von Russell Berman, Friedrich Breyer, Martin Hagen, Norbert Holtkamp, Peter Michael Huber, Ahmad Mansour, Johannes Marten, Natalie Mekelburger, Harald Mosler, Bernd Raffelhüschen, Wolfgang Reitzle, Andreas Rödder, Frauke Rostalski, Kristina Schröder, Susanne Schröter, Sven Simon, Bernd Stegemann, Daniel Stelter, Linda Teuteberg, Winfried Veil, Knut Walter und Martin Wiesmann
Ein Gespenst geht um in Europa: Das Gespenst des Verlustes von Wohlstand und Sicherheit. Das Gespenst des Abstiegs.
Die neue deutsche Regierung hat mit ihrem Sofortprogramm vom 28. Mai 2025 Maßnahmen zur „umfassenden Erneuerung unseres Landes“ beschlossen. Darunter ist vieles Richtige, das hoffentlich positive Effekte erzeugt. Die Probleme aber reichen tiefer. Nachhaltige Therapien setzen grundlegende Diagnosen voraus.
I. Die Krise des Modells Deutschland
Das „Modell Deutschland“, das sich jahrzehntelang durch wirtschaftliche Leistungskraft, sozialen Frieden und innere Reformfähigkeit auszeichnete, ist in der Krise. Der Staat erfüllt seine Aufgaben unzureichend, nicht nur in Migrationsfragen. Die Unpünktlichkeit der Bahn offenbart die mangelnde Funktionsfähigkeit öffentlicher Infrastrukturen. Die Energiewende droht Deutschland in die Deindustrialisierung zu führen. Sie gefährdet den Wohlstand des Landes ebenso wie ein von China, Russland und den USA abhängiges Geschäftsmodell, das nicht mehr trägt.
Zugleich sind der deutschen Gesellschaft Aufstiegs- und Innovationsdynamik abhandengekommen. Individuelle Leistungskraft und Eigenverantwortung sind von einer Kultur der Verletzlichkeit in einer „vulnerablen Gesellschaft“ verdrängt worden. Entsprechend haben Sicherheitsorientierung und Risikoaversion zugenommen, für die dem Staat immer weiter reichende Kompetenzen übertragen werden. Risikoabwehr und Nachteilsausgleich gehen vor Freiheit und optimistischer Zukunftsgestaltung.
II. Innovation und Investition
Künstliche Intelligenz treibt eine technologische Revolution an, die mit der höchsten Innovationsgeschwindigkeit aller Zeiten abläuft und einen unabsehbaren Energiebedarf mit sich bringt. Statt die Chancen dieser Zukunft zu begrüßen, setzt Europa jedoch vor allem auf die Abwehr der damit verbundenen Risiken, auch wenn sie oftmals minimal oder theoretischer Natur sind. Übermäßige Präventionspflichten ersticken Innovationschancen und Investitionsbereitschaft.
Was Deutschland braucht, um hinreichend innovativ zu werden, ist
erstens Talentmanagement: eine langfristig angelegte Willkommenskultur für gewünschte Fachkräfte, die Einwanderung klar von Asylmigration trennt;
zweitens Zugang zu preiswerter Energie, um KI und Daten-Zentren, CHIPS und andere High-Tech-Industrien zu ermöglichen und um zu verhindern, dass klassische energieintensive Industrien das Land verlassen;
drittens ein zeitgemäßerer Umgang mit Daten, wozu insbesondere eine umfassende Revision der europäischen Regeln für den Datenschutz zählt, weil diese die Datenverarbeitung erschweren, statt gezielt den Missbrauch zu sanktionieren;
viertens neue Priorisierungen bei den Staatsausgaben: einen Mindestanteil am Haushalt für Investitionen in öffentliche Infrastruktur, Investitionen in KI-Forschung sowie eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte.
Und fünftens ist eine umfassende Deregulierung erforderlich, die mehr ist als ein leeres Versprechen. Statt das amerikanische Großexperiment DOGE, das in der praktizierten Form tatsächlich kein Vorbild ist, mit Herablassung abzutun, sollte Deutschland seine staatlichen Strukturen grundlegend überprüfen und reformieren. Deutschland braucht einen regulierungspolitischen Paradigmenwechsel weg von der Mikrosteuerung von Wirtschaft und Gesellschaft hin den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft, der Datenverkehrs- und der Informationsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und der Verbraucherautonomie.
