Was ist Präsident Milei denn nun: Retter oder Insolvenzverwalter? Anarcho, Populist oder klassisch-liberaler Reformer? Räumt er mit der Casta auf – oder räumt die Casta seinen Reformwillen auf? Triumphiert am Ende die Freiheit oder das korrupte System?
Ich mache mir gerade in Buenos Aires selbst ein Bild. Ich erlebe ein faszinierendes Land, das nach vielen Jahrzehnten des Niedergangs wieder Tritt fasst, die weit verbreitete, oft bittere Armut zurückdrängt und neue Zuversicht schöpft. Einige Kennzahlen haben inzwischen auch die deutsche Öffentlichkeit erreicht – etwa die drastisch gefallene Inflation, die spürbar sinkende Armutsquote, die trotz der massiven und überfälligen Entlassungen im Staatssektor eher abnehmende Arbeitslosigkeit, der erstmals seit Jahren ausgeglichene Staatshaushalt sowie die anziehende Industrieproduktion und das steigende Wirtschaftswachstum.
Andere Entwicklungen finden weniger Beachtung: Auf dem entfesselten Immobilienmarkt steigt das Angebot an Wohnungen wie durch Zauberhand; dank Starlink steigt die Mobilfunkabdeckung rapide; nach der Deregulierung des Luftverkehrs wird wieder vermehrt in Flugzeuge investiert; und auch ohne subventionierte Kreditzinsen kaufen die Argentinier wieder mehr langlebige Konsumgüter wie Waschmaschinen und nicht mehr nur ein Stück Käse hier oder ein Trinkglas dort. Kaum zu glauben: Solche Kleingüter wurden hier dank subventionierter Kreditzinsen und galoppierender Inflation noch bis vor kurzem in Raten abgestottert.
Die marktwirtschaftliche Aktivität nimmt auch infolge des Abbaus von Schutzzöllen zu. Markenware aus dem Ausland bleibt für viele Argentinier aber trotz der Erleichterungen unerschwinglich. So kostet ein Samsung-USB-Adapter in der noblen Shopping Mall rund 60 Euro, das Pendant aus dem China-Laden um die Ecke hingegen nur einen Euro. Auch andere Preise sind für den ökonomisch interessierten Gastwissenschaftler interessant: So kostet ein Joghurt in Argentinien das Vierfache eines deutschen Discounter-Joghurts, während eine Uber-Fahrt nur ein Viertel so viel kostet. Dies zeigt, wie verzerrt die jeweiligen Preisstrukturen sind. In Argentinien treiben Währungsinstabilität, ineffiziente Lieferketten, fehlender Wettbewerb und verbleibende Bürokratie die Lebensmittelpreise. In Deutschland sorgen hohe Lohn-, Energie- und Versicherungskosten sowie eine stark regulierte Beförderungsbranche für teure Uber-Fahrten.
Einige Reformen, die Milei trotz seiner zunächst schwachen Ausgangsposition im Kongress schnell umsetzen konnte, beginnen erst allmählich zu wirken. Durch seine gegenüber den USA und der EU offensive und gegenüber China pragmatische Freihandelspolitik sowie mit der neuen Investitionsstrategie („RIGI-Regime“) öffnet Argentinien die Tore für ausländische Direktinvestitionen in den Energie- und Rohstoffsektor oder in datenintensive Industrien. Die neue Investitions-, Planungs- und Rechtssicherheit für Großprojekte trägt erste Früchte.
Zudem ist die Arbeit von Federico Sturzenegger beeindruckend. Der klassisch liberale Ökonomieprofessor und Minister für Deregulierung und Staatstransformation schafft mit seinem Team Tag für Tag Regulierungen, Preiskontrollen, Steuern und Auflagen ab oder vereinfacht sie deutlich. Doch die Lieferketten müssen sich erst an die neuen Anreize anpassen, und die Investoren müssen erst neues Vertrauen in das institutionelle Fundament Argentiniens aufbauen.
