Eine Brandmauer? „Das klingt mir zu panisch“
CDU-Vordenker Rödder über den Umgang mit der AfD
Der Historiker Andreas Rödder hält deutsche Kulturkämpfe für einen Teil „grüner Hegemonie“. Doch was sagt er zum Richtungsstreit in der CDU? Ein Interview.
Von Maximilian Beer | 16.07.2023
Irgendwo zwischen Grünen und AfD verortet sich die CDU. Die Frage ist nur: wo genau? Einer, der den Christdemokraten bei ihrer Positionsbestimmung helfen will, ist der Historiker Andreas Rödder. Als Chef der Fachkommission „Wertefundament und Grundlagen“ arbeitet er mit am neuen Grundsatzprogramm der CDU.
Die Berliner Zeitung hat sich mit Andreas Rödder unterhalten: über den Richtungsstreit in seiner Partei, die Abgrenzung von den radikalen Rechten und seine Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Rödder ist Leiter der konservativen Denkfabrik Republik 21.
Herr Rödder, es ist gerade viel von einer Brandmauer die Rede, einer Brandmauer zwischen Union und AfD. Einige meinen, dass sie bröckle, andere betonen, sie stehe. Was sagen Sie?
Ich halte den Begriff „Brandmauer“ für emotional überhöht. Das klingt mir zu panisch. Dabei sollten wir im Umgang mit Rechtspopulisten doch eigentlich einen kühlen Kopf bewahren. Wir müssen politische Probleme adressieren.
Wieso panisch?
Wer von einer Brandmauer spricht, der signalisiert nicht nur, dass etwas brennt. Er unterstellt, dass wir unmittelbar vor einem Feuersturm stünden, vor der Wahl „alles oder nichts“.
Man könnte durchaus meinen, dass es rechts der Union brenne: Die AfD ist in Umfragen auf Erfolgskurs, im Kommunalen feiert sie erste Wahlsiege. Besorgt Sie das nicht, wenn die besagte Brandmauer Risse bekommt, wenn also manche in der Union glauben, man käme an einer Zusammenarbeit nicht mehr vorbei?
Das meine ich nicht. Natürlich muss sich die Union von Rechtspopulisten abgrenzen. Nur ist es unklug, potenzielle AfD-Wähler undifferenziert auszugrenzen. Genau das geschieht aber durch das Gerede von der Brandmauer. Es suggeriert, dass auf der anderen Seite nur noch verbrannte Erde wäre. Dort sind laut Umfragen aber rund 20 Prozent der Bürger. Wir sollten also auf diese pauschale Emotionalisierung verzichten. Stattdessen müssen wir inhaltlich rote Linien definieren, und zwar zwischen dem, was legitim ist, und dem, was es nicht ist.
Wo verlaufen diese Linien?
Dort, wo es um die Menschenwürde oder demokratische Institutionen geht. Beides darf nicht zur Disposition stehen. Ebenso inakzeptabel sind Geschichtsdebatten, die nur dem Zweck dienen, Tabus zu verletzten. In diesem Sinne ist zum Beispiel die Frage illegitim, ob es den Holocaust gab oder nicht.
Was bedeutet das für den inhaltlichen Umgang mit der AfD?
Die CDU muss Themen aufgreifen, die AfD-Wähler umtreiben. Auf diese Themen muss sie eigenständige Antworten finden. Sie darf sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, indem sie sich von dem Pauschalvorwurf einschüchtern lässt, sie rede der AfD nach dem Munde.
Das gilt dann schnell als „rechts“. Wie finden Sie diese Zuschreibung?
Mir wird viel zu wenig differenziert. In Deutschland sagen wir „rechts“ und meinen rechtsextrem. Es wäre schon ein Gewinn, wenn wir da genauer formulierten. Das Problem ist, dass bestimmte Milieus die Begriffe „konservativ“, „populistisch“, „rechts“ und „rechtsextrem“ vermengen und damit alles delegitimieren wollen, was nur leicht rechts von Rot-Grün steht.
Sie meinen also, dass es neben einem legitimen „links“ auch ein legitimes „rechts“ geben muss.