III. Die Wende der Energiewende
Eine Energiepolitik, die allein aus der Perspektive des Klimaschutzes und mit dem Ziel nationaler Klimaneutralität betrieben wird, ist global ineffizient, gefährdet nationalen Wohlstand und steht im Widerspruch zu den Anforderungen der technologischen Revolution. Der Ausstieg aus der Kernenergie hat Deutschland auf fossile Brennstoffe verwiesen, während ausufernde Umweltauflagen sich zu Lasten von Infrastruktur und Innovationen auswirken. Die Trias „alles elektrisch – alles aus Erneuerbaren – keine Kernenergie“ funktioniert nicht.
Eine zukunftsfähige Klima- und Energiepolitik muss sich von der versorgungsunsicheren Deckung künftigen Energiebedarfs allein aus erneuerbaren Ressourcen, vom unverhältnismäßig kostenintensiven Ziel nationaler Klimaneutralität und von illusorischen Klimaschutzzielen verabschieden. Sie folgt stattdessen dem Dreiklang „Mobilisierung von Ressourcen – Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit – globale Reduzierung von Emissionen“. Ihre Technologieoffenheit schließt den konsequenten Wiedereinstieg in die friedliche Nutzung der Kernenergie ein. Sie akzeptiert, dass Öl und Gas weiterhin einen Teil des Energiemixes ausmachen werden, und sie setzt dazu auf die Abscheidung, Speicherung und Nutzung von Kohlendioxid (CCS/U). Unter Verzicht auf nationale Alleingänge und unter Anerkennung des Gedankens, dass deutscher Klimaschutz nicht notwendig über deutschem Boden stattfinden muss, zielt sie auf ein effektives globales System des Emissionshandels, um der Erderwärmung auf ökonomisch tragfähige und klimapolitisch effektive Weise zu begegnen.
IV. Wirtschaft und Soziales. Bildung und Generationengerechtigkeit
Deutschland muss sowohl seine Energie- als auch seine Arbeitsproduktivität deutlich erhöhen. Im Jahr 2025 schaut Deutschland auf fünf Jahre faktisch ohne Wachstum zurück. Das deutsche Geschäftsmodell befindet sich in einer Sackgasse, sowohl im Hinblick auf seine Außenhandelsorientierung als auch auf interne Strukturbedingungen wie Energiepreise, Arbeitskosten und Überregulierung.
Zwingend notwendig sind daher Strukturreformen zur Steigerung des Produktionspotenzials. Prioritäre Ziele müssen sein, die Attraktivität für Investitionen zu erhöhen, Energiekosten zu reduzieren, Unternehmenssteuern zu senken, planwirtschaftliche Regulierungen abzubauen – und eine Reform des Bildungssystems, um die Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte als Stütze des deutschen Modells zu revitalisieren.
Zugleich muss Bildung für das Zeitalter künstlicher Intelligenz neu gedacht werden. Erforderlich sind neue Strategien des Erwerbs und der Strukturierung, der Aneignung und der Nutzung von Wissen. Deutschland braucht einen neuen Ideenwettbewerb für ganzheitliche zukunftsfähige Bildung, der den Reformen Wilhelm von Humboldts oder den bundesdeutschen Bildungsreformen der 1960er Jahre nicht nachsteht.
Auch die sozialen Sicherungssysteme, vor allem für Rente und Pflege, stehen vor grundlegenden Herausforderungen. Die langfristige Finanzierbarkeit der Rentenversicherung verlangt die kurzfristige Wiedereinführung des Nachhaltigkeitsfaktors und eine konsequente Dynamisierung des Rentenzugangsalters gemäß der Entwicklung der Lebenserwartung. In der Pflegeversicherung ist die Schließung der Finanzierungslücke noch durch Kapitaldeckung, Selbstbehalte sowie die Konzentration auf subsidiäre statt pauschale Unterstützung möglich. Generell kann nur die Orientierung hin zu mehr Eigenverantwortung den ständigen Anstieg der Lohnnebenkosten stoppen, der das deutsche Wirtschaftsmodell gefährdet.
Über all diese notwendigen Maßnahmen hinaus muss angesichts der strukturellen Überforderung des Generationenvertrags durch den Geburtenrückgang auch Generationengerechtigkeit überdacht werden. Um eine einseitige Benachteiligung Jüngerer durch zugunsten der Älteren zu verhindern, sollte eine zukunftsfähige Sozialpolitik vor allem Jüngere und Familien mit Kindern und Enkeln adressieren.
