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Die wahre Zeitenwende

Massenmigration, marode Infrastruktur, staatliche Übergriffigkeit: Das vereinte Europa nach 1990 ist gekennzeichnet von Überambition und Unterperformanz. Kann der daraus resultierende Pendelschlag nach rechts noch in der Mitte abgefangen werden?

Der Text erschien erstmals in der Printausgabe des Cicero 9/2025. 

„Zeitenwende“ dürfte der Begriff sein, der die kurze Kanzlerschaft von Olaf Scholz historisch überdauert. Dabei hat er selbst die Dimension seiner Diagnose offenkundig gar nicht überblickt. In einem Artikel über „The Global Zeitenwende“ in Foreign Affairs sprach er Ende 2022 viel mehr von Kontinuitäten als von Neuausrichtungen. Und auch der Zusammenhang mit den inneren Entwicklungen westlicher Gesellschaften blieb außen vor. Dabei vollzieht sich gerade eine doppelte, wenn nicht gar dreifache Zeitenwende: ein Paradigmenwechsel sowohl auf internationaler wie auch auf politisch-kultureller Ebene.

Geopolitisch hat sich ein neuer Ost-West-Konflikt eingestellt. Er ist, anders als der erste Kalte Krieg nach 1945, nicht von politischen Ideologien im engeren Sinn getrieben. Er ist diffuser, was die Akteure, die Konfliktgegenstände und die Schauplätze angeht, dadurch aber auch weniger berechenbar und noch explosiver. In diesem Konflikt beansprucht ein revisionistischer globaler Osten hegemoniale Herrschaftsräume, in denen regionale Vormächte über die Souveränität untergeordneter Staaten bestimmen, Russland etwa über die der Ukraine oder China über die Taiwans. Damit fordert er einen globalen Westen heraus, dessen Vorstellung einer regelbasierten internationalen Ordnung auf der Integrität und der Selbstbestimmung souveräner Staaten sowie auf grundlegenden Menschenrechten beruht.

Die Frage ist allerdings, ob die USA unter der Präsidentschaft Donald Trumps noch die Vormacht dieses Westens und der liberalen Ordnung sind. Sollten sie sich davon grundsätzlich abwenden, dann wäre dies eine zweite internationale Zeitenwende, vergleichbar mit dem amerikanischen Rückzug aus Europa nach dem Ersten Weltkrieg. Die Zeichen sind allerdings alles andere als eindeutig. Die Angriffe gegen Iran sprechen weder für einen neuen amerikanischer Isolationismus, wie ihn rechte Republikaner fordern, noch für einen neuen Transaktionalismus, wie Trump ihn Putin gegenüber anzuwenden schien und der im Ergebnis hegemoniale Vormachtansprüche befördern würde.

Die USA stehen auch im Zentrum der anderen, einer politisch-kulturellen Zeitenwende. Die Wiederwahl Donald Trumps ging mit der Devise „woke is broke“ einher, und seine Regierung hat sogleich energische Schritte gegen DEI, gegen jahrelang etablierte Maßnahmen zugunsten von Diversität, Gleichstellung und Inklusion unternommen. Vizepräsident Vance hat zugleich auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2025 klar gemacht, dass Fragen der politischen Kultur kein Schaum auf der Welle sind, sondern die Tiefenströmung, auf der die Welle geht. Viele westliche Gesellschaften erleben einen Pendelschlag nach rechts, und die entscheidende Frage lautet: Wird er in der rechten Mitte abgefangen, oder schlägt er nach rechts außen durch?

Die Ordnung von 1990 und ihre Feinde

„Ich hoffe, dass von den hier Anwesenden niemand an den Unsinn glaubt, dass eine der Seiten den Sieg im ‚Kalten Krieg‘ davongetragen habe.“ Michail Gorbatschows Äußerung gegenüber dem amerikanischen Präsidenten George Bush am 31. Mai 1990 war ebenso falsch wie aufschlussreich. Natürlich hatte die Sowjetunion den Kalten Krieg verloren: Ihre Satellitenregime in Ostmittel- und Südosteuropa brachen 1988/89 zusammen, und als der Warschauer Pakt 1991 aufgelöst wurde, stand aus russischer Perspektive das Schlimmste noch bevor: die Auflösung der Sowjetunion, mit der Russland auf die Grenzen von etwa 1650 zurückgeworfen wurde. Das war, was Wladimir Putin 2005 als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete. Und es gibt guten Grund zu der Annahme, dass es vor allem die unverarbeitete Niederlage von 1989/91 ist, die den russischen Revisionismus im 21. Jahrhundert antreibt.

