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Foto: Denkfabrik R21

Mehr Dialog statt ausgrenzende Brandmauern

Wie kann eine gespaltene Gesellschaft wieder zueinanderfinden? Darüber hat sich Bernd Stegemann, Mitglied des R21-Beirats, in der „Berliner Zeitung“ Gedanken gemacht. Der Dramaturg kritisiert ausgrenzende Brandbauern, moralische Hochstapelei und einen mit illiberalen Mitteln geführten „Kampf gegen Rechts“.

Dieser Text wurde am 24. August 2024 erstmals in der „Berliner Zeitung“ veröffentlicht.

Der Umgang mit rechtspopulistischen Parteien muss in ganz Europa erlernt werden. In Deutschland ist das Lernen nach der historischen Katastrophe des Nationalsozialismus besonders schwierig. Die Wachsamkeit gegenüber dem „Schoß, der noch fruchtbar ist“ führt zu einer Öffentlichkeit, die überall die Wiederkehr der Nazis wittert. Das war notwendig und richtig, doch heute zeichnet sich ein gefährlicher Umschlag ab, der aus der Wachsamkeit eine reflexartige Überreaktion macht.

Zwei Aspekte sind dabei auffällig: Der nachholende Antifaschismus und die parteitaktische Panik. Beide Reflexe gelten als angemessener Umgang mit der AfD. Und seitdem der Verfassungsschutz die Partei in Teilen als „gesichert rechtsextrem“ etikettiert hat, scheint jedes Nachdenken überflüssig. Sucht man nach einer Definition von „rechtsextrem“, wird man überraschenderweise bei der Behörde nicht fündig. Das dunkle Dräuen im Wort „rechtsextrem“ übernimmt die Arbeit, die es als Begriff nicht leistet. So überbieten sich die Schlagzeilen, die unsere Zeit als „5 vor 1933“ bezeichnen, von der Wannseekonferenz 2.0 berichten und Björn Höcke als Wiedergänger von Adolf Hitler beschwören.

Der Kampf gegen den Faschismus, den unsere Großeltern nicht geführt haben, badet sich heute in diffusen Gefühlen. Eine maximale Bedrohung wird imaginiert, der dann mit maximaler Aufregung entgegengetreten wird. Wer seinen Kampf gegen die AfD damit adelt, nun endlich erfolgreich Hitler zu verhindern, der verkleidet sein überschaubares Risiko ins Heldengewand einer Sophie Scholl. Man gibt sich so mutig, wie man es vor 1945 niemals gewesen wäre. Dass diese moralische Hochstapelei den historischen Faschismus verharmlost, zählt inzwischen ebenso wenig, wie die Blindheit, die es braucht, NSDAP und AfD gleichzusetzen.

Beim „Kampf gegen rechts“ grassiert in Deutschland eine Ungenauigkeit gegenüber der Historie und eine Ungenauigkeit gegenüber der Gegenwart. Der Kampf erschöpft sich darin, ein „Rechts“ zu behaupten, das genauso dämonisch sein soll wie die historischen Nazis, und das so ungenau ist, dass man jeden politischen Gegner damit mundtot machen kann. Wer die illegale Migration beklagt, bedient „rechte Narrative“. Wer die Corona-Politik kritisiert, ist ein „rechter Schwurbler“. Und wer Fragen zum Klimawandel hat, ist ein „rechter Klimaleugner“. Rechts ist gleichbedeutend rechtsextrem und das ist wiederum gleichbedeutend mit Nazi.

Diesem nervös-moralischen Komplex der Faschismus-Warner steht inzwischen eine gereizte Bevölkerung gegenüber, die von den kulturkämpferischen Streitereien um Gendersprache, veganes Essen und Klimaapokalypse zu erschöpft ist, als dass sie den realen Problemen von Krieg, Inflation und allgemeiner Unsicherheit noch mutig begegnen könnte. Die Nerven liegen also im Prenzlauer Berg genauso wie in Prenzlau blank. Die Gründe sind jedoch sehr unterschiedlich.