V. Migration
Seit 2015 sind weit über 15 Millionen Menschen nach Deutschland zugezogen. Dabei wird in der öffentlichen Debatte kaum zwischen Flucht- und Asylmigration einerseits und regulärer Einwanderung andererseits unterschieden, obwohl beide ganz unterschiedlichen Logiken folgen. Über ein Jahrzehnt hinweg hat auf dem Wege der Fluchtmigration Einwanderung nach Deutschland stattgefunden, die das Land überfordert, das Asylrecht verzerrt, das Vertrauen in den Staat untergräbt und die Gesellschaft polarisiert. Ein grundlegender Wandel der Migrationspolitik ist daher überlebenswichtig für die Demokratie.
Angesichts der Unübersichtlichkeit und der gegenseitigen Blockade von nationalem Asylrecht, europäischem Sekundärrecht sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verlangt eine geregelte Migrationspolitik den Willen zur Durchsetzung ordnungsgemäßer und begrenzender Abläufe, gegebenenfalls nach entsprechenden Änderungen von Verordnungen, Richtlinien und Verträgen: temporäre Grenzkontrollen, Zurückweisungen an den europäischen Binnengrenzen, mehr Rückführungen und Rücknahmeabkommen mit Herkunftsstaaten und weiteren sicheren Drittstaaten, einen konsequenten Schutz der EU-Außengrenzen sowie Abkommen mit Drittstaaten zur Bekämpfung von Schleusernetzwerken sind dabei zentral. Zudem bedarf es der klaren konzeptionellen und kommunikativen Trennung von Asylmigration und Einwanderung, die eine Willkommenskultur für gewünschte Fachkräfte einschließt.
VI. Integration
Grundlage einer gelingenden Integration von Ausländern in Deutschland ist nicht eine postkoloniale Gesellschaftspolitik der Vulnerabilität, die gesellschaftliche Integration zur Bringschuld einer angeblich strukturell diskriminierenden Mehrheitsgesellschaft erklärt. Der freiheitliche und säkulare Verfassungsstaat geht vielmehr von der bürgerlichen Idee der offenen Gesellschaft aus, die für faire Chancen sorgt, auf deren Grundlage individuelle Eigenverantwortung greift.
Zugleich bedarf die offene Gesellschaft verbindender und verbindlicher politisch-kultureller Grundlagen. Sie liegen jenseits dessen, was durch Recht und Gesetz oder durch den Staat verordnet werden kann, im Bereich der gesellschaftlichen Selbstverständigung, und sie bedürfen eines gesamtgesellschaftlichen Grundkonsenses. Eine solche Leitkultur der offenen Gesellschaft umfasst Umgangsformen wie Höflichkeit und gegenseitigen Respekt, die Verpflichtung auf Faktentreue, Kompromissbereitschaft statt Absolutheitsansprüche, die Anerkennung der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen, von Freiheit, Selbstbestimmung und Individualität sowie Leistungsbereitschaft und Selbstverantwortung.
Gelingende Integration erfordert das Selbstbild einer Gesellschaft, die sich nicht als leidende Gemeinschaft der Vulnerablen versteht, sondern als optimistische, zukunftsoffene Gesellschaft mit Chancen für alle. Ronald Reagan sprach von der Stadt der emsigen und kreativen Bürger unterschiedlicher Art und Herkunft, deren Tore allen offenstehen, die mit dem Willen und dem Herzen dabei sein wollen. Nur ein solches positives Bild des eigenen Landes kann alle Bürger integrieren. Zugleich unterscheidet es die offene Gesellschaft mit klaren Grundlagen von identitätspolitischen Vorstellungen von links ebenso wie von identitären Vorstellungen von rechts.
VII. Demokratie und Öffentlichkeit
Demokratie lebt davon, dass niemand Anspruch auf absolute normative Wahrheiten erhebt, sondern dass – idealerweise nach einer rationalen Debatte – die Mehrheit entscheidet. Vulnerabilitätsdiskurse haben stattdessen eine Moralisierung in die öffentliche Debatte getragen, die den Anspruch erhebt, über die Grenzen des Sagbaren zu bestimmen, und zum Ausschluss von Argumenten, Themen und Sprechern geführt hat.
Zudem hat der zutreffende Befund, dass absichtlich falsche Informationen verbreitet werden und Debatten vor allem in den sozialen Medien verrohen, zu problematischen Ausweitungen staatlicher Eingriffe geführt. Die Begriffe „Desinformation“, „Hass und Hetze“ und „fake news“ sind dabei selbst zu Kampfbegriffen im politischen Diskurs geworden. Den Strafrahmen für Äußerungsdelikte zu verschärfen, bestehende Tatbestände zu erweitern und neue zu schaffen, die bislang als Bagatellen gegolten hätten, staatlich subventionierte Meldestellen einzurichten und Meinungsäußerungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle zu inkriminieren – all dies hat Einschüchterungspotenziale gegenüber Einzelnen aufgebaut und schränkt im Ergebnis öffentliche Meinungsfreiheit ein.
