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Foto: Elena Mudd & Frame Stock Footage via Shutterstock

Land of the Free: Das R21-Update zur Wahl in den USA

Am 5. November wählen die USA einen neuen Präsidenten. Die R21-Amerikaexpertin Sarah Pines verfolgt den Wahlkampf vor Ort und ordnet die Ereignisse für unsere Denkfabrik ein. In der ersten Folge unserer Interviewreihe „Land of the Free“ spricht sie über die Verdrängung des klassischen Konservativismus durch Donald Trumps MAGA-Bewegung, das Lügengebäude um Joe Bidens Gesundheitszustand und den medialen Hype um Kamala Harris.

Liebe Sarah, in den Wochen haben sich die Ereignisse in den USA überschlagen. Das TV-Duell, das Attentat auf Donald Trump, die Convention der Republikaner, Joe Bidens Rückzug oder das Endorsement für Kamala Harris: Welches Ereignis hatte den größten Effekt auf den Wahlkampf?

Sarah Pines: Das Duell. Das ganze jahrelang sorgfältig fabrizierte Lügengebäude um Bidens Gesundheitszustand herum krachte zusammen. Es war der fallende Dominostein. Das Attentat hat höchstens die Hinfälligkeit Bidens im Kontrast zu Trump nochmal verdeutlicht und den Druck auf die Demokraten erhöht. Aber denk Dir das TV-Duell weg. Warum hätte sich ein fitter Biden wegen des Attentats zurückziehen sollen?

Das Foto von Trump mit erhobener Faust gehört schon jetzt zu den ikonischsten Bildern der US-Politik. Was sagt dieses Foto über Trump aus, welches Bild vermittelt es und inwiefern könnte das das Wahlverhalten beeinflussen?

Sarah Pines: Auch wenn es nicht populär ist, Positives über Trump zu sagen: Sich im Moment eines Beinahe-Kopfschusses mit erhobener Faust in Richtung seines Fast-Mörders zu stellen und auch noch zum „Kampf“ aufzurufen, braucht Schneid. Trumps schlichtes aber effektives Signal an die, die an ihn glauben, ist: Sich niemals unterkriegen lassen, keine Angst haben. Das Bild vermittelt Stärke, Entschlossenheit, Konzentration, sicherlich auch Waghalsigkeit; Eigenschaften, die an politischen Führungskräften geschätzt werden. Daher wird das Foto beziehungsweise Trumps Reaktion auf das Attentat ihn sicherlich keine Wählerstimmen kosten, eher im Gegenteil.

Seit dem Attentatsversuch sagt Trump auf fast jeder Rede so etwas wie „I took a bullet for democracy“.

Sarah Pines: Es mag bizarr klingen, aber Trump sieht sich als Freiheitskämpfer für die Demokratie, als Kämpfer für alle die, die sich von der Gesellschaft und dem Establishment im Stich gelassen fühlen. Es ist interessant, dass er bereits im August 2017 auf einer Rally in Phoenix von der Liebe als Grundprinzip dieses Kampfes sprach. Ich zitiere: „You always understood what Washington, D.C. did not. Our movement is a movement built on love. It’s love for fellow citizens. It’s love for struggling Americans who’ve been left behind, and love for every American child who deserves a chance to have all of their dreams come true.” Diese kämpfende Liebe ist das Band, das Trump mit seinen Anhängern verbindet. Es ist die vielleicht stärkste Kraft in der gegenwärtigen amerikanischen Politik und sollte nicht unterschätzt werden.

Wie beurteilst Du Trumps Wahl seines „Running Mate“? Was dürfen wir von JD Vance erwarten?

Sarah Pines: Die Wahl ist sehr interessant. Vielen erscheint sie ideologisch und eine Provokation. Vance ist ein Intellektueller, ein Bestsellerautor („Hillbilly Elegy“ erschien 2016), ein Opportunist, ein konvertierter Katholik und ein politischer Eiferer. Einst hasste er Trump, nannte ihn den amerikanischen Hitler. Dann kam die Wende – er habe die Lügen der Massenmedien über Trump ab einem bestimmten Punkt durchschaut, sagt er. Vance glaubt außerdem, dass Trump 2020 die Wahlen „gestohlen“ wurden. Vance ist ein Swing State Kandidat, der Rust Belt mag ihn, die weiße Arbeiterklasse mag ihn, zudem symbolisiert er – aus ärmsten Verhältnissen stammend, dann kam Yale, dann das Silicon Valley – den American Dream in all seiner Radikalität. Vance ist jung, 39 Jahre alt und gerade mal seit 18 Monaten in seinem Amt. Manchen gilt er als unerfahren. Dem Rechtsaußen-Flügel der Republikaner ist seine Ehefrau, Tochter indischer Einwanderer, suspekt. Vance gilt als abschätzig gegenüber kinderlosen Frauen, Frauenrechten und dem Recht auf Abtreibung, obwohl hier medial sehr übertrieben dargestellt wird. Der Tenor der Kritik: Trump und Vance, ein verurteilter Vergewaltiger und ein misogyner Chauvinist, das kann ja nichts werden.

