Nun sind die größten Fake News des Jahrhunderts mit dem Buch der Journalisten Jake Tapper und Alex Thompson „Original Sin: President Binde’s Decline, it’s Cover-Up, and His Disastrous Choice to Run Again“ (Penguin, Mai 2025) endgültig als solche bestätigt: Joe Biden, die Demokraten und die linksorientierten Medien haben die Welt getäuscht, zahlreiche nationale und internationale Beobachter wollen es bereits jahrelang gewusst haben und lagen meist richtig: Biden war schon lange amtsunfähig, wurde zunehmend dement, verwirrt, fragil, seine Aussetzer und Vergesslichkeiten bei öffentlichen Auftritten, darunter die furchtbare TV-Debatte mit Trump im Sommer 2024, lagen nicht an schlechter Vorbereitung oder kümmerlichem Briefing, waren keine verschleppte Grippe, auch kein das-passiert-halt-manchmal und waren viel mehr als nur das Stottern, von dem Biden von Kindheit an betroffen war.
Nicht nur das, alle haben bei der Vertuschung mitgemacht, politische Berater, Kampagnenhelfer, die First Lady Jill Biden, Spender, Anwälte, Angestellte haben sich und die Welt über Bidens Zustand belogen und haben, von Gier und Ambitionen getrieben, seinen Zustand beschönigt, falsches Kalkül betrieben, ungut rationalisiert, an den politischen Mythos so sehr glauben wollend, dass daraus eine Lüge wurde. Die Erkenntnis von „Original Sin“: Die Demokratische Partei ist mehr noch als der Präsident der Hybris schuldig, war stets in vollem, oder zumindest nicht eingestandenem Wissen um den längst begonnenen Untergang. Die Recherchen für das Buch begannen Thompson und Tapper lange vor der Wahl, erst als sie für die Demokraten verlorenen war, erklärten sich Menschen aus dem Umfeld von Biden bereit, mit den Autoren zu reden. Die Wahlen 2020 gewann Biden höchstwahrscheinlich nur, weil die strengen Covid-Auflagen und Ausgesperren orchestrierte, kontrollierte, oft im Vorfeld schon aufgenommene Auftritte von Biden ermöglichten. Im Namen der Rettung der Demokratie vor Donald Trump wurden die amerikanischen Wähler und die Welt belogen, betrogen und ge-gaslighted, Kritik an den oft desaströsen Auftritten von Joe Biden wurden als Lügen und rechte Propaganda abgetan. Das Einzige, was es gebracht hat, ist die Glaubwürdigkeit der Demokratischen Partei zu zerstören, und zwar am 27. Juni 2024, dem Tag des letzten TV-Duells zwischen Trump und Biden.
Als Biden nach der desaströsen Debatte im Sommer 2024, die seine Fragilität und seinen fehlenden Scharfsinn nun auch für diejenigen, die es bis dato immer noch nicht geglaubt haben wollten, offenbart hatte, und seine erneute Kandidatur als Präsidentschaftskandidat der Demokraten zurückzog, zurückziehen musste, war man versucht, an einen Coup im Dritte-Welt-Stil zu denken, oder an Königin Elisabeth I, die das Todesgesuch für Mary, Königin der Schotten unterzeichnete, ohne dass ihr die Tragweite ihrer Unterschrift bewusst gewesen wäre. Doch nichts dergleichen. Um die Watergate-Frage von Senator Howard Baker aufzugreifen: “What did the president know and when did he know it?” Die Antwort: Alles und fast von Beginn an; dasselbe gilt für die Demokraten.
Die in den Medien nun herrschende Empörung über den demokratischen Verrat ist berechtigt aber auch wohlfeil; dass Biden fragil bis unfähig war, sein Amt in einer zweiten Legislatur fortzuführen, wusste auch die amerikanische Gesellschaft lange oder musste es zumindest befürchten. Auch überrascht es derzeit nicht, dass viele linksprogressive Kritiker Trumps nun weiter „in denial“ sind, darunter eine er renommiertesten Historikerinnen der USA, Heather Cox Richardson, die seit Jahren eine Millionenpublikum mit ihren täglichen (!) „Letter to the Americans“-Emails erreicht, in denen sie von den Hölzchen auf die Stöckchen der amerikanischen Tagespolitik kommt, schweigt zu Tappers und Thompsons Buch.
In dem Artikel „Biden is a Scapegoat. The Democrats are the Problem“ der New York Times, beschreibt der Meinungs-Editor Carlos Lozada, wie im Moment des Rauswurfs von Joe Biden dieser zum Sündenbock für etwas wurde, was eigentlich die Partei zu verantworten hatte. Der Sündenbock trage die Sünden einer ganzen Gesellschaft auf seinen Schultern, schrieb der Anthropologe Rene Girard in seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1998. Er „muss“ sie tragen, ohne sie tragen zu wollen, damit sein (symbolischer) Tod die Gesellschaft reinwaschen kann. Doch der «Tod» des Sündenbocks, so Girard, wäscht nie etwas rein, der Sündenbock ist eine Fiktion, gehört dem ewigen Kreislauf von Schuld und Sühne und erneuter Schuld an und floriert in hypokriten Umfeldern.
Natürlich ist und war auch Biden nicht das Problem der Demokraten, sondern die Demokraten das Problem ihrer selbst, darin aber Symptom des politischen Systems der USA, zumindest grosser Teile davon. Franklin D. Roosevelt bekam mit 39 Jahren Kinderlähmung und sass seitdem im Rollstuhl. Die amerikanische Gesellschaft wusste darum, trotzdem entschied Roosevelt sich, für die Ausübung seiner Ämter, ob als Gouverneur von New York State oder als Präsident, für eine sein Gebrechen überspielende Gehhilfe. Biden ist nicht Roosevelt, körperliche Gebrechen hindern kaum jemanden an der politischen Amtausübung, geistige allerdings schon. Doch was der wir-wissen-es-alle-tun-aber-so-als wäre-nichts-Skandal um Bidens wahren Zustand ebenso entbirgt, wie Roosevelts Rollstuhl ist die Kraft und Macht eines politischen Systems, das in der Lage ist, Wahrheiten nicht nur vor der eigenen Bevölkerung, sondern auch vor sich selbst so lange zu verbergen, dass das Gefühl entsteht, was zum Teufel bitte noch alles im Verborgenen ruht. Wahrscheinlich alles. Solch ein System ist zu jedem Geheimnis fähig.
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Sarah Pines ist im Sauerland und in Bonn aufgewachsen, hat Literaturwissenschaft in Köln und an der Stanford University studiert und wurde in Düsseldorf mit einer Arbeit über Baudelaire promoviert. Sie schreibt für die Kulturressorts der ›Zeit‹, der ›Welt‹ und der ›NZZ‹. Pines lebt als freie Autorin in New York. 2020 veröffentlichte sie die Kurzgeschichtensammlung ›Damenbart‹; im August 2024 erscheint ihr erster Roman ›Der Drahtzieher‹.
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