Krisen folgen keinem Drehbuch
Der Historiker Andreas Rödder liefert eine kurze Geschichte der Krise: Warum wir zu wenig aus ihnen lernen und was wir ändern sollten, um auf künftige Umbrüche besser vorbereitet zu sein
Interview: Timo Pache
Herr Rödder, viele Menschen sagen: All das Schlimme in der Welt – es wird mir zu viel. Kennen Sie dieses Gefühl?
Andreas Rödder: Ich kenne es natürlich aus Gesprächen, aber ich persönlich kenne dieses Gefühl ehrlich gesagt nicht.
Das klingt beneidenswert.
Andreas Rödder: Als Historiker bin ich abgehärtet und weiß, dass Menschen dieses Gefühl immer haben: die Menschen im Jahr 1912 genauso wie wir im Jahr 2023. Das ist ein Grundgefühl der modernen Welt, also seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.
Trotzdem bleibt der Eindruck, dass sich die Krisen verdichten: erst die Pandemie, dann der Ukrainekrieg, die Energie- und Gaskrise, jetzt der Überfall der Hamas auf Israel. Sie haben sich intensiv mit der Geschichte von Krisen und unserem Umgang mit ihnen befasst – stimmt der Eindruck?
Andreas Rödder: Ja, natürlich erleben wir eine enorme Verdichtung von Krisen. Übrigens aus zwei Gründen: Weil wir viel direkter und unmittelbarer Zugang zu Informationen haben, ist auch ihr Erleben viel unmittelbarer. Und dann sind es natürlich die Krisen selbst: Dass zwei von drei globalen Krisenherden gerade lichterloh in Brand stehen, und das auch noch direkt vor unserer Haustür, das ist historisch schon eine Besonderheit.
Man fragt sich natürlich: Gibt es da einen Zusammenhang? Oder warum passieren diese Dinge alle ausgerechnet jetzt?
Andreas Rödder: Krisen folgen keinem Drehbuch. Dass die internationale Ordnung von 1990 nach 30 Jahren zusammenbricht, war keine Naturnotwendigkeit. Vielmehr gibt es dafür eine Vielzahl einzelner Gründe, die sich ausgerechnet jetzt so verbunden haben – das hätte auch schon früher passieren können oder auch später. Dass wir auch noch eine Pandemie hatten, hat ja mit den internationalen Konflikten nichts zu tun …
Umgekehrt aber vielleicht schon …
Andreas Rödder: Richtig, umgekehrt gibt es durchaus Zusammenhänge. Die Pandemie hat dazu beigetragen, die internationale Ordnung zu destabilisieren und diese Umbrüche und Konflikte zu ermöglichen.
Die Krisen sind allgegenwärtig, und doch sind wir von jeder immer überrascht. Müssten wir nicht längst in der Lage sein, Krisen früher zu erkennen?
Andreas Rödder: Menschen neigen dazu, kognitive Konsonanz herzustellen – das heißt: Wir können nicht mit Widersprüchen umgehen und wollen alles möglichst stimmig haben. Wir sehen, dass Putin für einen Krieg hochrüstet – tun aber nichts, um uns darauf einzustellen. Gerade weil wir nicht glauben wollen, dass er einen Krieg riskieren wird.
Autosuggestion als Selbstschutz?
Andreas Rödder: Da ist etwas dran. Wer mit allen möglichen Krankheiten rechnet, wird seines Lebens nicht mehr froh.
Wir sehen die Krisen zeitig kommen oder könnten es zumindest, aber so genau wollen wir es nicht wissen. Und werden dann doch immer wieder überrascht.
Andreas Rödder: Wir stoßen auch an Kapazitätsgrenzen. Wir können gar nicht alles in dieser Welt in der realistisch gebotenen Breite durchdringen und verarbeiten. Nur sollte dieser Selbstschutz nicht dazu führen, dass wir selbstgerecht und blind werden.
Dabei ist genau dies ja die häufigste Reaktion auf Überforderung: Ich ziehe mich zurück.
Andreas Rödder: Ja, und diese Haltung ist für mich als Historiker gefährlich. Die Abkehr von der Welt in Verbindung mit der moralischen Überhöhung der eigenen Überzeugungen – da werde ich immer ganz unruhig. Deswegen störe ich mich auch so an der verbreiteten Einschätzung, wir seien am Morgen des 24. Februar 2022 in einer anderen Welt aufgewacht. Die Welt war dieselbe, wir waren nur aus unseren Träumen gefallen.