Wofür steht Vance politisch?

Sarah Pines: Wie Trump, möchte Vance „Amerika retten“, den vermeintlichen Verfall aufhalten. Er steht für amerikanischen Isolationismus, spricht sich für Strafzölle auf europäische Länder aus, die Handel mit China betreiben, ist protektionistisch und will die amerikanische Industriebasis aufbauen. Dabei tut er so, als sei dies unter Biden nicht geschehen, was falsch ist. Er kritisiert die EU für ihre Energieabhängigkeit und Deutschland für das, was er als fortgeschrittene Deindustrialisierung empfindet. Wenn für Biden Amerika eher so etwas wie eine Idee ist, an der alle teilhaben können, eben auch die, die hierher migrieren, dann verbindet Vance Amerika mit denen, die quasi auf amerikanischem Boden geboren wurden und wird hart gegen illegale Einwanderung vorgehen. Ich kann mir vorstellen, dass Vance zum Sündenbock wird, sollte Trump die Wahl verlieren.

Die traditionsreiche GOP („Grand Old Party“) scheint komplett von der populistischen MAGA-Bewegung („Make America Great Again“) dominiert. Gibt es Hoffnung, dass sich der Parteiflügel von klassisch-konservativen Republikanern wie Mitt Romney nochmal erholt?

Sarah Pines: Nichts hält für immer. Aber die GOP ist gespalten, die Trump-kritische Fraktion und die Trump-nahe MAGA-„Elite“ verabscheuen einander. Derzeit ist populistisch-reaktionärer Opportunismus beliebter als guter, alter Konservativismus, der nicht genug Wähler anzieht. Die konservative Agenda verblasst und Ideologien treten an Stelle dessen, was bis 2016 noch typisches GOP-Programm war: Steuersenkungen, freie Marktwirtschaft, Schutz des Rechts auf Waffenbesitz, Beschränkung des Rechtes auf Abtreibung, Stärkung der klassischen Familie.

Wie entwickelt sich das seit 2016?

Sarah Pines: Die Republikaner werden zu MAGA. Ein schleichender Prozess. 2020 postulierte das sehr dünne republikanische Wahlprogramm, “the Republican Party has and will continue to enthusiastically support the President’s America-first agenda” und attackierte die Medien. Um Sozialpolitik ging es wenig. Für das Jahr 2024 heißt es: “Now we are a Nation in SERIOUS DECLINE. Our future, our identity, and our very way of life are under threat like never before.” Das Wahlprogramm ist die Vision eines einzelnen Mannes, Donald Trump. Vieles steht sogar in für Trump charakteristischen Großbuchstaben. Er widmet es den „forgotten Men and Women of America“ und verspricht vage: „we will be a Nation based on Truth, Justice, and Common Sense.” GOP-Politik ist zur MAGA-Dystopie geworden, es dräut nur noch die Katastrophe, der endlose Kulturkampf gegen den Deep State, den Wokismus und so fort.

Bei den Demokraten läuft alles auf Kamala Harris als neue Kandidatin raus. Wie wird sie in den USA gesehen?

Sarah Pines: Erst hüh, dann hott. Noch vor einem Jahr war Harris laut einer von NBC geführten Umfrage der/die unbeliebteste Vizepräsidentin in der Geschichte der USA. Harris ist bei jungen und nicht-weißen Menschen beliebt, insgesamt mögen die Menschen ihre Biographie (woman of color, Tochter von Einwanderern) lieber als ihre Politik. Hier gilt sie vielen als charisma- und phantasielose Opportunistin, die lange zwischen extrem linker und eher konservativer Politik oszillierte, wie es gerade passte. Als Staatsanwältin in Oakland hat sie die Todesstrafe abgelehnt, um sie als Kaliforniens Generalstaatsanwältin zu fordern. Als Bezirksstaatanwältin in San Francisco hat sie „non-violent drug crimes“ extrem hart verfolgt, trug den Spitznamen „Kamala Cop“. 2019 berichtete die „Washington Post“ von Harris abschätziger Nachäffung von Inhaftieren, die Wasser und Essen erbitten. Ihr politisches Leben sei härter als das, sagte Harris damals. Später galt sie als „linkeste“ Senatorin der USA, stand Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez nahe, unterstütze den Green New Deal, den sie inzwischen wieder ablehnt.

