den Sozialstaat“ zum Ziel.
Dieser Angriff war aus zwei Gründen nachhaltig erfolgreich: Erstens konnte er mit den in dieser Zeit noch bestehenden obrigkeitsstaatlichen und paternalistischen Gesellschaftsstrukturen gut begründet werden. Zweitens bediente er die überall und zu jeder Zeit zu beobachtende Sehnsucht nach Sicherheit durch staatliche Vormundschaft.
So gelang es, den liberalen Begriff Zivilgesellschaft in sein genaues Gegenteil zu verkehren und so alle gesellschaftlichen Teilbereiche mehr oder weniger unter ein integrierendes Gesellschaftsprogramm zu stellen.
In der liberalen Tradition von Adam Ferguson, Adam Smith, Immanuel Kant, Alexis de Tocqueville, Lord Acton, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und anderen wird die individuelle Freiheit jedes Menschen durch Institutionen wie Privateigentum, Vertragsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit und Gewerbefreiheit, aber auch durch die Autonomie der Familie sowie Religions- und Gewissensfreiheit vor der Herrschaft durch andere Menschen geschützt. Im Prozeß der Transformation des liberalen Rechtsstaats in den Sozialstaat wurden diese Institutionen der Zivilgesellschaft hingegen als nicht legitimierte Herrschaftsformen des Spätkapitalismus umgewertet. Die Kurzformen dieser erfolgreichen Angriffe lauten: Eigentum ist Diebstahl, Familie ist ein Unterdrückungsapparat und Religion ist das Opium des Volkes.
Diesen Angriffen von Links hat sich spätestens seit der Finanzkrise von 2007/2008 in allen westlichen Gesellschaften ein Angriff von Rechts hinzugesellt. Es ist zwar zwischen einem gemäßigten und einem radikalen Angriff von Rechts zu unterscheiden, beide gewinnen in den letzten Jahren jedoch eine besondere Dynamik.
Der gemäßigte Angriff von Rechts ist im Grunde eine nationalkonservative Variante des gegenwärtig bestehenden ökologisch-sozialen Shared Mental Model. Der Primat von Staat und Politik soll zur integrierenden Finalisierung der Gesellschaft genutzt werden, allerdings zur Integration im Sinne der eigenen Werte und Ziele. In der Kurzform läßt sich das parallel zum Angriff von links auf Eigentum, Familie und Religion skizzieren:
Den Bewertungen „Eigentum ist Diebstahl“, „Familie ist ein Unterdrückungsapparat“ und „Religion ist das Opium des Volkes“ wird eben nicht die „Freiheit des Eigentums, auch international“, die „Autonomie der Familie“ und die „Religions- und Gewissensfreiheit“ entgegengehalten.
Stattdessen wird der Schutz des nationalen Eigentums gefordert, weshalb man sich gegen Investitionsschutzabkommen und internationale Schiedsgerichte wendet;
die Familie wird als der eigene identitätsbildende konservative Lebensstil definiert und wird so zum Kulturkampfinstrument, weshalb man gegen Minderheiten und gleichgeschlechtliche Lebensformen polemisiert;
und die Religion ist entsprechend der eigene identitätsbildende christliche Glaube oder oftmals Unglaube, weshalb der Islam – oder genauer: die Muslime -nicht zu Deutschland gehören würden.
Oder noch kürzer: Während sich der Angriff von Links als Kulturkampf des „internationalen Sozialstaatsdenkens und gesellschaftlichen Konstruktivismus“ beschreiben läßt, kann der heutige Angriff von Rechts als Kulturkampf des „nationalen Sozialstaatsdenkens und gesellschaftlichen Konstruktivismus“ bezeichnet werden.
Dieser Angriff von Rechts verfängt deshalb in den letzten Jahren, weil er einerseits als Lebensstil-Opposition und Aufbau von Gegen-Macht gegen den oft subversiven und schleichenden Angriff von Links wahrgenommen wird. Dieser Angriff von Rechts verfängt andererseits aber auch, weil er auf die gleichen wohlfahrtsstaatlichen Prozesse zur Herrschaftssicherung bzw. -erlangung setzt wie der linke Angriff der letzten Jahrzehnte: Den Menschen wird die Entlastung von den Folgen der offenen Gesellschaft versprochen. Heute bedeutet das die Entlastung von den Folgen von Globalisierung und Kapitalismus. Die angepriesenen Mittel zur Erreichung dieser Entlastung bestehen in der Re-Integration der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und der Re-Nationalisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Von hier aus ist der Übergang zu radikalen Angriffen von Rechts auf Liberalismus, Globalisierung und Kapitalismus fließend. Diese radikalen Angriffe gibt es zwar seit Jahrzehnten. Sie gewinnen aber erst in den letzten Jahren im Gewand kultureller Gegenbewegungen an Zulauf.