Wobei das ja noch nicht die Abkehr von der Welt ist.
Andreas Rödder: Doch, das ist für mich das Ergebnis dieser typisch deutschen Selbstgerechtigkeit im „Luftreich des Traums“, von dem Heinrich Heine gesprochen hat, mit der wir zuvor alle Mahnungen und Warnungen in den Wind geschlagen haben.
Nur, was ist die Alternative? Wir brauchen doch Sicherheiten, auf die wir uns verlassen können.
Andreas Rödder: Ja, aber diese Sicherheit muss auf unserer Analyse und unseren Fähigkeiten beruhen und nicht auf Wunschdenken. Die Zukunft ist radikal offen – wir wissen nicht, was kommt. Das gilt im Guten wie im Schlechten: Man darf nicht naiv sein, was wir lange waren, weil wir nicht mit dem Schlechten rechnen wollten. Zugleich darf man aber auch nicht defätistisch sein und das Gute nicht einkalkulieren.
Lesen Sie gerne Science-Fiction?
Andreas Rödder: Lesen nicht, aber ich gucke die Filme – klar! Das Interessante daran ist ja, dass auch diese Welten immer Projektionen unserer Gegenwart sind. Wir erfahren dort mehr über unser Jetzt als über die Zukunft.
Aber wenn die Zukunft radikal offen ist, wie soll ich sie dann abschätzen?
Andreas Rödder: Indem wir den ältesten Fehler der Menschheit vermeiden: die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit als Erwartung der Zukunft fortzuschreiben. In vormodernen Zeiten war Geschichte im Großen und Ganzen zyklisch, die ewige Wiederkehr des Immergleichen. In der Moderne, also seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, stimmt das nicht mehr. Geschichte wiederholt sich nicht. Dennoch machen wir diesen Fehler immer wieder, weil wir Vergangenheit und Gegenwart kennen. Wenn Sie aber über die Zukunft nachdenken, müssen Sie in Szenarien denken. Sie müssen versuchen, die Folgen des eigenen Tuns abzuschätzen, und zugleich überlegen, wie sich die Welt von hier an weiterentwickeln kann. Mit einer großen Bandbreite von Möglichkeiten.
Das klingt sehr anspruchsvoll.
Andreas Rödder: Ja, wahrscheinlich könnte ich gut bezahlte Seminare zu dem Thema anbieten (lacht). Aber im Ernst: Wenn wir dieses Interview im Jahr 1983 geführt hätten, hätten wir doch eine ganze Stunde über die Wiederaufrüstung, den Ost-West-Konflikt, den sauren Regen und das Ozonloch geredet. Was für ein fürchterliches Jahrzehnt stand uns damals bevor – meinten wir. Und dann fiel 1989 die Berliner Mauer, der Ost-West-Konflikt endete, und wir dachten, das sei das Ende der Geschichte. Abgesehen davon, dass auch diese Idee falsch war, weil wir den Zustand von 1989 einfach fortgeschrieben haben: Kaum jemand hätte dies 1983 für möglich gehalten. Wir müssen in Möglichkeiten denken, und zwar im Guten wie im Schlechten, und uns dann vorbereiten. Das ist die Lehre der Geschichte.
Aber wie macht man das?
Andreas Rödder: Es ist eine Frage der Grundhaltung. Früher habe ich meinen Studenten immer gesagt: Misstrauen Sie Ihren Onkels und Tanten, die Ihnen heute ganz sicher erzählen, in welchem Beruf Sie das meiste Geld verdienen werden. Je überzeugter die Ihnen das sagen, desto wahrscheinlicher liegen sie daneben.
Dann lassen Sie uns doch mal konkret werden: Die künstliche Intelligenz ist nicht direkt eine Krise, aber sie löst große Verunsicherung aus. Wie sollten wir uns eine Zukunft mit ihr ausmalen?
Andreas Rödder: Es stimmt, bislang führen wir nur Abwehrdebatten. Und das ist auch nicht ganz falsch, denn natürlich müssen wir KI und auch soziale Plattformen im Netz stärker regulieren, weil sie ansonsten unsere Demokratie gefährden.