Die chinesische Führung war fest entschlossen, ein solches Schicksal zu vermeiden – und schlug daher im Juni 1989 die Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking mit militärischer Gewalt nieder. Peking passte sich der liberalen Ordnung aber strategisch an, von der China in seinem einzigartigen ökonomischen Aufstieg insbesondere nach dem Beitritt zur WTO 2001 erheblich profitierte. Dass die kommunistische Führung den westlichen Universalismus der liberalen Ordnung freilich niemals teilte, offenbarte das Dokument Nr. 9 „zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“, mit dem Xi Jinping 2012 westlichen Vorstellungen von Demokratie und Zivilgesellschaft, Neoliberalismus und Pressefreiheit den Kampf ansagte. Stattdessen strebte er die „Erneuerung der chinesischen Nation“ an, die auf die imperiale Vormachtstellung des „Reichs der Mitte“ vor dem Eingreifen westlicher Mächte seit 1839 Bezug nahm.

In der Ordnung von 1990 war mithin ein grundlegender Ordnungskonflikt angelegt. Sie beruhte auf westlichen Institutionen aus der Zeit des Ost-West-Konflikts: einer vertieften EU und einer reformierten NATO, die binnen 15 Jahren nach Ostmittel- und Südosteuropa erweitert wurden. Und sie beruhte auf den westlich-liberalen Werten, die in der „Charta von Paris für ein neues Europa“ vom November 1990 niedergelegt wurden: Integrität und Selbstbestimmung souveräner Staaten, einschließlich des Rechts, „ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen“, das heißt ihre Bündnisse zu wählen – das war das Grundgesetz der liberalen Ordnung von 1990 zwischen den Staaten. Damit aber nicht genug, erstreckte sie sich auch auf die Ordnung innerhalb der Staaten. Die Charta von Paris verpflichtete ihre Unterzeichner auf die Demokratie als einzig legitime Regierungsform, auf das Bekenntnis zu Menschenrechten und Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Pluralismus als inneren Organisationsprinzipien. Hinzu kam der Washington Consensus als wirtschaftliches Ordnungsprinzip. Er setzte auf Haushaltskonsolidierung und Währungsstabilität, Wettbewerb und Angebotsorientierung, Liberalisierung der Handelspolitik und Deregulierung von Märkten und Preisen sowie Privatisierungen und Abbau von Subventionen.

Die Euphorie der Charta von Paris spiegelte die westliche Erwartung vom „Ende der Geschichte“ wider, an dem sich die liberale Ordnung weltweit verbreiten würde. Mit dem hegelianischen Anspruch, das Ziel der Geschichte zu kennen, bediente sich der Westen im Sieg über den Kommunismus dabei ironischerweise eines marxistischen Werkzeugs – und stand damit vor demselben Dilemma wie der Marxismus: Wenn man den gesetzmäßigen Lauf der Geschichte kennt – kann man ihn dann einfach abwarten, oder müsste man ihm doch nachhelfen? Für Kommunisten war das Mittel der Wahl die Revolution. Für den Westen der Demokratieexport und die promotion of freedom.

Das galt insbesondere für den war on terror der Regierung George W. Bush. In einer Verbindung aus Furcht, Macht und Hybris (Melvyn Leffler) gab Washington nach dem 11. September 2001 die traditionelle Leitlinie, den Status quo im Nahen Osten zu bewahren, zugunsten des regime change auf. Im Krieg gegen den Irak 2003 waren die USA, mit einem falschen Kriegsgrund und westlichen Vorstellungen von Freiheit und Demokratie einmarschiert, allerdings völlig unzureichend darauf vorbereitet, eine tragfähige Neuordnung an Stelle des gestürzten Regimes zu schaffen. Das Ergebnis waren eine Destabilisierung der Region sowie ein eklatanter Glaubwürdigkeitsverlust der USA und der liberal order.