Ziel dieser Angriffe ist nicht die Parteipolitik, sondern die Veränderung der politisch-kulturellen gesellschaftlichen Situation. Es handelt sich um einen Kulturkampf gegen das „System“, der von seinen Antreibern als Metapolitik bezeichnet wird. So beruft sich die „Identitäre Bewegung“ auf eine angebliche „Identitäre Generation“, welche bereits 2016 auf ihrer Homepage schrieb:
„Das 21. Jahrhundert steht ganz im Zeichen der Globalisierung und der herrschenden Ideologie des Liberalismus. Unsere Zeit ist geprägt von der Ausbreitung der Märkte, der Auflösung der Nationalstaaten, der Vereinheitlichung und Verwestlichung der gesamten Welt (unter dem Deckmantel von „Demokratie“ und „Menschenrechten“) … Die fortschreitende Auflösung der Grenzen, der Traditionen, der Völker und Kulturen unter dem Banner des Liberalismus und des „Fortschritts“ führt so auch zu einer Infragestellung der eigenen Identität.“
Mit ausdrücklichem Bezug auf den französischen Publizisten und Vordenker der „Neuen Rechten“ Alain de Benoist wird die Identitätsfrage durch das Konzept des Ethnopluralismus beantwortet. Ethnopluralisten wollen nicht andere Kulturen vernichten, sondern diese erhalten. Jede Kultur erhalte ihre identitätsbildende Eigenart aber nur, wenn sich die Kulturen nicht vermischen würden. Die Identität der einzelnen Menschen werde maßgeblich durch die Kollektive ethnischer, religiöser und kultureller Prägung erzeugt. Da jede individuelle Tätigkeit eine Teilnahme am Leben eines Volkes und einer Kultur darstelle, komme dem Interesse des einzelnen Menschen an sich keine Wertschätzung zu.
Deshalb lehnt Benoist sowohl den Liberalismus als auch das „Judäo-Christentum“ und damit die Menschenrechte (Kants angeborenes Recht des Menschen) als universalistisch ab. Diese hätten die ursprüngliche europäische Kultur und Religion zerstört, worunter er die polytheistische, indogermanische Urreligion versteht.
Für Benoist ist die Globalisierung die Folge des Liberalismus. Die globale Entfesselung des Kapitals ziele auf die Zerstörung der Völker und Kulturen der Welt.
Anti-Globalisierung, Anti-Kapitalismus und Anti-Universalismus gehören im identitären Denken zusammen. In seinem Buch „Kritik der Menschenrechte. Warum Universalismus und Globalisierung die Freiheit bedrohen“ schreibt Benoist: „In Verbindung mit der Expansion der Märkte dient die Rhetorik der Menschenrechte als ideologische Verkleidung der Globalisierung.“
Mit „Rhetorik der Menschenrechte“ ist das angeborene Recht im Sinne von Immanuel Kant und der universalistische oder katholische (=allumfassende) Anspruch des christlichen Menschenbildes gemeint, der sich im Naturrecht ausdrückt.
Trotz Alain de Benoists eindeutiger und aus seiner Sicht konsequenter Ablehnung des Christentums spielt das Christentum als kultureller Faktor in vielen Angriffen von rechten Identitären eine Rolle. Kulturkämpfer wie das inzwischen offiziell aufgelöste Institut für Staatspolitik in Schnellroda und der offiziell aufgelöste Flügel der AfD (also Kubitschek und Höcke usw.) verfolgen eine metapolitische Strategie der Bildung einer breiten Koalition für einen Kulturkampf gegen das System.
Zu diesem Zweck werden systematisch Personen identifiziert und beworben, die auf ihre Seite kippen könnten und deshalb als Kippfiguren bezeichnet werden. Prinzipiell kommen alle Personen und Personengruppen in Betracht, die sich vom linken Kulturkampf gegen Eigentum, Familie und Religion angegriffen fühlen und so eben auch Christen und das Christentum. Da jedoch Personen, welche die Freiheit des Eigentums verteidigen oftmals für die Freiheit der Märkte und für die Globalisierung sind, kippen diese Personen nicht so leicht auf die identitäre Seite. Die Erfolgsaussichten für die Gewinnung von Kippfiguren sind bei Themen wie Familie und vor allem dem Christentum bedeutend größer.