„Robuste Zivilität“ (Timothy Garton Ash) verlangt stattdessen
erstens diskursive Resilienz, die kontroversen Meinungsaustausch und demokratische Öffentlichkeit als Zumutung akzeptiert;
zweitens eine Toleranz, die ihren Namen nur dann verdient, wenn sie auch und gerade das toleriert, was man eigentlich ablehnt;
drittens besondere staatliche Zurückhaltung und kritische Prüfung bestehender strafrechtlicher Vorschriften bei Äußerungsdelikten.
Viertens helfen gegenüber Falschbehauptungen vor allem Wachsamkeit und ein quellenkritischer Blick, die trainiert werden müssen und Bestandteil einer zeitgemäßen Bildung sind, und
fünftens ist es grundsätzlich erforderlich, nicht anonym, sondern erkennbar mit Namen und Gesicht zu sprechen.
VIII. Internationale Politik: Drei Optionen für Europa
Die disruptive und aus europäischer Perspektive oft kaum nachvollziehbare Politik der Regierung Trump verweist Europa mit aller Deutlichkeit auf die jahrzehntelang vernachlässigte Anforderung eigener Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit.
Vor allem Deutschland hat im frühen 21. Jahrhundert mit einer innenpolitisch getriebenen, reaktiven und nicht strategisch orientierten Außen- und Sicherheitspolitik seine Energieversorgung nach Russland, sein Wirtschaftswachstum nach China und seine Sicherheit in die USA ausgelagert. Die Europäische Union zeichnet sich seit den neunziger Jahren durch eine Verbindung von Überambition und Unterperformanz aus und hat es nicht vermocht, sich als Ordnungsmacht gegenüber militärischen Konflikten in Europa zu etablieren, weil der politische Wille ihrer Mitgliedsstaaten dazu fehlt. Die USA hingegen bleiben – trotz aller nie eingetretener Prognosen ihres Niedergangs – mit ihren geographischen, demographischen, ökonomischen, technologischen und militärischen Ressourcen die globale Vormacht. Die unvorhersehbare Politik der Regierung Trump, die in China ihren Hauptkonkurrenten sieht, stellt Europa vor die Entscheidung, aus drei Optionen zu wählen:
(1) Westpolitik bedeutet, die entgegen mancher Behauptung noch nicht zerstörte transatlantische Brücke zu pflegen. Europa kann durch den Aufbau glaubwürdiger militärischer Kapazitäten innerhalb der NATO zeigen, dass es seine Sicherheit ernst nimmt. Zugleich kann es den USA entgegenkommen, indem es auf eine Angleichung der Zölle und eine Freihandelszone im Atlantik hinarbeitet und sich in der Politik gegenüber einem handels- und außenpolitisch expansiven China mit Washington koordiniert. Und gemeinsam tritt man diktatorischen und antisemitischen Tendenzen in Organisationen der internationalen Zusammenarbeit entschlossen entgegen.
(2) Europäische Autarkie würde bedeuten, dass ein weltpolitisch isoliertes Europa einstweilen ohne ein zureichendes nukleares Arsenal als wirksame Abschreckung gegen Russland auskommen müsste. Während die NATO damit faktisch zerbrochen wäre, bleibt ungewiss, ob die gesamteuropäische Solidarität ausreichen würde, um alle Grenzen der Union zu verteidigen. Zugleich würde Abschottung zu einem dramatischen Verlust von Arbeitsplätzen und Wohlstand führen.
(3) Ostpolitik unter Abschied von den USA würde Europa faktisch zwei imperialistischen Mächten unterwerfen. Die Konsequenz wäre die Erosion westlicher Werte, das Vordringen der ethischen Standards russischer Kleptokratie und die weitere Unterminierung der deutschen industriellen Kapazität durch China.
Trotz beunruhigender Signale aus Washington bleibt die westpolitische Option die beste für Deutschland und Europa. Sie muss mit massiven Investitionen in europäische Verteidigungs- und Handlungsfähigkeit sowie mit einer aktiven Freihandelspolitik in Richtung der aufstrebenden Märkte in anderen Erdteilen verbunden werden. Dabei verlangt sie realistische Lageeinschätzungen und strategisches Denken, kritische transatlantische Loyalität und nicht zuletzt: politische Führung aus Deutschland.