Fünf Jahre später folgte ein Glaubwürdigkeitsverlust des westlichen Wirtschaftssystems mit der Weltfinanzkrise von 2008. Der chinesische Premierminister Wen Jiabao bescheinigte dem Westen ein „nicht nachhaltiges Entwicklungsmodell“, und in Peking wurde die Krise als Zeichen des Abstiegs der westlichen Ordnung gedeutet.

Die grüne Hegemonie, die Überspannung der liberalen Demokratie und die neurechte Reaktion

Die Weltfinanzkrise zog einen Paradigmenwechsel der öffentlichen Meinung auch in den westlichen Gesellschaften nach sich. „Öffentliche Meinung“ definierte Elisabeth Noelle-Neumann als Meinungen im kontroversen Bereich, die man äußern kann, ohne sich zu isolieren. In diesem Sinne ist öffentliche Meinung das, was der italienische Marxist Antonio Gramsci als „kulturelle Hegemonie“ bezeichnet hat. Als Set allgemein und öffentlich zustimmungsfähiger Ideen verleiht „kulturelle Hegemonie“ die eigentliche Macht im Staate. Denn sie legt fest, was überhaupt öffentlich gesagt und damit gemacht werden kann, bevor ein Parlament abstimmt oder ein Politiker entscheidet.

Solche kollektiven Ordnungsmuster sind freilich nicht statisch, sondern sie verändern sich. Sie bauen sich über längere Zeit am Rande der Gesellschaft gegen das herrschende Paradigma auf. Und sie können von einem Moment auf den anderen umkippen.

So geschah es auch 2008. Die Weltfinanzkrise erschütterte den Washington Consensus – und ein gesamtes politisch-kulturelles Paradigma, das Märkte für die überlegene, weil rationale und effiziente Form der Ordnung hielt und die gesamte Gesellschaft nach marktförmigen Mechanismen umgestalten wollte, bis hin zur „unternehmerischen Universität“ mit CEO und Aufsichtsrat, die Studenten zu Kunden machte.

Dieses neoliberale Paradigma verlor mit der Weltfinanzkrise seine Glaubwürdigkeit und machte die Bühne frei für die kulturelle Hegemonie eines postmodernen und postkolonialen Denkens. Ausgehend von den Universitäten in Paris und Berkeley war es seit den 1970er Jahren intellektuell fundiert und konzeptionell entwickelt worden und von den akademischen Höhenkämmen in die Breite der westlichen Gesellschaften durchgesickert.

In Deutschland kann man es als grünes Paradigma bezeichnen, ohne dass es an die grüne Partei gebunden oder auf sie beschränkt gewesen wäre. Vielmehr handelte es sich um ein allgemeines Muster zustimmungsfähiger Vorstellungen. So wie die Regierungen Blair oder Schröder um die Jahrtausendwende das neoliberale Paradigma exekutiert hatten, so wurde die Regierung Merkel vom Atomausstieg bis zur Migrationspolitik zur Ausführenden des grünen Paradigmas.

Damit sind die „kontroversen Bereiche“ genannt, von denen Elisabeth Noelle-Neumann gesprochen hatte: Klima und Energie, Migration und Integration, Geschlecht und Sexualität. Hinzu kommt der Mechanismus der Isolierung. Zum Instrument dafür wurde Moralisierung. Denn Moral ist nicht verhandelbar, sondern folgt dem dichotomischen Schema gut gegen böse.

So legte der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung 2011 einen „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ hin zu Klimaschutz und einer gerechten neuen Weltordnung vor. Der Anspruch war kaum zu überbieten: eine dritte Revolution der Weltgeschichte als „umfassende[r] Umbau aus Einsicht, Umsicht und Voraussicht“, moralisch auf einer Stufe mit der Abschaffung der Sklaverei und der Ächtung von Kinderarbeit. Widerspruch wurde damit automatisch auf eine Stufe mit der Befürwortung von Sklaverei und Kinderarbeit gestellt. Und wer mit dem Etikett „Klimaleugner“ belegt wurde, erlebte den Ausschluss aus einer Debatte, die es ohnehin gar nicht geben konnte. Denn der „demokratiepolitische Clou“, so einer der Autoren, lag in der „Umsetzung objektiver Notwendigkeiten in normative Verhaltensweisen“.

