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Corona-Massnahmen: Wir sind unbarmherzig geworden

Die stellvertretende R21-Leiterin Kristina Schröder hinterfragt in einem Artikel in der Tageszeitung „DIE WELT“ den oftmals brachialen Corona-Kurs von Bundesländern und kommunalen Einrichtungen.

“In normalen Zeiten kann ich mir eindeutig Schöneres als St.-Martins-Umzüge vorstellen. Meistens regnet es. Die billige Glühbirne am Laternenstab gibt in der Regel noch vor Ende des Rundgangs ihren Geist auf und ich habe es auch beim dritten Kindergartenkind und zur regelmäßigen wütenden Empörung desselben noch nicht in die Klasse der Mütter geschafft, die dann einen Ersatzstab dabei haben. Und den Weckmann essen meine Kinder auch nie auf, „der ist ja gar nicht süß“, aber zum Verderben des Appetits für das anschließende Abendessen reicht es.

Als unsere Dreijährige aber letzte Woche zusammen mit ihren Kindergartenkollegen vor dem Altar der Kirche stand und mit vor Eifer und Elan wackelnder Bommelmütze möglichst laut „Kommt, wir woll’n Laterne laufen, Kind und Frau und Mann“ sang, da kamen mir die Tränen.

Eigentlich neige ich nicht zu derart emotionalen Ausbrüchen, aber ich war dem Team dieses kleinen Kindergartens so unendlich dankbar, dass diese Veranstaltung nicht abgesagt wurde, wie so viele Laternenumzüge in meinem Umfeld. Und wie in den letzten 20 Monaten das Schulfest, die Klassenfahrt, das Weihnachtsbasteln, die Bundesjugendspiele, das Adventssingen, die Einführungsveranstaltung zur weiterführenden Schule, die Abschieds-Übernachtung im Kindergarten, die Schul-AGs, das Jubiläumsfest der Nachmittags-Betreuung, das Schulschwimmen, der Stadtteil-Weihnachtsmarkt, die Fastnachtsparty, der Chorauftritt beim Oberbürgermeister und das Kennenlernfest für die Familien der neuen Erstklässler. Zwei Einschulungen haben wir in dieser Zeit erlebt, hier gab es immerhin kleine liebevolle Zeremonien, unter strengsten Hygieneauflagen. Die geimpften Großeltern durften trotzdem nicht kommen.

„Es ist eben Pandemie“, wird einem auch von bemerkenswert vielen Eltern mitleidslos beschieden, wenn man den Verlust dieser teilweise unwiederbringlichen Ereignisse für die Kinder beklagt. Es ist eben Pandemie, nicht auszudenken, wenn da „was“ passiert wäre. Und so steuern wir auf einen weiteren kalten Winter zu, in dem auf Grund der dramatisch steigenden Zahlen wieder der als am verantwortungsbewusstesten gelten wird, der möglichst rigoros und unbarmherzig vorgeht.

Auffallend ist dabei aber, dass diese Rigorosität keineswegs für alle gesellschaftlichen Bereiche gilt. Fußballspielen beispielsweise war fast immer möglich. Natürlich nicht für Kinder, aber für den Profifußball. Hier galt das Restrisiko dank eines ausgeklügelten Hygienekonzepts als vertretbar. 2500 Menschen saßen gerade ohne Maske dicht an dicht auf den Zuschauerrängen von „Wetten dass…?“, 9000 tanzten vor einigen Wochen beim „Schlagerboom“ der ARD und letzte Woche schunkelten Zehntausende Narren und Narrelesen durch die rheinischen Innenstädte und vermutlich auch so manchen Partykeller. Unsere beiden großen Töchter, auf deren Schulhof seit Beginn der Pandemie mit Absperrbändern die „Durchmischung“ von Klassen verhindert wird und die in ihrem einen gemeinsamen Jahr in der Grundschule daher kein einziges Mal auf dem Pausenhof miteinander spielen konnten, sahen es mit Staunen.

An Schulen gilt natürlich auch eine konsequente Test- und in den meisten Bundesländern inzwischen wieder zusätzlich eine Maskenpflicht. Während es am Arbeitsplatz bisher weder das eine, noch das andere gab. Aus der Tatsache, dass die Ampel-Koalitionäre als eine ihrer ersten Amtshandlungen endlich die Einführung wenigstens einer 3G-Regel am Arbeitsplatz planen, muss ich wohl schließen, dass es meine Partei war, die dies bisher verhindert hat.

Auf der anderen Seite haben wir Menschen alleine sterben lassen.

Und zwar nicht nur in den ersten dramatischen Wochen der Pandemie. Sondern über viele Monate, als längst klar war, dass man das Risiko einer eingetragenen Infektion durch Angehörige durch eine Kombination von PCR-Test und FFP2-Maske auf ein Minimum hätte drücken können.

Und es hört nicht auf. In meinem erweiterten Bekanntenkreis liegt derzeit eine alte Dame in einem Hospiz, palliativ versorgt. Sie hat fünf Kinder, alle geimpft. Auch wenn diese natürlich bereit sind, sich zusätzlich engmaschig zu testen, dürfen immer nur zwei zu ihr. Und das wird wohl auch für den Zeitpunkt ihres Todes gelten.

