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Europa hat gewählt

Einschätzungen zur Europawahl vom 9. Juni 2024

von Andreas Rödder

Die zehnten Wahlen zum Europäischen Parlament sind einmal mehr als „Schicksalswahl“ ausgerufen worden. Entgegen manchen Unkenrufen eines „Rechtsrucks“ ist ein Erdrutsch aber ausgeblieben. Die europäische Mitte hat sich stattdessen als recht stabil erwiesen. Nichtsdestoweniger haben sich einige Akzente signifikant verschoben, und sie werden auch die Zukunft der Politik in Europa prägen. Es sind vor allem zwei: das Ende der grünen Hegemonie und die Mäßigung der Europäischen Rechten, vor allem in Frankreich und Italien.

Das Ende der grünen Hegemonie ist schon zu Beginn des Jahres diagnostiziert worden. In Deutschland war es vor allem das als übergriffig verstandene Heizungsgesetz, das den ideologischen Antrieb der grünen Partei freigelegt hat, die Gesellschaft nach dem Bilde der eigenen Weltanschauung umzugestalten. Neben Energie- und Klimapolitik gilt dies für Migration und Integration ebenso wie für das Lieferketten- und das Selbstbestimmungsgesetz oder die Ideen einer „Demokratieförderung“, mit der sich ein akademisch geprägtes Milieu selbst mit Staatsknete alimentiert. Nicht nur Selbständige und Arbeiter, auch die Jungen wenden sich allerdings inzwischen von den Grünen ab. Hier ist ein echter Paradigmenwechsel im Gange.

In ganz Europa schlägt das Pendel nach rechts. Statt dies als „Rechtsruck“ zu brandmarken, wie es öffentlich und medial geschieht, sollte man aber genauer hinschauen. Dann öffnet sich der Blick auf die zweite zentrale Entwicklung: die Mäßigung rechtsradikaler Parteien und ihre Entwicklung hin zur bürgerlichen Mitte, vor allem der Fratelli d’Italia und des Rassemblement national in Frankreich.

Für Deutschland wirft dies die Frage auf, wie stark die AfD mit satisfaktionsfähigem Führungspersonal hätte werden können. Umgekehrt: Dass sie trotz der Skandale um ihre beiden Spitzenkandidaten für die Europawahl als bundesweit zweitstärkste Partei vor SPD und Grünen abschneiden konnte, zeigt das Maß der Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Dass sie von den rechten Parteien in Italien und Frankreich vor die Tür gesetzt worden ist, wirft für die AfD die Gretchenfrage auf: Will sie an ihrem Kurs der Radikalisierung festhalten, der sie ins Ghetto führt – oder will sie auf den Kurs von Meloni und Le Pen einschwenken, sich zur Mitte hin zu mäßigen, den die rechten Vordenker der AfD in Schnellroda für Verrat an der reinen Lehre halten? Das ist die vielleicht spannendste Frage, vor der die deutsche Demokratie steht.

Was Deutschland betrifft, so ist das Ergebnis des Bündnis Sarah Wagenknecht auffällig, das schon jetzt die Linke weitgehend marginalisiert hat. BSW zieht übrigens zusammen mit der AfD eine weitere Trennlinie in die deutsche Parteienlandschaft ein: neu gegen alt – BSW und AfD sind die beiden jüngsten Parteien des deutschen Spektrums, und sie liegen bundesweit bei 22%, in Sachsen über 43%. Jedenfalls zeigt der Wahlausgang in den neuen Ländern, dass die AfD sich dort als stärkste Kraft etabliert hat, dass sich die Verhältnisse extrem schnell wandeln und dass die Wahlen von einer Fülle von Unbekannten abhängen, nicht zuletzt der Frage, wer überhaupt in den Landtag kommt: In Sachsen kämpfen die Linke und alle Ampelparteien mit der Fünf-Prozent-Hürde – ein Drei-Parteien-Parlament aus AfD, CDU und BSW ist ebensowenig undenkbar wie eine absolute Mehrheit für AfD und BSW.

Für die CDU als Scharnierpartei stellt sich spätestens damit die Herausforderung, über solche Konstellationen nachzudenken und strategische Lösungen vorzubereiten. Jedenfalls wird sie gut daran tun, grüne Themen wie das Verbrennerverbot, Kernenergie und Migrationskontrolle konsequent anzugehen und die Grünen auch lebensweltlich-kulturell zu stellen, um eine klare Alternative zu allem zu präsentieren, was inzwischen landesweit als ideologisch grün auf Ablehnung stößt. Dass die CDU nach Lage der Dinge im Bund auf eine Koalition mit den Grünen oder der SPD (die ihren seit zwei Jahrzehnten anhaltenden Abwärtstrend fortsetzt, in dem die Bundestagswahl von 2021 offenkundig einen Ausreißer nach oben darstellte) angewiesen wäre, markiert das strategische Dilemma der CDU. Ihr und FDP bleibt nur, glaubwürdig für bürgerliche Politik einzutreten und sich weder durch mediale Koalitionsspekulationen einschüchtern zu lassen, noch sich selbst vorzeitig festzulegen. Auch wenn der Erdrutsch in Europa ausgeblieben ist: In Deutschland verschieben sich die Verhältnisse erheblich, und neue Herausforderungen verlangen kreative Antworten.

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  • Andreas Rödder

    Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.

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