Dörfer mit vierhundert Einwohnern sollen dreihundert Flüchtlinge aufnehmen. Tragen die Einheimischen ihre Sorgen vor, schrillt der Faschismus-Alarm und die Kämpfer gegen rechts schwärmen aus den gentrifizierten Altbauvierteln in die Randzonen. Klimakleber, die den Flugbetrieb am Beginn der Ferien lahmgelegen und damit die Vielen, die sich ein Jahr auf diesen Tag gefreut haben, einer weiteren Belastungsprobe ihrer Geduld unterwerfen, bekommen in den Nachrichten ausführlich Gelegenheit, ihr Weltbild auszubreiten und weitere Geiselnahmen anzukündigen. Die Blockierten fragen sich, ob Geiselnehmer sonst auch in den Nachrichten befragt werden, was ihre hehren Ziele sind. Und sie grübeln über die ketzerische Frage, was wohl los wäre, wenn die identitäre Bewegung Flughäfen besetzen würde, um mehr Abschiebungen zu erzwingen. Doch die Fragen bleiben ungehört, denn die Dörfler wie die Reisenden sind rechts, und Rechten darf keine Bühne geboten werden.

Der Kampf um das Ohr der Mächtigen ist ein ungleicher. Doch wer ist der Mächtige in einer Demokratie? Die einfache Antwort wäre: Das Volk. Die gegenwärtige Antwort lautet aber: Ein Teil des Volkes. Denn dieser Teil, der die Macht im Kulturkampf hat, hat einen anderen Teil hinter die Brandmauer gesperrt. Die Klagen, die von dort bis in die Regierungsviertel dringen könnten, sollen nicht gehört werden. Denn dort, hinter der Mauer, wohnen die bösen Menschen.

Die Brandmauer ist ein raffiniertes Bauwerk. Sie ist eine Metapher, darum kann sie nicht wie eine echte Mauer gesprengt werden. Sie existiert nur in den Köpfen, weswegen sie nicht überwunden werden kann. Wäre die Brandmauer eine echte Mauer, die das Land in die Guten und die Bösen einteilt, würde längst der Ruf erschallen: Die Mauer muss weg! Doch sie ist ein moralischer Schutzwall, der in den Köpfen der Guten ersonnen wurde, um das Böse fernzuhalten. Moral ist eine seltsame Kraft. Sie macht die Welt übersichtlich. Zugleich fühlt sich jeder, der mit Moral die Welt in Gut und Böse einteilt, selbst als Teil des Guten. Als moralisches Bauwerk ist die Brandmauer unüberwindlich. Denn jeder, der sie abschaffen will, beweist damit, dass er auf die böse Seite gehört und darum die Mauer noch höher werden muss.

Die Brandmauer ist die Wunderwaffe der parteitaktischen Panik. Wer immer es wagt, sie in Frage zu stellen, riskiert, ebenfalls in ihren Bann zu geraten. So sichert sie den Parteien links der Mitte, dass es niemals eine Mehrheit gegen sie geben kann. Dass auf der anderen Seite der Mauer die Verzweiflung wächst, die Wut sich anstaut und das Ressentiment immer neue Nahrung erhält, gilt auf der guten Seite als Grund, die Mauer geschlossen zu halten. Eine Methode, die das hervorbringt, wogegen sie schützen soll, gehört zu den toxischen Mitteln der Politik. Die angewandte Revolutionstheorie der Linken hatte sie einst für sich genutzt. Man provozierte den Polizisten so lange, bis er zurückschlägt. Dann hatte man den Beweis für die Brutalität des Schweinesystems.

Die Logik der Mauer steht in dieser Tradition: Man signalisiert den Menschen mit einer „rechten“ Meinung, dass sie niemals gehört werden, und schon provoziert man das Ressentiment, das man als Grund braucht, um sie auszuschließen. Man sagt den Wählern einer Partei, dass ihre Stimmen nicht zählen, und schon erzeugt man die Radikalisierung, die man braucht, um die Partei verbieten zu können. Bernd Lucke gründete die AfD als eurokritische Partei. Doch von der ersten Stunde an galt sie als Nazi-Partei. Heute sind die Höckes dort stark und man fragt sich, wie das passieren konnte.

Ein Streit eskaliert, wenn man den Anderen immer weiter demütigt. Oder man geht einen Schritt auf den Anderen zu, was manche auch christliche Feindesliebe nennen. Doch im Kulturkampf gilt, keinen Fußbreit den Nazis! Feindesliebe endet, wo das „rechts“ beginnt. Das Argument dafür wird reflexartig vorgebracht: Keine Toleranz für Intoleranz. Doch diese einfach klingende Formel legitimiert nichts, sondern bereitet mehr Probleme, als sie löst. Zum einen ist darin ungeklärt, was als intolerant gilt und wer das festlegt. Und zum anderen öffnet sie den Weg, im Kampf gegen die Intoleranz selbst intolerant zu werden. Wer mit einem solchen Spruch sein politisches Handeln begründet, sagt eigentlich: Ich darf intolerant sein, weil ich auf der richtigen Seite der Mauer stehe.