Analoge Mechanismen griffen im Bereich von Migration und Integration. Kritiker der Politik von 2015 oder der Seenotrettung im Mittelmeer wurden als „rassistisch“ oder „menschenfeindlich“ bezeichnet. Im Bereich von Geschlecht und Sexualität galt als „transphob“, wer die Existenz von zwei Geschlechtern behauptete. Und das Selbstbestimmungsrecht von 2024 stellte die Ansprache einer transsexuellen Person mit ihrem Herkunftsnamen unter Strafe.

Die deutsche Ampel-Regierung stellte die Kulmination dieses grünen Paradigmas dar. Minderheitenrechte waren nicht mehr Abwehrrechte gegen den Staat, um eine Tyrannei der Mehrheit zu verhindern, wie sie Alexis de Tocqueville als Gefahr der Demokratie identifiziert hatte. Sie begründeten vielmehr den Anspruch von Minderheiten auf aktive Umgestaltung der Gesellschaft im Zeichen von Gleichstellung und Diversität. Dahinter steht ein Selbstbild der Vulnerabilität: der strukturellen Benachteiligungen und Verletzungen durch eine bürgerliche Leistungsgesellschaft, die als zerstörerisch und strukturell diskriminierend erachtet wird. Dass eine Frauenquote für Aufsichtsräte einer kinderlosen Unternehmertochter aus München-Bogenhausen den Vorzug vor einem dreifachen Familienvater aus Berlin-Neukölln gab, oder dass Wahrnehmungen von Diskriminierung auch durch Antidiskriminierungsprogramme erzeugt werden – solche Widersprüche wurden nicht offen diskutiert, sondern mit dem Anspruch der „Diversität“ aus der Debatte ausgeschlossen.

„Kulmination“ bedeutet freilich nicht nur einen Gipfelpunkt, sondern auch einen Richtungswechsel. In der Tat war der Zenit der grünen Hegemonie mit der Ampel-Regierung erreicht und überschritten. Im Juni 2023 wurden auf einer Demonstration im bayerischen Erding die öffentlichen Widerstände sichtbar, an denen das symbolbeladene Heizungsgesetz des grünen Wirtschaftsministers scheiterte. Verstärkt wurde diese Richtungsumkehr durch das Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023, indem die darauf folgenden Demonstrationen in Europa das Phänomen des durch Migration aus der arabischen Welt importierten Antisemitismus auf die öffentliche Tagesordnung setzten. Zur Ikone wurde schließlich die Wiederwahl Donald Trumps als US-Präsident im November 2024. Was Niall Ferguson als „vibe shifts“ bezeichnet, ist ein neuerlicher politisch-kultureller Paradigmenwechsel im Range desjenigen von 2008.

Diese Gegenbewegung wird üblicherweise mit dem Verlegenheitsbegriff des „Populismus“ bezeichnet. Linker Populismus formierte sich in Europa in den frühen 2010er Jahren im Gefolge der Euro-Schuldenkrise in den von den Rettungsmaßnahmen betroffenen Staaten wie Griechenland und Spanien. Aber auch die AfD entstand im Gefolge der Euro-Rettungspolitik und gewann nachhaltige Stärke durch die Opposition gegen eine Migrationspolitik, die zum Motor des europäischen Rechtspopulismus seit 2015 wurde.

Dabei handelt es sich um mehr als bloßen „Populismus“, was ja nur einen Modus beschreibt. Es geht vielmehr um neurechte Reaktionen auf Performanzprobleme und Leistungsdefizite der westlich-demokratischen Ordnungen, die sich nach 1989 in Ermangelung des alten kommunistisch-diktatorischen Gegenübers zunehmend als „liberale Demokratie“ bezeichneten. Es ist kein Zufall, dass die Probleme in den Politikbereichen auftraten, die seit den 90er Jahren der europäischen Ebene überstellt und damit nationalen politischen Entscheidungen entzogen wurden: Währungsfragen regelte die Währungsunion, Migrationsfragen die Dublin-Vereinbarungen. Datenpolitik liegt bei der europäischen DSGVO, und der Europäische Gerichtshof geriert sich zunehmend als europäisches Verfassungsgericht. Auch in Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Klimaurteil von 2021 die Spielräume demokratischer Mehrheitsentscheidungen durch Rechtsvorgaben eingeengt.