Ob dies gelingt, ist für die Zukunft Argentiniens entscheidender als die Frage, ob Milei die Erwartungen von Anarcho-Kapitalisten enttäuscht, geklonte Hunde hat oder mit der Motorsäge auf der Bühne schwingt. Zumindest letzteres macht Milei in letzter Zeit immer seltener, seine Marotten scheinen die meisten Argentinier ohnehin nicht zu stören. Ich habe überwiegend positive bis enthusiastische Reaktionen von Uber-Fahrern, Ökonomie-Studenten oder Kellnern auf ihn erlebt; nur eine entschlossene Minderheit bleibt klar gegen ihn. Das deckt sich mit Umfragen, nach denen er aktuell in einer ersten Runde einer Präsidentschaftswahl auf beeindruckende 54 Prozent kommen könnte.
Klassisch-liberale Ökonomen hier in Buenos Aires betrachten Milei differenzierter. Sie sind skeptisch gegenüber jedem Personenkult und wissen, vor welcher Aufgabe Milei – und jede Regierung nach ihm – steht. Denn die katastrophale Lage, in der er Argentinien vor zwei Jahren übernahm, ist das Ergebnis eines über Jahrzehnte aufgeblähten, überforderten und von Interessensgruppen („Casta“) dominierten Staates und einer politischen Kultur, in der persönliche Kontakte und dominantes Auftreten mehr bewirken als Sachverstand und Regeltreue.
Schon vor Milei wollten andere Präsidenten mit Korruption und Klientelismus aufräumen – etwa der „neoliberale Populist“ Carlos Menem in den 1990er-Jahren. Seine Bilanz war wohl unter anderem deshalb durchwachsen, da Menem in erster Linie ein Populist und Peronist war, der nur in zweiter Linie (neo)liberale Instrumente nutzte. Bei Milei scheint es umgekehrt. Er ist in erster Linie und aus Überzeugung ein Libertärer, der die populistische Rhetorik und Stilmittel pragmatisch nutzt, um seine Überzeugungen umzusetzen.
Damit stehen die Chancen besser, dass Mileis Reformen bleibende Wirkung entfalten. Doch der Reformweg bleibt schmal, gefährlich und lang, bis er das institutionelle Fundament erreicht. Denn über diesem Fundament hat sich ein Dickicht aus Vettern- und Misswirtschaft gebildet. Provinzen wie Tierra del Fuego hängen an ihren Sonderrechten. Von den gut organisierten Gewerkschaften ist jederzeit mit Widerstand gegen überfällige Reformen zu rechnen. Die Judikative ist weiterhin nur formal unabhängig. Das Steuersystem bestraft oder erschwert trotz deutlicher Verbesserungen noch immer Investitionen. Aufgrund des rigiden Arbeitsmarkts arbeiten vier von zehn Erwerbstätigen weiterhin außerhalb formeller Beschäftigungsverhältnisse. Und die Casta, die ihre Anliegen unter (oder besser: über) wechselnden Regierungen durchsetzte, ist mit Milei nicht einfach verschwunden. Auch Milei braucht Leute mit politischer Erfahrung.
Diese Erfahrung bringen neben einer unbestritten großen fachlichen Kompetenz etwa die Mitglieder der Caputo-Familie mit. Sie waren bereits mit der Macri-Regierung gut vernetzt. Wenn sie nun neben einem Industriemogul (Nicky) den Wirtschafts- und Finanzminister (Luis) und den zentralen Strippenzieher (Santiago) stellen und praktisch überall Mileis Schwester Karina mitmischt, dann erinnert das auf den ersten Blick an eine rechte Version des Graichen-Clans.
Doch die meisten Argentinier verzeihen Milei fragwürdige Verbindungen genauso wie seine Marotten. Dass es Milei im Kern wirklich um das Land und libertäre Reformen geht, darin sind sich fast alle die ihn persönlich kennen einig – auch jene, die inhaltlich mit ihm über Kreuz liegen oder die sein übergroßes Ego kritisieren. Diese Glaubwürdigkeit müssen Milei und seine Getreuen jetzt nutzen. Denn es gibt weiterhin genug zu tun. Zentrale Reformen in den sozialen Sicherungssystemen, dem Arbeitsmarkt, dem Währungsregime, dem Steuersystem, dem Rechtsstaat oder dem föderalen Staat stehen noch bevor. Ohne sie bleiben die kurzfristigen Erfolge prekär.