Ja, klar. Es gibt eine demokratische Rechte. Wobei ich persönlich die Begriffe „bürgerlich“ und „konservativ“ vorziehe.
Was halten Sie denn für eine legitime rechte Position?
Dass Migration gesteuert werden muss, zum Beispiel. Dass man unterscheidet zwischen Asylzuwanderung und regulärer Migration. Auch die Feststellung, es gebe nur zwei biologische Geschlechter, habe ich bislang nicht für rechtsradikal gehalten. Ähnlich ist es beim generischen Maskulinum. Bei all diesen Themen sollten wir kommunikativ abrüsten. Nur so gelingt uns ein Austausch der Argumente, mit anderen Worten: Demokratie.
Was meinen Sie, wie es dazu gekommen ist, dass „rechts“ heute oft als undemokratisch gilt?
Seit den 1980er-Jahren hat sich eine grüne kulturelle Hegemonie in Deutschland etabliert, die Begriffe als Kampfmittel verwendet. Das hat ja auch lange Zeit richtig gut funktioniert. Wenn jemand sagt, dass es zwei Geschlechter gibt, wird dies als transphob und rechts stigmatisiert und damit aus dem Bereich des Legitimen, aus der öffentlichen Debatte ausgegrenzt. Das hat Gegenreaktionen freigesetzt, die ebenfalls zur radikalen Übertreibung neigen. Das Ergebnis ist die öffentliche Polarisierung …
… die Sie einer „grünen kulturellen Hegemonie“ anlasten?
Wo erleben wir denn die Skandalisierung der politischen Rede? Erstens im Bereich von Migration, Integration und Islam, zweitens von Klima und Energie sowie drittens von Geschlecht, Familie und Sexualität. Da sind wir genau bei den bürgerlichen Ordnungsvorstellungen, die seit den 80ern ins Visier grüner Politik geraten sind. Aus Sicht der Grünen ist es legitim, dass sie sich eine andere Gesellschaft wünschen. Ich erkenne übrigens auch den emanzipatorischen Kern von Identitätspolitik an. Das Problem sind die Verabsolutierung und Ideologisierung dieser Positionen – und das Versäumnis der Bürgerlichen, diese Herausforderungen anzunehmen, Debatten zu führen und ihre eigenen Vorstellungen proaktiv zu verteidigen und weiterzuentwickeln.
Wann hat die CDU den Anschluss verpasst?
Nachdem sie 1998 die Macht verloren hatte, war sie ausgelaugt. Zwar hat Wolfgang Schäuble versucht, sie inhaltlich wiederzubeleben, doch er scheiterte an der Parteispendenaffäre. Ich kann verstehen, dass Angela Merkel in den ersten Jahren an der Parteispitze anderes zu tun hatte, als ergebnisoffene Debatten zu führen, weil sie sich in diesem westdeutschen Männerladen behaupten musste. Leider ist das dann aber zum Dauerzustand geworden. Unter Merkel hat die CDU aufgehört, sich intellektuell mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu beschäftigen. Sie hat regiert, darin war sie sich genug.
Tut sich die CDU heute auch deshalb schwer mit einer Neuausrichtung, weil Angela Merkel nicht scheiterte? Sie hatte Erfolg bis zum Schluss, warum also den Kurs ändern?
Da ist gewiss etwas dran. Ganz sicher aber fällt vielen in der Partei eine Neuausrichtung schwer, weil sie dann ihre eigene jüngste Vergangenheit infrage stellen müssten. Menschen mögen keine kognitiven Dissonanzen.
Sie selbst haben einmal geschrieben, dass Konservative morgen verteidigen, was sie heute bekämpfen.
Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man ist verbissen konservativ oder man ist augenzwinkernd konservativ. Verbissen ist, wer jeden Tag davon ausgeht, dass alles den Bach runtergeht und man nichts dagegen tun kann. Augenzwinkernd heißt, die Welt so zu nehmen, wie sie ist, mit all ihren Widersprüchen. Dafür plädiere ich. Das haben die britischen Konservativen schon immer gut gemacht. Der Kern eines gelassenen konservativen Denkens ist der Abstand von Unbedingtheit. Da liegt der große Unterschied zu grüner Ideologie oder verbissenem Kulturpessimismus. Der Mensch ist nicht perfekt. Das vergangene Paradies war gar keines.