Auf der rechten Seite der Brandmauer sieht die Lage ähnlich falsch aus. Im Osten fühlt man sich vom Westen betrogen, dessen Freiheit allzu oft Arbeitslosigkeit und dessen Gleichheit allzu oft Abwertung der ostdeutschen Biographien bedeutet. Die Privatisierungsorgien der Treuhand wirken bis heute in der Ungleichheit des Eigentums nach. Und die zahllosen Berichte westdeutscher Medien über das Dunkeldeutschland, das nur zur Nachricht taugt, wenn Flüchtlingsheime brennen und die AfD neue Wahlerfolge feiert, fügen in ihrer Einseitigkeit immer neue Kränkungen zu.

Im Westen haben die Kränkungen andere Ursachen. Hier fühlt man sich vor allem von einer Merkel-CDU betrogen, die die Infrastruktur des Landes kaputtgespart und mit der Entfesselung von Migrationsströmen das Sicherheitsgefühl stark belastet hat. Vereint sind die ost- wie westdeutschen Gekränkten in ihrem Gefühl, von der offiziellen Öffentlichkeit ausgeschlossen zu sein. Wann hätte es einen Kommentar in den Tagesthemen gegeben, der die AfD nicht in Grund und Boden gestampft hätte?

Doch so begründet die Wut aus der Kränkung im Einzelnen sein mag, in ihrer Verfestigung zum Ressentiment gebiert sie Ungeheuer. Das Ressentiment entsteht, wenn die Kränkung nicht heilt, sondern immer wieder erinnert wird. Die Wunde bleibt offen und der Schmerz wird zum Kern der Identität. Das Mantra des Ressentiments lautet: Meine Wut ist berechtigt, weil die Herrschenden nicht tun, was ich will. Man hat mir Unrecht getan, darum habe ich das Recht Unrecht zu tun.

Politische Forderungen, die aus dem Ressentiment entstehen, sind von Groll vergiftet. Sie wollen keine gerechte Welt, sondern Rache für die erlittenen Kränkungen. Das Kreuz bei der AfD ist dann als Rache gegen den Westen und gegen die da Oben gemeint. Man will keine Freiheit, sondern Strafe für die, die ein Leben jenseits des Ressentiments führen. Man will den Untergang, damit alle gleich unglücklich sind.

Das Ressentiment hat in Deutschland zum Nationalsozialismus geführt. Es ist darum verständlich, wenn die anderen rechten Parteien in Europa der AfD mit skeptischer Ablehnung begegnen. Das deutsche Ressentiment scheint gewaltbereiter und der Minderwertigkeitskomplex scheint noch rachsüchtiger zu sein als sonst. Die Sehnsucht nach dem radikalen Bruch ist bei uns so verbreitet, dass sie sich vom Regime-Sturz auf der rechten bis zur Klimaapokalypse auf der linken Seite erstreckt. Was die Jünger der letzten Generation mit den Fans von Björn Höcke vereint, ist ihre Verweigerung, die Demokratie dadurch zu respektieren, dass man ihre Langsamkeit und ihre Kompromisse als humanste Art von Politik begreift. Die Panik-Phantasien vom Weltuntergang oder vom Großen Austausch bereiten dem deutschen Ressentiment so große Befriedigung, dass man sie nicht gegen eine schnöde Vernunft eintauschen möchte.

Wie begegnet man dem Ressentiment? Es braucht Respekt für die erlittene Kränkung und es braucht eine Grenze gegenüber dem Groll. Es braucht Hilfe für das erlittene Unrecht und Abkühlung für das hitzig-unbedingte Wollen. Was es hingegen nicht braucht, sind moralische Einschüchterung und ein Leben hinter Brandmauern. Was es auch nicht braucht, sind illiberale Verteidiger der liberalen Demokratie. Wenn alles, was irgendwie gegen den Mainstream ist, nach rechts sortiert wird, und wenn dann der Verfassungsschutz einen Gummibegriff wie die „Delegitimation des Staates“ erfindet, um möglichst umfangreich die Bevölkerung überwachen zu dürfen, dann wird die beschworene Gefahr zur Ausrede für staatliche Gängelung. Und was es gar nicht braucht, sind Medien, die die illiberalen Verteidiger loben, da es „gegen rechts“ geht.