Die Erfolgswahrscheinlichkeiten sind von Bereich zu Bereich unterschiedlich. Für einen grundlegenden währungspolitischen Strategiewechsel wie der Dollarisierung fehlt Milei vermutlich noch das politische und monetäre Kapital. Politisches Kapital braucht es auch für Reformen im Rechtsstaat, wobei der Weg zu einer wirklich unabhängigen Justiz noch steiniger scheint als der Weg zu einer stabileren Währung. Eine unabhängige Justiz ist aber entscheidend für weitere Reformen wie der Einführung einer echten Schuldenbremse, die Mileis ausgeglichene Haushalte dauerhaft garantieren könnte.
Am konkretesten sind die Hoffnungen, dass die Regierung mit dem Schwung der neuen (einfachen) Mehrheit im Kongress den seit Perons Zeiten absurd verkrusteten Arbeitsmarkt reformiert und ein investitionsfreundliches Steuerrecht angeht. Das neue Parlament tritt in dieser Woche zusammen und Milei startet direkt mit einer umfassenden Reformagenda, die er mit einer positiven „Make Argentina Great Again“-Botschaft verbindet. Damit diese Agenda dauerhaft Erfolg hat, braucht es jedoch mehr als Milei. Er ist auch nur ein Mensch, wenn auch ein sehr spezieller. Eine Mehrheit der Argentinier muss den Wandel wollen – und die Argentinier scheinen dazu bereit zu sein. Leidgeprüft verfügen sie über bemerkenswerten wirtschaftlichen Sachverstand. Besonders junge Argentinier wissen nur zu gut, wie Inflation entsteht, welche Rolle die Finanzmärkte spielen oder wie wertstabil verschiedene Güter sind. Dieses Wissen ist hier seit Jahren lebensnotwendig.
Weniger bekannt sind in Argentinien hingegen die Möglichkeiten, mit robusten Regeln und institutionellen Checks and Balances den diskretionären Entscheidungsspielraum der Politik und die Möglichkeiten zum Machtmissbrauch einzuschränken. Zu oft wurden Regeln in der Vergangenheit ignoriert und Checks and Balances umgangen.
Für mich als Deutschen, der zum Verhältnis von Ordoliberalismus und Populismus forscht und jedem sonst ungefragt die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft als Leitlinie empfiehlt, ist das eine unerfreuliche Randbedingung. Doch die gilt leider mittlerweile auch in Deutschland, wo Schuldenbremsen und Nachhaltigkeitsfaktoren aufgeweicht oder ausgesetzt werden, sobald sie echte Wirkung entfalten. Zumindest dient der aktuelle deutsche Weg heute kaum noch als Vorbild für Argentinien – eher schon umgekehrt. Wenn Deutschland nicht ähnlich entschlossen Reformen angeht wie Argentinien, droht uns ein schleichender Niedergang, den Argentinien bereits hinter sich hat. Es ist fraglich, ob die Deutschen sich dabei das Maß an Lebensfreude und gesellschaftlichem Zusammenhalt der Argentinier bewahren würden.
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Nils Hesse berät und unterstützt die Denkfabrik R21 in Fragen der Ordnungspolitik und der Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft. Er hat Abschlüsse in VWL, BWL, Social Science und Politikwissenschaften und an der Uni Freiburg / Abteilung für Wirtschaftspolitik promoviert. Nils Hesse hat unter anderem als Redenschreiber im Bundeswirtschaftsministerium, Referent beim BDI, Wirtschaftspolitischer Grundsatzreferent im Kanzleramt, Journalist, Economic Analyst bei der EU-Kommission, Lehrbeauftragter und Fraktionsreferent der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gearbeitet. Derzeit arbeitet er an einer Habilitationsschrift zum Thema „Ordoliberalismus und Populismus“.
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