IX. Illiberaler Zeitgeist und bürgerliche Diskurshoheit
Unter wesentlicher Beteiligung von westlichen Universitäten hat sich ein zunehmend illiberaler Zeitgeist in Medien, Unternehmen, Kultur und Politik verbreitet. Vordergründig wird mehr Sensibilität für Diversität und den Schutz marginalisierter Gruppen gefordert. Tatsächlich geht es um eine radikale Weltsicht, die Grundüberzeugungen der westlichen Demokratie und der bürgerlichen Gesellschaft infrage stellt und diese als strukturell zerstörerisch und diskriminierend ablehnt.
Diese Entwicklung wird durch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) befördert, die sich als Vertreter der „Zivilgesellschaft“ gerieren. Das ist in einer freien Gesellschaft grundsätzlich nicht zu beanstanden. Zum Problem aber wird es, wenn diese Akteure mit staatlichen Mitteln finanziert werden und den freien Wettbewerb der Ideen und Meinungen verzerren, um ihre politischen Agenden durchzusetzen.
Diese Entwicklung wird zugleich durch weite Teile des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) vorangetrieben. Er wird zwar von der Gesamtheit der Gebührenzahler verpflichtend finanziert. Seine zunehmende Einseitigkeit in Themenauswahl und normativen Urteilen ist aber vielfach dokumentiert worden.
Daher muss die öffentliche Finanzierung von NGOs mit politischer Agenda eingestellt werden. Und die Gremien des ÖRR müssen ertüchtigt werden, ihrer Kontrollfunktion effektiv nachzukommen; Strukturreformen müssen dafür sorgen, die Vielfalt der Meinungen zur Geltung zu bringen. Alsbald dürfte auch der Einsatz von KI zu einer objektiven Analyse bezüglich Themenvielfalt und Meinungspluralität möglich sein.
Letztlich kann der illiberale Zeitgeist aber nur von der Gesellschaft selbst abgewehrt werden. Daher müssen bürgerliche Perspektiven beherzt und nachdrücklich in die Öffentlichkeit eingebracht werden, um eine demokratische Auseinandersetzung um kulturelle Deutungshoheit in Deutschland zu führen. Dazu braucht es auf bürgerlicher Seite
erstens argumentative Substanz statt Arroganz der (vermeintlichen) Macht oder Defätismus eines vermeintlich unaufhaltsamen Niedergangs,
zweitens das Bewusstsein für die Bedeutung politisch-kultureller Auseinandersetzungen und den Willen, sie zu führen sowie
drittens ausreichende materielle Ressourcen für Kommunikation und Distribution.
X. Eine positive Zukunftsperspektive
Kein Defätismus und kein Ressentiment, sondern Menschenfreundlichkeit und Optimismus, keine neue Welt, erst recht kein neuer Mensch, aber eine bessere Zukunft, dafür steht das Modell der bürgerlichen Gesellschaft. Sie hat das historisch und global größte Maß an Wohlstand und Freiheit hervorgebracht. Und sie war immer wieder zur Selbstkritik und Selbstkorrektur ihrer eigenen Defizite und Widersprüche bereit und in der Lage. Statt diese Gesellschaft als strukturell zerstörerisch und repressiv zu delegitimieren, muss bürgerliche Politik ein glaubhaftes und erfahrbares, motivierendes und integrierendes Zukunftsversprechen vermitteln: Diese Gesellschaft ist nicht im Niedergang, sondern sie hat alle Voraussetzungen, um Freiheit und Sicherheit, Wohlstand und Gemeinwohl weiter zu mehren und zur Lösung globaler Herausforderungen beizutragen.
Die Voraussetzung dafür liegt im Inneren der westlichen Gesellschaften: in einem Wachstum, über dessen faire Verteilung neu und unideologisch zu diskutieren ist. Der Schlüssel dazu sind neue Technologien, deren Förderung und reflektierte Anwendung ein Kernanliegen bürgerlicher Politik sein muss. Sie setzt einen normativen Rahmen, in dem sich die Kräfte der Gesellschaft entfalten können. Fleiß und Chancen, Innovationskraft, Risikobereitschaft und Selbstverantwortung sind die Grundlagen einer bürgerlichen Politik, die Zukunft im Zeichen von Freiheit und Fairness, Gemeinwohl und Wohlstand für alle ermöglicht.
Unser Land droht zu verlieren, was unsere Vorfahren geschaffen haben. Wir haben eine Welt und ihre Zukunft zu gewinnen!
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Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.
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