Der ÖRR sollte freiwillig Rechenschaft über die Wahrung der Meinungsvielfalt ablegen
Am 15. Oktober 2025 fällte das Bundesverwaltungsgericht ein wegweisendes Urteil: Sofern das mediale Gesamtangebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren regelmäßige Defizite hinsichtlich der Meinungsvielfalt erkennen ließe, kann die Abgabe des Rundfunkbeitrags angefochten werden. Verwaltungsgerichte müssen Verfehlungen prüfen und gegebenenfalls eine Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht einholen. Die Denkfabrik R21 bezieht Stellung zu dem Sachverhalt und fordert: Der ÖRR sollte freiwillig Rechenschaftsbericht ablegen.
„Individueller Vorteil“ als schutzbedürftiges Rechtsgut
Entgegen zahlreicher vergangener Klagen führte die Klägerin im aktuellen Verfahren ein neues Argument an: Den „individuellen Vorteil“, den jeder Bürger vom Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Gegensatz zum privaten Rundfunk erwarten können muss, um sich eine freie unabhängige Meinung bilden zu können. Bislang läge der Vorteil rein in der reinen Anwesenheit und Nutzungsmöglichkeit des ÖRR-Angebots – so stellte es das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 2018 fest[1].
Nach der neuen Argumentation erschöpft sich der individuelle Vorteil nicht mehr nur in der potenziellen Nutzungsmöglichkeit des Bürgers. Er soll vielmehr die Möglichkeit haben, den Rundfunkbeitrag zurückzubehalten, sollte der ÖRR seine Funktion zur Herstellung von Meinungsvielfalt nicht erfüllen. Der Fokus wird damit von der pauschalen Beitragspflicht des Bürgers hin zu einer spezifisch-nachweislichen Leistungspflicht des ÖRR für den Einzelnen gelenkt. Zwar ist diese Leistungspflicht des ÖRR seit jeher im grundgesetzlichen Auftrag (und entsprechenden Staatsverträgen) festgelegt. Erstmals soll sie nun aber an eine Konsequenz gekoppelt sein: Bei Nicht-Erfüllung der Leistungspflicht des ÖRR könnte auch die Beitragspflicht des Einzelnen entfallen. Das würde die Messlatte für den ÖRR zugunsten des Bürgers höher legen. Dieser Argumentation folgt das Bundeverwaltungsgericht mit seinem aktuellen Urteil.
Paradigmenwechsel von der Einseitigkeit zur Gegenseitigkeit
Was dem zugrunde liegt, ist ein echter und auch überfälliger Paradigmenwechsel in der Geschichte des ÖRR. Denn die bisherige Finanzierungsstruktur ist vor allem auf dem Prinzip der Einseitigkeit aufgebaut: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk stellt ein vielfältiges Programm her, aus dem eine freie demokratische Willensbildung der Bevölkerung erwachsen kann. Dieses Konstrukt entstammt der Nachkriegszeit, in der die Bevölkerung von einer propagandistisch-zentralistischen Rundfunkstruktur befreit und entwöhnt werden musste. Entsprechend sollte die Finanzierung des ÖRR unabhängig erstens vom Staat und zweitens von der Beurteilung des Einzelnen gesichert werden. Ein Gegenseitigkeitsverhältnis war unter den Umständen der Entnazifizierung nicht oder nur sehr eingeschränkt vorgesehen.
Vertrauensbildend und vorbeugend: Rechenschaftsberichte des ÖRR
Heute wirkt dieses einseitige Konstrukt antiquiert und dringend anpassungsbedürftig. Der Bürger von heute steht nicht mehr unter dem Eindruck alternativloser, staatlicher Propagandamedien und muss sich nicht mehr neu an demokratische Willensbildung gewöhnen, wie in der Nachkriegszeit. Der Bürger von heute ist per se ein mündiger Bürger. Und er hat eine breite Auswahl an diversifizierten privaten Medienangeboten.