Wie können sich dann die Kämpfer gegen rechts und die Menschen des Ressentiments überhaupt begegnen, ohne ihre Vorurteile wechselseitig zu bestätigen? Diese Frage zu beantworten, wäre eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der erste Schritt aufeinander zu könnte darin bestehen, die andere Seite weniger dämonisch zu verdammen: Die Grünen-Wähler sind nicht nur die belehrenden Gutmenschen mit dem hohen Einkommen, und die AfD-Wähler sind nicht nur wutverzerrte Nazis.

Doch zwischen ihnen steht die Brandmauer, die von den Eskalationsexperten gesichert wird. Um sie von ihrer hohen Warte herunterzuholen, könnte man sie fragen, warum sie in einer kategorisch anderen Situation als 1933 unbedingt an der Angstphantasie eines neuen Hitler festhalten möchten. Und man könnte sie fragen, ob die eigene Empörung über das Ressentiment der anderen nicht auch von Ressentiment getrieben ist. Geht es wirklich um die Rettung der Welt, oder lockt nicht auch die Genugtuung, den Seelenadel zu spüren, wenn man die Bösen jagt?

Zugleich müssten die AfD-Anhänger darüber Rechenschaft ablegen, woher ihre Angst vor den Fremden und ihr Hass auf die liberale Gesellschaft rühren. Würden sie sich die Mühe machen, zwischen den konkreten Problemen zu unterscheiden, die gehört werden sollen, und den Wutkaskaden, die aus der eigenen Seelenvergiftung kommen, könnten sie weniger verzerrt auf die Welt schauen. Geht es ihnen um die Verbesserung der Welt oder um das Ausleben ihrer Rachephantasien?

Bei aller Selbstbefragung bleibt aber das Machtungleichgewicht bestehen. Den ersten Schritt kann nur die stärkere Seite gehen. Es ist also an den Brandmauer-Wächtern eine Tür zu öffnen. Die Panik, dass durch den kleinsten Riss eine Flutwelle von 1933 hineinströmt, ist die Fortsetzung ihrer schlechten Gewohnheit, immer als Sophie Scholl erscheinen zu wollen. Wenn es aktuell ein politisches Engagement gibt, das geachtet werden sollte, dann besteht es darin, über Mauern hinweg den Dialog zu suchen und die Gesellschaft nicht weiter zu spalten. Und wenn es aktuell jemanden gibt, der wenig zu einem solchem Dialog beiträgt, dann sind es die Empörungsprofis auf den Zinnen der Brandmauer, die jeden mit Ächtung bedrohen, der ihren Befehl zur Ausgrenzung verweigert.

Da zu vermuten ist, dass die Grenzwächter eine solche Anregung zum Dialog wiederum empört, könnte sie vielleicht ein Blick auf die wachsende Zustimmung zur AfD nachdenklich stimmen. Die Brandmauer verschafft der AfD die einträgliche Rolle der Fundamentalopposition. Sie muss sich nicht in den Mühen der Ebene entzaubern, und niemals muss sie beweisen, dass sie irgendeines der vielen Problem lösen könnte. Das Leben hinter der Brandmauer ist für die AfD bequem, da es ihre Wähler im Ressentiment bestärkt und die Partei von jeder Verantwortung entlastet.

Es ist vielleicht fünf vor Zwölf, aber auf einer ganz anderen Uhr als es Brandmauer-, Austausch- und Klima-Apokalyptiker meinen. Die Toleranz ist annähernd aufgebraucht, und die andere Meinung taugt nur noch als Anlass für die eigene Empörung. Die Wutprediger auf allen Seiten freuen sich über die schnelle Erregbarkeit. Offen ist die Frage, ob die liberale Demokratie mehr Schaden an ihren illiberalen Feinden oder an ihren illiberalen Verteidigern nimmt. Sicher hingegen ist, dass die Demokratie ihr Fundament verliert, wenn auf Widerspruch mit Cancel-Phantasien und wenn auf Ressentiment mit Brandmauern reagiert wird. Es ist kein Ausweis von demokratischer Gesinnung, wenn die eigene politische Überzeugung mit der Demokratie kurzgeschlossen wird. Und eine Demokratie ist keine Wunscherfüllungsmaschine für liberale Eliten. Würden diese Einsichten anerkannt, gewänne der demokratische Wettbewerb, und es wäre möglich, dass die ausgegrenzten Stimmen aus ihrem Ressentiment wieder herausfinden.

Bernd Stegemann

Bernd Stegemann ist Professor für Dramaturgie und Kultursoziologie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin.

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