Sehen Sie, Sie wehren das auch ab.
Andreas Rödder: Keine Abwehr, aber Differenzierung. Und dazu gehört auch: Was wir weitgehend vernachlässigen, sind die möglichen Produktivitätsgewinne aus der künstlichen Intelligenz. Also, wir fürchten das Ende der Rechtsanwaltsgehilfen und vielleicht sogar des Anwaltsberufs selbst, jedenfalls in Teilen. Aber wir sehen nicht, was all die Menschen künftig anstellen können, die heute noch in Anwaltskanzleien Schriftsätze verfassen. Das gilt aus meiner Sicht auch für die ökonomische Dimension der KI: Möglicherweise werden wir uns in 15 Jahren an den Kopf fassen und sagen: „Meine Güte, guck dir nur diese alberne Diskussion um die 4-Tage-Woche an.“ Weil wir dann ganz anders arbeiten, oder vielleicht auch gar nicht mehr.
Aber da zeigt sich doch auch das Problem: Um die Möglichkeiten der KI auszuloten, braucht man tiefes Wissen. Das ist doch immer eine Aufgabe für einige Eingeweihte, nicht für die breite Masse.
Andreas Rödder: Da bin ich mir nicht so sicher. Der Umgang mit KI ist einerseits eine Frage des fachlichen Wissens, ja, andererseits aber auch von Unterscheidungskraft – mit einem anderen Wort: Bildung. Und warum sollte das nicht für die ganze Bevölkerung gelten? Ich habe die Sozialdemokratie immer für die „Arbeiterbildung“ bewundert, wenn man es Arbeitern möglich gemacht hat, Bücher zu erwerben oder ins Theater, ins Konzert und ins Museum zu gehen. Eine neue Bildungs- und Qualifikationsoffensive mit dem Ziel von Urteilskraft, Mündigkeit und Aufstieg durch Bildung – das wäre ein Anliegen zukunftsgerichteter Politik.
Aber die Politik ist komplett absorbiert vom Krisenmanagement.
Andreas Rödder: Okay, da haben Sie recht. Zwischen Ukrainekrieg, Energiekrise, Inflation und Israel bleibt dafür oft keine Zeit mehr, das stimmt. Dennoch wäre es nötig, denn das ist doch auch die Aufgabe von Politik: die Menschen mitzunehmen, Möglichkeiten aufzeigen und zu eröffnen – sie stark zu machen für eine Zukunft, die eben so radikal offen ist. Zumindest ist das mein Verständnis von Politik.
Es gibt zumindest einen Politiker, der offener kommuniziert, der in Szenarien argumentiert: Robert Habeck. Entspricht das Ihrem Bild?
Andreas Rödder: Ja, Habeck kann man immer wieder beim Denken zusehen, das finde ich im Prinzip gut. Allerdings hat er ja auch den anderen großen Fehler der Politik begangen in diesem Jahr …
Der da wäre?
Andreas Rödder: Er hat auch versucht, die Zukunft per Gesetz festzuschreiben, auf Jahrzehnte hinaus. Das Heizungsgesetz zeigt, was eben auch nicht geht mit der Zukunft: Wir können sie weder sicher vorhersagen noch ideologisch vorschreiben.
Sie haben gesagt, der Mensch habe nur eine begrenzte Kapazität, Krisen zu verarbeiten. Gilt das auch für eine Gesellschaft?
Andreas Rödder: Ich fürchte, ja, wir merken das auch im Moment. Nehmen Sie nur mein Beispiel vom Anfang, das Jahr 1912. Auch damals waren die Menschen zutiefst verunsichert von all den neuen technischen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen – es war zu viel für ihre Möglichkeiten, Krisen zu bewältigen. Und man hat gesehen, dass das nicht gutgehen muss. Man dachte erst, der Erste Weltkrieg sei ein reinigendes Gewitter. Und man hat nicht die Möglichkeit gesehen, dass daraus noch die viel größere Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erwachsen konnte. Ich bin wirklich kein Pessimist, aber wenn ich alle unsere Krisen zusammennehme, dann mache ich mir schon Sorgen.
Das Interview wurde erstmals im Wirtschaftsmagazin Capital am 7. Januar 2024 veröffentlicht.
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