Derzeit wird sie in den sozialen und klassischen Medien gehyped.

Sarah Pines: Allerdings. Als das Vogue-Magazine Harris 2020 kurz nach dem Wahlsieg der Demokraten auf das Cover brachte und sie in Sneakern und relativ lockerer Kleidung als irgendwie „nahbar“ darstellte, empörte sich die „New York Times“ noch, Harris repräsentiere doch wohl immer noch das Establishment. Heute deklariert die Zeitung sie zur Hoffnungsträgerin für Frauenrechte, spricht vom „Kamala Harris Vibe Shift“. Auf Sozialen Medien ist Harris seit ein paar Tagen das „Brat“, die freche, einer Minderheit entstammende Göre, die den alten, weißen Mann herausfordert. Hat man sich früher von allen Seiten über ihr nervöses und oft unangemessenes Lachen mokiert, ist es nun plötzlich Ausdruck von Wärme und Humor. Derzeit liegt Harris laut Umfragen sachte vor Trump. Doch unter keinen anderen Umständen außer den derzeit vorliegenden wäre Harris Präsidentschaftskandidatin geworden. Dass wissen die Demokraten, die Amerikaner aber auch.

Das Thema Migration ist in den USA ähnlich heiß diskutiert wie in Deutschland. Ist das Harris‘ Schwachstelle?

Sarah Pines: Sicherlich, zumal insbesondere die Republikaner seit Jahren ein falsches Image geschaffen haben, das aber an ihr klebt: Die versagende „Grenz-Zarin“, die nichts im Griff hat, und die sich letztlich nicht dafür interessiert, wer wie ins Land kommt. Befördert wurde das durch einen Fauxpas: In einem Interview mit NBC im Jahr 2021 war Harris gefragt worden – wirklich sehr vorhersehbar – warum sie die Grenze zu Mexiko noch nicht besucht habe. Sie antwortete ausweichend: „Ich war auch noch nicht in Europa“. Vor ein paar Tagen veröffentlichten die Republikaner unter dem Motto „Failed. Weak. Dangerously Liberal“ ein erstes Kampagnenvideo im Fernsehen, das genau diesen Moment wieder aufzeigt. Dabei hatte Biden Harris zwar die Lösung der US-Flüchtlingskrise anvertraut, ihr insbesondere aber aufgetragen, in Ländern wie Guatemala, Honduras oder El Salvador Kollaborationen zu fördern, um vor Ort Fluchtursachen zu bekämpfen. Eine langsame und zähe Arbeit – hier positive Resultate vorzuweisen, dauert Jahre.

Biden galt als moderater Demokrat alter Schule, der bei Arbeitern gut ankam und ökonomische Themen in den Mittelpunkt gerückt hat. Wird bei den Demokraten jetzt die postmaterialistische Linke mit ihrer identitätspolitischen Agenda die Oberhand gewinnen?

Sarah Pines: Hat sie versteckt ja schon länger. Biden hat die Partei nicht mehr geführt und musste zudem den linken identitären woken Flügel mit politischen und personellen Konzessionen ruhigstellen. Auch Harris ist Ausdruck davon. Aber das Wahlsystem setzt Grenzen. Es braucht immer die Mitte bzw. eine Mehrheit. Solange diese Mitte nicht identitär und woke ist, werden die Demokraten sich mäßigen müssen.

Sarah Pines

Sarah Pines ist im Sauerland und in Bonn aufgewachsen, hat Literaturwissenschaft in Köln und an der Stanford University studiert und wurde in Düsseldorf mit einer Arbeit über Baudelaire promoviert. Sie schreibt für die Kulturressorts der ›Zeit‹, der ›Welt‹ und der ›NZZ‹. Pines lebt als freie Autorin in New York. 2020 veröffentlichte sie die Kurzgeschichtensammlung ›Damenbart‹; im August 2024 erscheint ihr erster Roman ›Der Drahtzieher‹.

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