R21 im Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Reitzle
In einem exklusiven Interview mit R21 spricht Wolfgang Reitzle, Wirtschaftsmanager und Chairman der Linde plc, über den Start der Ampel-Koalition, die deutsche Klimapolitik und die Chancen Deutschlands bis zum Jahr 2030 Vorreiter im Bereich der Wasserstofftechnologie zu werden.
Herr Reitzle, sechs Wochen Ampel-Koalition: ist unser Land auf dem richtigen Weg?
Sicherlich ist vieles richtig, was die Ampel-Regierung im Programm hat. Aber die wirklich relevanten Strukturprobleme werden nicht oder kaum angegangen, etwa der zunehmende Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, die Bildungsmisere, die Reform der Sozialsysteme, das Versagen der Administration selbst bei elementaren Aufgaben – zu sehen bei der Flut, der Pandemie oder im Land Berlin.
Diese Probleme mit immer mehr Staat und immer größeren Apparaten bekämpfen zu wollen, wirkt kontraproduktiv. Mehr Menschen machen ein ineffizientes und komplexes System noch ineffizienter und unproduktiver. Ein schlanker Staat, der sich als Dienstleister der Bürger sieht und der Marktwirtschaft statt Planwirtschaft als Grundlage hat, wäre der richtige Ansatz. Auch an konsequenter Digitalisierung, wo immer möglich, geht kein Weg vorbei.
Was muss geschehen, damit unserem Land der Weg in die CO2-Neutralität gelingt?
Die Klimapolitik der Ampel ist die der Grünen. Die Energieversorgung auf regenerative Energien umzustellen ist das Ziel und soll über rigorose planwirtschaftliche Vorgaben erzwungen werden. Dabei wird die Frage, ob dies in einem Industrieland wie Deutschland überhaupt funktioniert, bewusst ausgeblendet.
Der angestrebte Versorgungsgrad mit regenerativ erzeugter Energie in Höhe von 80 % ist illusorisch, weil dann die Volatilität weiter zunimmt. Es stellt sich die Frage, wie aus dieser großen Menge an volatilem Gleichstrom ein stetig verfügbarer (24/7) Wechselstrom wird.
Um regenerativen Strom in diesem Sinne nutzbar zu machen, müssen parallel gigantische Speicher- und Reservekapazitäten und riesige Leitungssysteme gebaut werden. Wenn man das in die Gesamtbetrachtung einbezieht, wird schnell erkennbar, dass der eingeschlagene Weg extrem teuer und in der angestrebten Zeit nicht umsetzbar sein wird.
CO2-Neutralität kann nur dann erreicht werden, wenn man technologieoffen marktwirtschaftliche Selbstregulierungsprozesse in Gang setzt. Es ist zum Beispiel nicht unrealistisch, dass vor der vollständigen Umsetzung des Klimaplans neue, kompakte Nuklearkraftwerke verfügbar sind. Sogenannte Niedrigtemperatur Flüssigsalz-Reaktoren ermöglichen eine risikolose und preiswerte Produktion von grundlastfähigem und CO2-freiem Strom dort, wo er benötigt wird. Ein Großteil des Leitungssystems könnte also eingespart werden.
Die Bundesregierung will bis 2030 Deutschland zum Leitmarkt für Wasserstofftechnologien machen – frommer Wunsch oder machbar?
Voraussetzung für die wirtschaftliche Herstellung grünen Wasserstoffs ist ein extrem niedriger Preis für CO2-freien Strom. Dieser aber wird am Standort Deutschland kaum möglich sein, weshalb die großen Mengen an grünem Wasserstoff in Zukunft aus den Sonnenwüsten der Welt kommen werden. Schon heute steht in Saudi-Arabien Solarstrom für unter 1 $Cent pro kWh zur Verfügung, bei uns kostet er ein Vielfaches.
Ein weiteres Problem für eine zügig steigende Produktionsmenge sind auf absehbare Zeit die nur sehr begrenzt verfügbaren Elektrolysekapazitäten. Der Prozess selbst weist heute auch noch sehr hohe Wirkungsgradverluste auf, weshalb forciert an neuen Elektrolysetechnologien geforscht werden muss.
Für die Übergangszeit ist es also viel wirtschaftlicher, auf Gas und seine Derivate als Basis für industrielle Prozesse zu setzen – in Verbindung mit Carbon Capture Technologien.