„Wie können wir Menschen so etwas anzutun?“, frage ich mich immer wieder, wenn ich von solchen Dingen erfahre. Wie können wir es wagen, Menschen das zu verweigern, was die Autorin Thea Dorn in einem Essay über „den elenden Tod“ am Beispiel des Tods ihrer Mutter lange vor der Pandemie als derart entscheidend für ihren Seelenfrieden beschreibt?: „Ich weiß nicht, ob es mir gelungen wäre, mit ihrem Tod zumindest halbwegs ‚Frieden’ zu machen, wenn ich nicht bis zu ihrem letzten Atemzug hätte bei ihr sein können; wenn ich nicht, wie geschehen, zumindest hätte versuchen dürfen, sie durch meine körperliche Gegenwart und Nähe zu trösten.“

Diese unbarmherzige Rigorosität hätte ich meinem Staat vor der Pandemie niemals zugetraut.

Aber es ist ja auch nicht so, dass jemals eine Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen hat, dass Menschen „wegen Corona“ alleine sterben müssen. Sondern dort wurde sich allenfalls auf „strenge Betretungsbeschränkungen für medizinische Einrichtungen“ geeinigt. Diese wurden dann wie alle anderen MPK-Beschlüsse in den Bundesländern umgesetzt, im Süden der Republik gefiel man sich dabei meist darin, die ohnehin drastischen Maßnahmen noch einmal mit einer besonderen Härte zu interpretieren. Örtliche Gesundheitsämter legten in ihren Verfügungen dann oft auch noch mal eine Schippe drauf. Und manchmal waren oder sind es sogar die Leitungen der Einrichtungen selbst, die die vorsichtigen Öffnungsklauseln für existenzielle menschliche Situationen, die ihnen der Staat noch gelassen hat, dann doch nicht nutzen.

Das alles geschieht in einem Geist, der während der Pandemie in unserem Land um sich gegriffen hat und der von radikalen Ideologien wie „NoCovid“ noch befeuert wird: dem besonderes Verantwortungsbewusstsein zu attestieren, der möglichst rigoros vorgeht. Der versucht, auch noch das kleinste Risiko auszuschließen, koste es, was es wolle. Und so gilt eben – um ein wesentlich weniger existentielles, aber eben auch elementares Beispiel zu wählen – der Schulleiter als besonders verantwortungsbewusst, der die Einschulung der ersten Klassen unter 3G-Regeln veranstaltet, draußen auf dem Pausenhof, mit Maskenpflicht und Kreidekreisen auf den Boden, den die einzelnen Haushalte nicht verlassen dürfen – und dennoch unter Ausschluss der geimpften Großeltern. Und dieser Schulleiter kann ja dann auch abends mit dem guten Gefühl zu Bett gehen „wenn doch irgendetwas passiert ist, kann keiner mir die Schuld geben“. Aber Verantwortung hat er gerade nicht übernommen.

Sondern Verantwortung hat der übernommen, der es mit 3G und einer Veranstaltung im Freien gut sein lässt und damit wahrscheinlich ein geringfügig höheres Infektionsrisiko in Kauf nimmt. Der aber bewusst bereit ist, dieses zu tragen, um den Kindern einen fröhlichen, unbeschwerten ersten Schultag zu ermöglichen – sie haben nur diesen einen im Leben.

Gerade wenn sich die Situation jetzt wieder so dramatisch zuspitzt, gerade wenn wir jetzt wieder über schwere Grundrechtseinschränkungen sprechen, ich gebe zu: sprechen müssen, gerade dann gehört das Ringen um Verhältnismäßigkeit in das Zentrum unserer Überlegungen. Grundrechte dürfen eingeschränkt werden, aber nicht möglichst rigoros, sondern nur, wenn dies geeignet, erforderlich und angemessen ist. Bei vielen Maßnahmen der letzten eineinhalb Jahre, seien es die monatelangen Schulschließungen, die imaginäre 15Km-Leine oder die Ausgangssperren, hat die Begründung, dass diese drei Kriterien erfüllt seien, nicht immer überzeugt. Und in ihrem Wesensgehalt dürfen Grundrechte niemals angetastet werden, auch nicht in einer Pandemie. Ob sich unser Staat an diese elementaren Grundsätze gehalten hat, dazu will sich unser Bundesverfassungsgericht nun wohl tatsächlich mal in der Hauptsache äußern. Nach 20 Monaten dröhnenden Schweigens. Kinder, die bis zu neun Monate nicht zur Schule gehen durften, Menschen, die in ihrem häuslichen Elend aus Gewalt und Sucht allein gelassen wurden und Sterbende, die ohne die Nähe von Menschen, die sie lieben, diese Welt verlassen mussten, werden davon nichts mehr haben.

Zum veröffentlichten Artikel in DIE WELT >

Kristina Schröder

Kristina Schröder ist stellvertretende Leiterin der Denkfabrik R21 und arbeitet als selbständige Unternehmensberaterin, Publizistin und Kolumnistin bei der Tageszeitung WELT. Von 2002 bis 2017 war die Christdemokratin Mitglied des Deutschen Bundestages. Neben ihrem Mandat schrieb sie ihre Dissertation bei dem Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen W. Falter zum Unterschied zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit. Von 2009 bis 2013 war sie Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. „Danke, emanzipiert sind wir selber. Abschied vom Diktat der Rollenbilder“ lautete der Titel ihrer 2012 erschienenen Streitschrift, in der sie für eine Politik der Wahlfreiheit und des Respekt des Staates gegenüber privaten Lebensentwürfen von Frauen und Familien plädiert. Im September 2021 veröffentlichte Kristina Schröder die Essaysammlung "FreiSinnig. Politische Notizen zur Lage der Zukunft". Schröder engagiert sich ehrenamtlich in der schulischen Elternarbeit und als Botschafterin der Initiative Neue soziale Marktwirtschaft.

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