Jedoch bleibt gerade deshalb der Funktionsauftrag des ÖRR vital: Angesichts unüberblickbarer Medienangebote und dahinter liegender ökonomischer Interessen muss der ÖRR eine verlässliche Quelle unabhängiger, sorgfältiger und vielfältiger Informationen sein. Zweifel daran sind seit Jahren evident und Verfehlungen in unterschiedlichen Studien nachgewiesen[2][3]. Eine Möglichkeit, Vertrauen zurückzugewinnen, wäre die freiwillige Rechenschaftspflicht über die Erfüllung des demokratischen Funktionsauftrages. Damit würde der ÖRR einen glaubhaften Paradigmenwechsel von der Einseitigkeit zur Gegenseitigkeit von Sender und Empfänger vollziehen.
R21-Forderungen zur Sicherung der Meinungsvielfalt
R21 schlägt folgende Maßnahmen explizit vor, um einer Klagewelle seitens unzufriedener Bürger vorzugreifen. Wir sind überzeugt: Wenn der ÖRR dieses Urteil als Anstoß für regelmäßige und freiwillige Rechenschaftsberichte nimmt, kann er Vertrauen zurückgewinnen.
- Konditionierte Beitragspflicht:
Die Beitragspflicht (pro Haushalt) soll erhalten bleiben, aber an eine spezifische, regelmäßige Rechenschaftspflicht des ÖRR (bzw. seiner einzelnen Sendeanstalten) zur Wahrung nicht nur der Angebotsvielfalt, sondern dezidiert der Meinungsvielfalt gebunden sein. Der Rechenschaftsbericht erfolgt halbjährlich.
- Rechenschaftsbericht Meinungsvielfalt:
Der Rechenschaftsbericht fußt auf seriösen und transparenten Inhaltsanalysen einer umgrenzten Auswahl an Formaten (bspw. der reichweitenstärksten Abendnachrichtensendungen). Die Analysen basieren auf einem schlanken, kommunikationswissenschaftlich erarbeiteten und juristisch begutachteten Kriterienkatalog. Erarbeitet wird der Katalog von ausgewählten Universitäten und Denkfabriken. Der Kriterienkatalog wird veröffentlicht und jedem Bürger zugänglich gemacht.
- Zurückbehaltungsrecht:
Ist die Wahrung der Meinungsvielfalt nicht gegeben (i.e. wissenschaftliche Kennzahlen zeigen eine signifikante Abweichung), müssen die Senderverantwortlichen Gegenmaßnahmen präsentieren und in einer näher zu definierenden, kurzen Zeitfrist umsetzen. Ist die Meinungsvielfalt danach immer noch nicht gegeben, kann der Bürger diese wissenschaftlichen Analysen von einem Verwaltungsgericht prüfen lassen, wie im aktuellen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vorgeschlagen.
- Ergänzung einer unmittelbaren Kontrollinstanz:
Bislang sind die ARD-Rundfunkräte bzw. der ZDF-Fernsehrat die einzigen Kontrollgremien, welche die Erfüllung des ÖRR-Funktionsauftrages und somit der Meinungsvielfalt überwachen. Diese Kontrollgremien sind mittelbar. Wir schlagen vor, mit der Rechenschaftspflicht des ÖRR eine unmittelbare Kontrollkomponente zwischen ÖRR und Rezipienten hinzuzufügen, gemäß dem Prinzip der Gegenseitigkeit.
[1] BVerfG, 18. Juli 2018 : „In der Möglichkeit der Nutzung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in seiner Funktion als nicht allein dem ökonomischen Wettbewerb unterliegender, die Vielfalt in der Rundfunkberichterstattung gewährleistender Anbieter, der durch authentische, sorgfältig recherchierte Informationen Orientierungshilfe bietet, liegt der die Erhebung des Rundfunkbeitrags als Beitrag rechtfertigende individuelle Vorteil.“
[2] Marcus Maurer et al. 2024: „Fehlt da was? Perspektivenvielfalt in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformaten“, Institut für Publizistik, Universität Mainz
[3] Thomas Petersen 2021: „Die Mehrheit fühlt sich gegängelt“, Institut für Demoskopie Allensbach
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Alice Klinkhammer ist promovierte Kommunikationswissenschaftlerin und leitet die R-21-Initiative für einen besseren öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ihre Analysen finden Sie hier.
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