Das heißt, die CDU verteidigt in 20 Jahren vielleicht die Gendersprache.
Das hoffe ich nun aufrichtig nicht. Es ist nicht auszuschließen, aber kein Automatismus. Die Zukunft ist offen – das gilt für Konservative ebenso wie für Progressive.
Ist der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther ein augenzwinkernder, gelassener Konservativer, wenn er sich in einem Festzelt auf die Bühne stellt und „Layla“ singt, anstatt sich wie andere über das Gendern und die Grünen zu echauffieren?
Sich kulturpolitischen Debatten ausdrücklich zu verweigern und stattdessen ein Lied über eine „Puffmama“ zu schmettern, entspricht nicht gerade meinem Idealbild eines Konservativen.
Warum gelingt es der CDU nicht, mehr von der Schwäche der Bundesregierung zu profitieren?
Weil es ihr schwerfällt, eine eigene Agenda zu setzen. Sie ist auch gelähmt von der Defensive gegenüber der Beurteilung durch grüne Milieus.
Was macht sie falsch?
Die CDU ist nach wie vor gespalten. Parteichef Friedrich Merz muss stark auseinanderstrebende Flügel zusammenbringen. Wenn er sagt, die Grünen seien der Hauptgegner in der Bundesregierung, sagt eine stellvertretende Parteivorsitzende, die Grünen seien unser Partner. Dabei ist die grüne Partei natürlich die ideologische Triebfeder dieser Regierung. Sie ist nicht der Magnet, an den sich die Union anziehen lassen sollte.
Über die Aussage, dass sie der Hauptgegner in der Regierung seien, wird weiter viel diskutiert. Halten Sie die Reaktionen für übertrieben?
Ja, absolut. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat robuste Zivilität in der Demokratie angemahnt. Keine Beleidigungen, aber weniger Tabus. Bei Friedrich Merz kommt leider hinzu, dass es einen verbreiteten Willen gibt, ihn zu delegitimieren.
Ist er zu sehr Reizfigur für einen Parteichef, für einen Kanzlerkandidaten?
Er wird dazu gemacht …
… von den Grünen, sagen Sie jetzt bestimmt.
Ja, von den Grünen, aber auch von weiten Teilen der Medien – und auch von Teilen seiner eigenen Partei.
An wen denken Sie da genau?
Die Mechanismen sind ja unübersehbar. Klar ist aber, dass Merz eine sehr schwierige Aufgabe hat: Die Partei zu einen und ihr zugleich eine neue Richtung zu geben.
Sind Sie optimistisch?
Ich verliere nie die Hoffnung.
Der Richtungsstreit in der CDU wird mittlerweile offen geführt. Die Ministerpräsidenten Hendrik Wüst und Daniel Günther haben sich öffentlich gegen Friedrich Merz gestellt. Wüst plädiert für einen Kurs der Mitte, Günther mahnt mehr sprachliche Zurückhaltung an. Liegen sie falsch?
Eine CDU, die sich in einer unbestimmten Mitte positioniert, macht sich auf Dauer selbst überflüssig.
Daniel Günther sprach sich gegen „populistisches Draufhauen“ aus, man solle „den Leuten halt keinen Scheiß erzählen“. Das war eine klare Kritik am Stil von Friedrich Merz.
Entschuldigung, aber was meint er denn damit? Wer erzählt denn „Scheiß“? Da müsste Herr Günther etwas deutlicher sagen, von wem oder was er spricht. Stattdessen heißt es dann ja oft, die Union solle „keine Kulturkämpfe“ führen – als hätte Union die Kulturkämpfe begonnen, die man ja nun beim besten Willen nicht übersehen kann, und die nichts anderes als Teil einer grünen Hegemonie sind. Kapitulation durch Ignoranz ist sicher keine Lösung. Ich bin dafür, die Gegenreaktion darauf nicht den Radikalen und Extremen zu überlassen, sondern durch eine rechte Mitte demokratisch zu integrieren.
