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Foto: Denkfabrik R21

Werden wir zu einer Gemeinschaft von Vulnerablen? Es wäre fatal.

von Andreas Rödder

Der Beitrag wurde erstmals am 26. Oktober 2024 in der „NZZ“ veröffentlicht.

Ein neuer Leitbegriff hat das Denken und Reden über die Gesellschaft erobert: „Vulnerabilität“, neulateinisch für Verwundbarkeit oder Verletzlichkeit. Er stammt zunächst aus der Medizin und der Psychologie, hat zuletzt aber immer breitere Anwendung gefunden: in der Ökonomie und der Soziologie, in Theologie und Ökologie, Informatik und Komplexitätsforschung, auf den Klimawandel und die Gesellschaftsanalyse.

Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz erklärt, dass die Moderne immer schon zu Verlusten geführt habe. Sie habe diese aber durch den Glauben an den Fortschritt oder die Hoffnung auf eine bessere Zukunft kaschieren können. Oder sie habe Verluste wie die Verproletarisierung durch die Erfindung der Sozialversicherung oder das Waldsterben durch die Einführung von Entschwefelungsanlagen bearbeitet. Klimawandel, demographische Alterung, unkontrollierte Migration, Krieg und Gewalt bescherten der Gegenwart aber eine neue Dimension von Verlustschüben, die sich nicht einfach kaschieren oder bearbeiten ließen und ein neues Bewusstsein für Verluste und Verletzungen erzeugten.

Während Reckwitz analysiert, spricht die amerikanische Philosophin und Queer-Theoretikerin Judith Butler in normativer Absicht von der Gemeinschaft der Vulnerablen, die sie der bürgerlichen Leistungsgesellschaft autonomer, souveräner Individuen mit Abwehrrechten gegenüber anderen und dem Staat in der Tradition der Aufklärung entgegensetzt. Die von Butler vertretene Weltsicht schaut vor allem auf gruppen- und herkunftsbezogene Benachteiligung und Marginalisierung. Statt auf den Wettbewerb der Leistungsfähigen zielt sie auf den Schutz der Verletzlichen, wobei vor allem das Empfinden von Verletzung zählt und die Perspektive der Opfer Vorrang besitzt.

Dieser Ansatz ist empathisch und achtsam. Er führt aber zu einer Reihe von problematischen Konsequenzen. Wenn Benachteiligung der Grund für Ausgleichsmaßnahmen ist, dann schafft dies den Anreiz, immer neue Benachteiligungen geltend zu machen. Die deutsche Antidiskriminierungsbeauftragte würde ihre Existenz samt ihrer Ressourcenausstattung in Frage stellen, wenn sie das Ziel ihrer Beauftragung erreichte. Die systemimmanente Konsequenz ist die Behauptung immer neuer Diskriminierungen.

Dies verstärkt ein negatives Selbstbild, ja die Selbstpathologisierung einer Gesellschaft, die sich selbst als strukturell diskriminierend empfindet und aus dieser Wahrnehmungsspirale nicht herauskommt. Die systemischen Anreizwirkungen von Benachteiligung als Vorzug setzen zugleich eine weitere Spirale der Opferkonkurrenz und neue Machtkämpfe in Gang: Wer kann die Anerkennung des eigenen Benachteiligtenstatus durchsetzen? Queers haben diskursive Macht, Migranten finden öffentliche Fürsprecher, nicht erwerbstätige Mütter haben wenig öffentliche Lobby.

Judith Butler persönlich steht für ein weiteres Problem der dichotomischen Denkform in den Kategorien von Opfern und Tätern. Weil der globale Süden als Opfer, der Westen hingegen als Täter gilt, akzeptiert sie Queerfeindlichkeit, Misogynie, Antisemitismus und Gewalt durch Muslime, die sie bei weißen Männern bekämpft (und ihnen als strukturell unterstellt). Solch eklatante Doppelstandards sind die Konsequenz eines Denkens, das die Standards eines universalen Rationalismus als westliches Machtkonstrukt ablehnt – und damit die Grundlagen einer rationalen gesellschaftlich-politischen Selbstverständigung zurückweist. Stattdessen bleibt nur der Rekurs auf die tiefere Einsicht einer volonté générale, die sich dem demokratischen Diskurs entzieht – und die höhere Macht eines autoritären Staates.

Schließlich ist eine solche von Verletzung und Opfern geprägte Gesellschaft im wörtlichen Sinne passiv. Auf der Strecke bleibt demgegenüber die Dynamik der bürgerlichen Leistungsgesellschaft. Was dies bedeutet, erfährt Deutschland gerade schmerzlich, dass die Früchte seiner Innovationskraft in den letzten Jahren verzehrt und in erheblichem Maße an Dynamik verloren hat.

Und was ist mit Verletzungen und Opfern? Natürlich erzeugt die bürgerliche Gesellschaft Benachteiligungen und Verlierer. Sie sind aber nicht die Grundlage dieses Gesellschaftsmodells, sondern eine Folge. Und das Geheimnis der bürgerlichen Gesellschaft lag immer in ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur – von der Sklavenemanzipation bis zur Herstellung von Entschwefelungsanlagen und Impfstoffen. Auf einer solchen Basis und vor ihrem historischen Hintergrund hat die bürgerliche Wettbewerbsgesellschaft autonomer Individuen allen Anlass zu einem selbstbewusste, aber auch handlungsbereiten Zukunftsoptimismus, auch im Hinblick auf Klimawandel, Demographie, Migration und selbst auf die Deutsche Bahn: Yes, we can!

Andreas Rödder

Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.

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