Inhaltlich ergibt sich eine derartige metapolitische Strategie bereits aus den Schriften des italienischen Kulturphilosophen und Rassentheoretikers Julius Evola. Während Evola 1928 sein extrem antijüdisches und antichristliches Buch „Heidnischer Imperialismus“ vorgelegt hat, schreibt er in seinem Buch „Grundrisse der faschistischen Rassenlehre“ von 1941:
„Es gilt zu wiederholen, daß es sich prinzipiell nicht darum handeln würde, das Christentum abzulehnen oder etwa ihm gegenüber dieselbe Verständnislosigkeit zu beweisen, die dieses seinerseits dem alten „Heidentum“ gegenüber bewiesen hat und auch heute noch in großem Maße beweist. Es würde sich hingegen eventuell darum handeln, das Christentum durch ein höheres und älteres Erbgut zu vervollständigen, einige seiner Aspekte auszuschalten, die sich schwerlich mit dem Geiste der heutigen erneuernden Kräfte vertragen würden, hingegen andere wesenhaftere Aspekte zu betonen, nach welchen dieser Glaube nicht unbedingt den allgemeinen Auffassungen der arischen, vorchristlichen Geistigkeit widerstrebt.“
Daß es diese Metapolitik heute bis in die aktuelle Parteipolitik der westlichen Gesellschaften geschafft hat, muß mit Blick auf die USA und die tobenden Kulturkämpfe in Europa nicht eigens ausgeführt werden.
Betont werden muß aber, daß das Christentum seine universalistische Lehre von jeher durch Transkulturation verbreitet hat und nicht durch kulturelle Verengung. Integristen und Identitäre wie der irischstämmige Katholik Steve Bannon oder US-Vize-Präsident JD Vance beurteilen hingegen die Einstellung der Kirche zur Migration nicht anhand der universalistischen christlichen Lehre, dem Naturrecht oder den Menschenrechten oder anhand Kants angeborenem Recht des Menschen, sondern anhand kulturell-identitärer Vorstellungen. Der universalistische Anspruch des Rechts, das angeborene Recht des Menschen, wird deshalb von diesen Kulturkämpfern durch kulturalistische und nationalistische Vorstellungen bekämpft und angegriffen.
Im Kampf gegen Liberalismus, Globalisierung und Kapitalismus schreckt man also letztlich nicht einmal mehr vor einem Missbrauch des Christentums zurück.
Meine Damen, meine Herren,
derartige Situationen sind in der Geschichte der westlichen Gesellschaften nicht neu. In der frühen Neuzeit hatten Religionsstreitigkeiten – heute würden wir sagen Kulturkämpfe und Polarisierung – nicht zum Heil geführt, sondern zu Gewalt und Tod: „Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein!“
Für das Überleben Europas und den Aufstieg des Westens war es entscheidend, diese Vernichtungslogik zu durchbrechen und dadurch friedliche Kooperationsmöglichkeiten über Religionsgrenzen hinweg und über andere Fragen des guten Lebens hinaus zu schaffen. Das wird durch allgemeine und abstrakte Regeln im Sinne von Friedrich August von Hayek und Immanuel Kant ermöglicht und durch das Nebeneinanderbestehenkönnen der Interessen und Vorstellungen des einen mit den Interessen und Vorstellungen des anderen. Nicht dadurch, daß die gesamte Gesellschaft auf die eigenen Ziele verpflichtet wird. Liberalismus ist deshalb ein gesellschaftliches Befriedungsprogramm und ein Mittel zur Überwindung von Polarisierung.
Das Problem der heutigen polarisierten und durch Kulturkämpfe sich aufreibenden westlichen Gesellschaften besteht darin, daß die Politik oftmals nicht einmal mehr den Versuch unternimmt, allgemeine und abstrakte Regeln zu suchen, um so das Nebeneinanderbestehen der unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen zu ermöglichen, sondern Gruppeninteressen oder die eigenen gesellschaftlichen Zielvorstellungen mittels gesetzlichen Zwangs durchsetzt. Dadurch werden gesellschaftliche Konflikte nicht minimiert, sondern fast schon maximiert. Es wird nicht einmal mehr zwischen Fragen unterschieden, die für alle verbindlich entschieden werden müssen, und Fragen, die gerade nicht für alle verbindlich entschieden werden müssen. Sowohl demokratische Entscheidungsverfahren als auch wirtschaftliches Handeln werden so ihrer gesellschaftlichen Befriedungsfunktion beraubt.
Und genau an dieser Stelle setzen die Feinde des Liberalismus von Links und Rechts an. Und gerade deshalb muß an genau dieser Stelle der Wiederaufbau des politisch organisierten Liberalismus ansetzen. Liberalismus ist ein gesellschaftliches Befriedungsprogramm, weil die Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Herrschaft des Rechts zu ersetzen ist. Das ist eine immerwährende Aufgabe. Und deshalb ist der Liberalismus notwendiger denn je.





