Foto: Denkfabrik R21

On Charlie Kirk

Kulturkämpfe entstehen an Universitäten, an Kulturkämpfe koppeln sich kollektive Ängste vor Wandel und Verlust der nationalen Identität, der Hegemonie des Westens, dem Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen seit der sexuellen Revolution – dies umso mehr vor dem Hintergrund der Radikalisierung von Individualitäten im digitalen Zeitalter. Nicht erst seit den 60er Jahren, sondern extrem verstärkt seit der ersten Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016, seit #MeToo, #BlackLivesMatter und dem 7. Oktober 2023 (dem Terrorangriff der Hamas auf Israel) schwappen Debatten um politische Korrektheit, Geschlecht, Sexualität Identität und Rasse, um Inklusivität, Diversität und Antisemitismus insbesondere aus den Geisteswissenschaften in die Gesellschaft hinein. Seit etwa zehn Jahren haben sich die Universitäten überdies im Hinblick auf Wokeness radikalisiert und ideologisiert. Woke sein sollte eigentlich bedeuten, sich diskriminierungssensibel und gemäß der Sprach- und Verhaltenscodes des Intersektionalismus zu verhalten, führte aber zu engstirnigen, autoritären und inquisitorischen Debatten, zu Zensur und Cancelei, sowohl im akademischen Umfeld als auch in der Gesellschaft. Diesen großen Schwachpunkt des linken Kulturkampfes haben rechte Kulturkämpfer aufgegriffen, die ihre Positionen – oft zu Recht – mit dem Argument aufwerten, dass sie immerhin nicht woke seien. Seit der zweiten Wahl Trumps zum Präsidenten im November 2024 und seitdem die neue Regierung universitäre Diversitätsprogramme verbietet oder alternativ Forschungsgelder einfriert – nicht zuletzt in Reaktion auf die antisemitischen Campusproteste von Hamas-Unterstützern in den Jahren 2023 und 2024 – ist zudem von einem vibe shift die Rede, vom Beginn einer anti-woken Zeit, der linke Diskurs scheint geschwächt, der rechte erstarkt.

So ist nun der Mord an Charlie Kirk nicht nur eine politische Katastrophe, sondern mit das ungünstigste, was der Higher Education passieren kann, affirmiert er doch das, was längst nicht mehr Vorurteil oder Klischee ist: Konservativismus hat an Unis nichts verloren, Aussagen wie die von Kirk, dass er Frauen immer zu Essen einlade, sie nie zahlen ließe, oder: Ist sie doch im Zuge woker Ideologisierung schon längst in den Ruf geraten, die freie Debatte, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu ersticken, oder zumindest für die zu verunmöglichen, die die vermeintlich herrschende Klasse (weiß, heterosexuell) repräsentieren, oder auf weiterer Ebene die bürgerlich-westliche Gesellschaft, die der Wokismus mit der materiellen und ideologischen Ausbeutung von sexuellen Minderheiten, indigenen Völkern und people of color gleichsetzt.

Für White Supremacy als fortdauernde, die Welt rassifizierende Wurzel allen Uebels, stehen neurechte Kulturkämpfer wie Charlie Kirk, enger Freund von Vizepräsident J.D. Vance, der am 11. September vor dreitausend Besuchern der Turning Point USA Veranstaltung an der Utah Valley Universität erschossen wurde. Sein Mörder ist wahrscheinlich linksradikalisiert, da er aber aus republikanischem Elternhaus kommt, geht nun das medial vorhersehbare Gerangel los: Wer ist Schuld an politischer Gewalt, links oder recht? Linke antworten mit rechts, rechts mit links. Rechts betrauert Kirk, Links jubelt oder schweigt, aus Angst vor beruflichen Konsequenzen (auf Sozialen Medien haben MAGA-nahe Influencer eine Kampagne gestartet, die User, insbesonderer Lehrer und Hochschullehrer, tagged, die Kirks Tod begrüßen oder sein Wirken diffamieren). Von rechts wird Charlie Kirk zum Märtyrer der rechten, anti-woken Causa. Trump-nahe Influencer sowie die Regierung selber benennen den Täter – Tyler Robinson, republikanisches Elternhaus, Waffen-afficionado, dem Kirk nicht radikal genug war – als vermeintlichen Teil eines landesweiten linken Komplotts.

Von links wird Kirks Leben, seine Arbeit und seine Aussagen – zu Migration, Israel, Frauen, Schwangerschaft, Transgender – bewusst entstellt, verzerrt und radikaler dargestellt als sie waren. Für die einen ist er mindestens ein Nazi, für die anderen ein Held der neurechten Bewegung. Trump mochte Kirk, brauchte ihn im letzten Wahlkampf, Kirk war einer der Hauptstimmeneintreiber für MAGA unter jungen Menschen im Alter von 19 bis 25. Nach seinem Tod beorderte Trump alle Flaggen auf Halbmast. Auf Charlie Kirks Podcast kündigte Vizepräsident Vance das schonungslose Vorgehen der Regierung gegen das vermeintliche Netzwerk linken Aktivismus an, außerdem gegen Organisationen, die linken Aktivismus fördern oder finanzieren, der potentiell Gewalt und domestic terrorism befördere. Auf X postete  der stellvertretende White House Stabschef Stephen Miller: “In diesem Land gibt es eine Ideologie, die stetig an Einfluss gewinnt und alles Gute, Gerechte und Schöne hasst, während sie alles Verzerrte, Verdrehte und Verdorbenes feiert. Es ist eine Ideologie, die sich im Krieg mit der Familie und der Natur befindet. Sie ist neidisch, bösartig und seelenlos. Es ist eine Ideologie, die die perfekte Familie mit bitterer Wut betrachtet, während sie Serienverbrecher mit zärtlicher Wärme umarmt. Ihre Anhänger organisieren sich unablässig, um jedes Anzeichen von Anmut und Schönheit niederzureißen und zu zerstören, während sie alles Monströse und Abscheuliche verherrlichen. Es ist eine Ideologie, die immer, unvermeidlich und mit Absicht zu Gewalt führt – Gewalt gegen diejenigen, die die Ordnung aufrechterhalten, die den Glauben aufrechterhalten, die die Familie aufrechterhalten, die alles aufrechterhalten, was in dieser Welt edel und tugendhaft ist. Es ist eine Ideologie, deren einziger verbindender Faden der unstillbare Durst nach Zerstörung ist.”

