Grüner Gottkomplex und bürgerliche Suppenkasper
Der Artikel von R21-Geschäftsführer Martin Hagen erschien erstmals am 20. April 2024 im „Cicero“.
Das Volk will politische Zumutungen nicht klaglos hinnehmen? Für die Historikerin Hedwig Richter ein Ausdruck von „Suppenkasper-Freiheit“. In einem Gastbeitrag für die FAZ charakterisiert sie Bürger, die aufs Autofahren nicht verzichten möchten und sich anmaßen, medizinische Entscheidungen wie die Corona-Impfung für sich selbst zu treffen, als trotzige Kinder. Dabei sind in Deutschland nicht eigensinnige Bürger das Problem, sondern ein oftmals übergriffiger Staat.
Die autofreien Sonntage der 70er Jahre hat Richter in bester Erinnerung: Sie seien „mit einem geradezu zauberhaften Glanz ins kollektive Gedächtnis eingegangen“. Dass Verkehrsminister Volker Wissing Fahrverbote verhindern möchte, kann die Professorin für Neuere und Neueste Geschichte deshalb so gar nicht nachvollziehen. Überhaupt ärgert sie sich über die renitente FDP, die immer wieder grüne Projekte durchkreuzt.
Die liberale Partei sei „das hässliche Unterbewusstsein der Deutschen“, giftet sie, welches permanent das vernünftige Über-Ich torpediere. Mit dem vernünftigen Über-Ich identifiziert Richter offenkundig sich und ihresgleichen – jenes politisch und ökologisch korrekte Milieu, das sich moralisch überlegen und im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt.
Die Coronapolitik als Blaupause
Wie der Über-Ich-Erfinder Sigmund Freud derlei Hybris psychologisch gedeutet hätte, ist unbekannt. Sein britischer Freund und Kollege Ernest Jones prägte jedenfalls den Begriff vom „Gottkomplex“. Aus dem Glauben an die eigene Unfehlbarkeit resultiert demnach ein Drang, in das Leben anderer einzugreifen. Dieser Drang ist in der deutschen Politik weit verbreitet.
Gänzlich freien Lauf gelassen wurde ihm während der Corona-Pandemie. Beraten von einseitig ausgewählten Experten und angefeuert von breiten Teilen der medialen Öffentlichkeit, überboten sich Politiker damals mit immer maßloseren und absurderen Vorschriften. Der Staat regelte, wann man die Wohnung verlassen und mit wem man das Weihnachtsfest verbringen durfte. In Hamburg jagten Polizeiautos Jugendliche durch den Park und in Bayern war es zeitweise verboten, alleine auf einer Bank ein Buch zu lesen.
Allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass viele der Maßnahmen unverhältnismäßig, nutzlos oder sogar schädlich waren. Hedwig Richter hingegen sieht in der Coronapolitik eine Blaupause für die Bewältigung künftiger Herausforderungen: Bereitwillig hätte das Volk damals die Zumutungen der Politik in Kauf genommen, schwärmt sie. Die Zweifler und Kritiker bezeichnet sie auch heute noch als „Corona-Leugner“ und „rechte X-Trolle“.
Ein wütendes Wehklagen
Richters Gastbeitrag liest sich wie ein wütendes Wehklagen darüber, dass die Grünen ihre kulturelle Hegemonie verloren haben. Die Demokratie stehe Kopf und strample „suppenkasperisch mit den Beinen“, weil die Regierenden den Egoismus der Regierten nicht entschieden genug in die Schranken wiesen. Sie werde zum „plebiszitären Amor Fati“, weil selbst Cem Özdemir und Olaf Scholz nicht den Mumm hätten, den Bürgern das Fleischessen auszutreiben oder ihrem Ruf nach einer schärferen Migrationspolitik zu widerstehen. Hier klingt die alte deutsche Sehnsucht nach einem starken Mann an, der rigoros und ohne falsche Rücksicht durchregiert. Stattdessen diene sich die Regierung aus Angst vor dem „launischen Souverän“ dem „bequemsten, unbürgerlichsten, am wenigsten republikanischen Teil des Volkes“ an, schreibt Richter. Mehr Herablassung geht nicht.
Freilich: Politik darf sich nicht im Schielen auf Meinungsumfragen erschöpfen. Wie der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel einst anmerkte, kann es nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun – vielmehr gilt es, das Richtige populär zu machen. Doch erstens gibt es darüber, was das Richtige ist, unterschiedliche Ansichten. In der offenen Gesellschaft wird stets diskutiert, ausgehandelt und abgewogen, niemand hat die Wahrheit für sich gepachtet. Und zweitens macht man seine Vorstellungen nicht dadurch populär, dass man Andersdenkende herabwürdigt und beschimpft.
Das ist Demokratie
Wer meint, er könne dem Pöbel vom Elfenbeinturm aus die Leviten lesen und das Leben diktieren, wird scheitern. Dieser hochmütige Paternalismus spaltet die Gesellschaft und ist Wasser auf die Mühlen der populistischen Ränder. Wer Mehrheiten für Veränderungen gewinnen möchte, muss mit Argumenten überzeugen. Er sollte zuhören und Widerspruch ertragen können. Er sollte die Sorgen der Menschen um ihre individuelle Freiheit oder ihren hart erarbeiteten Wohlstand ernst nehmen.
Er sollte außerdem fähig sein, unterschiedliche Lebensrealitäten anzuerkennen (etwa die von weniger gut situierten Menschen oder von denen, die abseits der großen Metropolen leben). Er sollte sein Gegenüber stets als mündigen Bürger begreifen und nicht als erziehungsbedürftiges Mündel. Und er muss auch akzeptieren, wenn die Mehrheit am Ende anders entscheidet, als man es gerne hätte. Das ist Demokratie.