Nun sind Günther in Schleswig-Holstein und Wüst in Nordrhein-Westfalen ja durchaus erfolgreich, beide haben erst kürzlich Landtagswahlen gewonnen.
Das ist unbestritten. Aber erstens ticken die Uhren im Bund immer anders. Und zweitens könnten wir jetzt anfangen, die Besonderheiten der jeweiligen Landtagswahlen herauszuarbeiten. Und man sollte nicht jeden Erfolg den Landespolitikern und jeden Misserfolg der Bundespartei zuschieben.
Die CDU hat nun einen neuen Generalsekretär, auf Mario Czaja folgte Carsten Linnemann. Ihn kennen Sie ja von der gemeinsamen Arbeit am neuen Grundsatzprogramm. Eine richtige Entscheidung von Friedrich Merz?
Carsten Linnemann ist ein kluger, offener und auch menschlich angenehmer Politiker mit einer klaren christdemokratischen Orientierung. Seine Ernennung ist ein kraftvolles Signal zugunsten einer profilierten, unterscheidbaren Union. Ich gehe davon aus, dass er mehr General als Sekretär sein wird – genau das braucht die CDU.
Sie sagen, die CDU müsse die Themen ansprechen, die AfD-Wähler bewegen. Was bedeutet das in Bezug auf Migration?
Sie muss klarmachen, dass Asyl ein Grundrecht ist, aber kein Umweg für reguläre Migration sein kann. Wer Asyl benötigt, soll es erhalten. Wer keinen Bleibeanspruch hat, darf nicht ins Land kommen oder bleiben dürfen. Zugleich weiß eine bürgerliche Partei natürlich, dass Deutschland Zuwanderung braucht. Die folgt aber einer ganz anderen Logik als das Asylrecht, sie ist so zu gestalten, dass sie den Interessen des Aufnahmelandes entspricht. Wir brauchen also klare Kriterien, genauso wie jedes vernünftige Einwanderungsland. Sei es Australien oder Kanada.
Genau das will doch die Ampel-Regierung, ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild. Zugleich spricht sich eine SPD-Bundesinnenministerin mittlerweile für Asylverfahren an den EU-Außengrenzen aus. Wie soll sich die CDU da noch abheben, wenn sie nicht ganz weit nach rechts ausscheren will?
Wenn die Ampel das auch wirklich umsetzen sollte, dann ist es so. Dann wäre dieser Streitpunkt abgeräumt, was ja nun wahrlich keine Selbstverständlichkeit ist.
Die AfD wurde einst als Anti-Euro-Partei gegründet. Mittlerweile wird sie vor allem wegen ihrer Positionen in der Migrationspolitik gewählt. Wieso konnte sie das Thema kapern?
Weil die Union nach 2015 die Standards der Asylpolitik aufgegeben hat.
Einige Politikwissenschaftler und Studien weisen darauf hin, dass die AfD profitiere, wenn die CDU AfD-Positionen besetze. Das würde demnach auch für die Migration gelten.
Es geht nicht darum, AfD-Positionen zu übernehmen. Es geht darum, Themen mit eigenen Antworten zu adressieren, die AfD-Wähler beschäftigen. Wenn die Union keine Themen aufgreifen soll, nur weil sie die AfD betreibt, dann würde das ja bedeuten, der AfD die vollständige Hoheit über die Agenda der Politik zu übertragen – und die Themen liegen zu lassen, die einen zunehmenden Teil der Bevölkerung umtreiben. Das kann doch nicht wirklich ernst gemeint sein.
Gibt es denn weitere Themen, bei denen die CDU -Wähler von der AfD zurückgewinnen kann?
Beim Klima natürlich, indem sie die Menschen nicht verunsichert und ihnen nicht vorschreibt, wie sie in ihren eigenen Häusern zu heizen haben. Trotzdem kann Klimapolitik effizient und global wirksam sein: Wenn sie auch auf Kernenergie, Carbon Capture und Fracking nach deutschen Standards setzt und sich zugleich darum bemüht, dass in anderen Ländern Emissionen reduziert werden – denn da lässt sich mit gleichen Mitteln viel mehr erreichen. Ein weiteres Beispiel wäre das geplante Selbstbestimmungsgesetz.