Auf Social Media hatte Kirk 30 Millionen Follower, sein seit 2021 stattfindendes America Fest zog jährlich über 21.000 Besucher an. Kirk war 31 Jahre alt geworden. Er galt als junger Konservativer, der den harten Dialog mit der Linken nicht scheute, gar suchte – auch wenn seine rhetorische Taktik oft darin bestand, kritische Fragen nicht mit Antworten, sondern so lange mit Gegenfragen zu kontern, bis das Gegenüber resigniert schwieg.

Seit 2012 ist Charlie Kirks Organisation Turning Point USA an Universitäten und Campussen ein etabliertes und innerhalb der von woker Politik dominierten Academia seltenes Sprachrohr neu-konservativer Haltungen geworden. 2012 erschien auch der nationale Bestseller „Becoming Right: How Campuses Shape Young Conservatives“ von Amy J. Binder und Kate Wood. In den USA begreift sich die neukonservative Bewegung eher als Avantgarde, denn als rückwärtsgewandt, wählt rechts der Mitte, ist von Teilen der Generation Z zur Glam-Influencer-Angelegenheit geworden, und bringt oftmals junge, attraktive, gebildete Leute hervor. Es gibt neue, konservative und an der Debatte interessierte Hochglanz-Frauenmagazine wie „Evie“ und „The Conservateur“.

Nun aber hat Kirks Tod den gewünschten Effekt und verbreitet politische Panik. Niemand, der irgendwie sachte polemisch unterwegs ist, wähnt sich mehr sicher. Amerika stehe am Abgrund, heißt es beidseits des politischen Spektrums. Vergessen scheint die lange Geschichte von Waffengewalt in den USA, die school shootings, die politisch motivierten Gewalttaten auf allen Seiten des politischen Spektrums. In den USA gibt es über 393 Millionen Waffen, mehr als Menschen. Amerikaner sterben mit 25-mal höherer Wahrscheinlichkeit an Schussverletzungen als jeder andere Bewohner im Westen. Jeden Tag sterben über einhundert Menschen an Kugeln, werden etwa zweihundert durch Schüsse verletzt. Dann gibt es den Amoklauf. Obwohl Amokläufe nur einen Bruchteil der Schusswaffenopfer verursachen, kommt es im Durchschnitt und über die Jahre verteilt etwa zu einem am Tag. Joe Biden war der letzte Präsident, der ohne Erfolg versucht hatte, den Besitz von Sturmgewehren zu verbieten

Es ist schade, dass eine eigentlich interessante Bewegung wie die junge, rechtskonservative, amerikanische nun aus lauter Kulturkampfangst derartig politisiert und instrumentalisiert wird – und zwar vom gesamten politischen Spektrum.

Neueste Beiträge

Am meisten gelesen

Tags

Denkfabrik R21 Newsletter

Bleiben Sie auf dem Laufenden

News

Ähnliche Artikel

Kulturkämpfe entstehen an Universitäten, an Kulturkämpfe koppeln sich kollektive Ängste vor Wandel und Verlust der nationalen Identität, der Hegemonie des...

Der Historiker Andreas Rödder sieht sowohl die linke Identitätspolitik als auch die rechtspopulistische Gegenbewegung als Gefahr für die liberale Demokratie....

«I have seen the future», sang Leonard Cohen, «and it’s murder». Kriege kommen, und enden, Imperien entstehen und vergehen, derzeit...

Nach dem Ende des Kalten Krieges 1990 habe sich der Westen als Sieger am Ende der Geschichte gewähnt, sagt R21-Leiter...

Warum verliert der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk an Akzeptanz? „Journalisten müssen sich an die eigene Nase fassen“, sagt Julia Ruhs im neuen...

Der weltweite CO2-Ausstoß steigt. Dabei müsste er stetig und nachhaltig sinken, um den Klimawandel zu begrenzen. Wie kann das gelingen?...

Der Klima-Expertenrat der Denkfabrik R21 fordert eine Reform der europäischen Klimaschutzziele. Das Problem aktuell: Je weniger ambitioniert andere Länder vorgehen,...

Zur Diskussion um deutsche Waffenlieferungen an Israel äußert sich die Denkfabrik R21 wie folgt: „Die gestrige Entscheidung der Bundesregierung, Rüstungsexporte...

Während der Pandemie hat unsere Gesellschaft gegenüber Kindern und Jugendlichen dramatisch versagt – das schreibt Kristina Schröder im Vorwort des...