Es richtet sich an transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen. Geht es nach der Ampel-Koalition, soll künftig jeder sein Geschlecht und seinen Vornamen nicht nur selbst festlegen, sondern auch in einem einfachen Verfahren beim Standesamt ändern können.
Es ist ja richtig, dass man Menschen, die sich im falschen Körper fühlen, auf dem Weg zu ihrem Geschlechtswechsel unterstützt. Zugleich müssen wir unsere Kinder schützen. Ich halte es für eine Versündigung, wenn man ihnen den Geschlechtswechsel in einem so schwierigen Lebensalter wie der Pubertät einfach macht und sie auch noch darin bestärkt. Da muss sich die CDU im besten Willen zu traditionellen und von der Mehrheit gelebten Werten bekennen. Die man ja unterstützen kann, ohne dabei dumpf Minderheiten zu diskriminieren.
Sie sagen dumpf, aber Betroffene könnten sich durchaus schon davon diskriminiert fühlen, wenn man ihnen den erleichterten Weg zu einen Geschlechtswechsel verwehrt.
Aber die demokratische Öffentlichkeit lebt doch vom Wettbewerb der Argumente. Sie lebt nicht davon, dass eine Seite ihre Gefühle als Standard der Argumentation setzen kann. Man muss also immer den Mut haben, eine argumentative Begründung zu verlangen. Natürlich müssen wir Rücksicht nehmen. Wenn aber die eigene Verletzlichkeit zu einem rhetorischen Instrument wird, um damit politische Meinungen zu unterdrücken, ist das nicht hinnehmbar.
Lassen Sie uns noch über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sprechen. Das Jugendformat Funk hat kürzlich auf Instagram einzelne Politiker von AfD, CDU und CSU als gleichermaßen „rechts“ bezeichnet. In der Union gab es viel Aufregung deshalb. Wird Ihnen das zu kleinteilig?
Nein, wird es gar nicht. Denn dieser Beitrag ist ja nicht kritisiert worden, weil eine Redaktion einmal etwas falsch gemacht hat. Es wurde kritisiert, weil dieser Beitrag als symptomatisch dafür empfunden worden ist, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich parteiisch und in einem zu engen linken Meinungskorridor bewegt. Bei alldem, was ich im ÖRR beobachte, ist das eine gut begründete Kritik.
Was erwarten Sie vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk?
In der politischen Bildung gibt es den Beutelsbacher Konsens aus den 1970er-Jahren. Er besagt, dass das, was in der Öffentlichkeit kontrovers ist, auch in der politischen Bildung kontrovers wiedergegeben werden muss. Und er enthält das sogenannte Überwältigungsverbot, wonach Schülern keine Meinung aufgezwängt werden darf. Beides wünsche ich mir auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Wenn Sie sagen, Sie hielten die Kritik für begründet – haben Sie weitere Beispiele?
Ich könnte jetzt erzählen, wie ich einmal der Moderatorin einer ZDF-Sendung widersprochen habe, nachdem sie die britische Premierministerin Theresa May populistisch genannt hatte, und dann eine Suada der Empörung auf mich gezogen habe, was auch meine letzte Einladung in dieses Format war. Aber ich will nicht so klingen, als würde ich jammern. Es sind viele Kleinigkeiten wie diese, die dann eben keine Einzelfälle sind. Im ÖRR werden diskursive Standards gesetzt, oft unterhalb der Skandalisierungsschwelle. Die Leute haben aber ein Gespür für diese Zwischentöne. Beim ZDF kamen übrigens damals nach der Sendung Leute aus der Technik zu mir und stimmten mir zu. Und der Unmut entlädt sich dann bei einem Beitrag wie dem von Funk, weil man ihn dann endlich einmal konkretisieren kann.
Das Interview führte Maximilian Beer. Es erschien erstmals am 16. Juli 2023 in der Berliner Zeitung.