Solche weitgehenden Verrechtlichungen der Politik führen indessen zur Entpolitisierung der Politik – und zu einer Politisierung des Rechts. Der deutsche Verfassungsschutz hat die interne bürokratischen Maßnahme einer Hochstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ mit absehbar maximaler politischer Wirkung öffentlich kommuniziert und sich damit zum politischen Player gemacht.

Europäisierung, Verrechtlichung, Moralisierung: Der Politikwissenschaftler Philipp Manow spricht vom „liberal overstretch“, der Überdehnung der „liberalen Demokratie“, die nach 1990 zu einem normativ überhöhten und ebenso wie die „Mitte“ oder die „Zivilgesellschaft“ zum politischen Kampfbegriffen geworden ist. Das Adjektiv „liberal“ bedeutet dabei nicht, so der Verfassungsrechtler Frank Schorkopf, „weniger staatliche Intervention und mehr individuelle Freiheit und Selbständigkeit. Liberal bedeutet stattdessen eine ausdifferenzierte staatliche Kontrolle über die Gesellschaft und weitreichende Begrenzung kollektiver Selbstbestimmung durch ein spezifisches Ensemble von Institutionen.“

Den eigenen Anspruch auf Moral und Wahrheit an die Stelle des Mehrheitsprinzips der Demokratie zu setzen, hat zur Polarisierung der politischen Öffentlichkeit geführt. Selbstgewisse Vertreter „unserer Demokratie“ stehen einer Opposition gegenüber, die entweder den Anspruch erhebt, ihrerseits die wahre Demokratie gegenüber dieser „liberalen Demokratie“ zu verkörpern – oder die von der grundlegenden Unfähigkeit demokratischer Systeme ausgehen, um die Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Begriffe wie „Postliberalismus“, „Neo-Integralismus“ oder „dunkle Aufklärung“ stehen dabei für neurechte Theoriebildungen vor allem in Nordamerika, deren politisch-intellektuelle Dimension der postmodernen Revolution vor einem halben Jahrhundert nicht nachsteht – allerdings mit erheblich beschleunigter Transmission zwischen politischer Theorie und einer Regierungspraxis mit dem Anspruch Donald Trumps, „den Sumpf trockenzulegen“. Was Washington inside the beltway, ist Berlin innerhalb der Ringbahn. Die Konstellationen sind ähnlicher, als es oftmals scheint. Und oft sind die USA dem alten Europe nur ein paar Jahre voraus. Dagegen hilft freilich keine empörte Tabuisierung durch Brandmauern, sondern nur offene intellektuelle Auseinandersetzung, vor allem auf konservativer Seite.

Auf geopolitischer Ebene sind von der Achse der Revisionisten eher zunehmende Konflikte zu erwarten. Sie verfolgen noch unerfüllte Desiderate und machen die Erfahrung, dass unilaterale Gewalt und strikt nationale Machtpolitik sich auszahlen können. Solche Erfahrungen haben Sardinien-Piemont und Preußen im mittleren 19. Jahrhundert ermutigt, nationale Einigungskriege zu führen, und in den 1930er Jahren den Expansionismus Japans, Italiens und des Deutschen Reichs befördert.

Wie sich die Regierung Trump demgegenüber verhält, schält sich gerade heraus und liegt im Falle des iranischen Atomprogramms anders als im Falle des russischen Krieges gegen die Ukraine. Jedenfalls agieren die USA nicht primär als Weltpolizist der liberalen Ordnung oder des freien Westens, sondern unilateral und transaktionistisch, raum- statt werteorientiert, disruptiv und damit unberechenbar – und jedenfalls fähig zum game change.

Ihre Handlungsfähigkeit und -bereitschaft unterscheidet sie von einer Europäischen Union, die das historische Verdienst erworben hat, dass sie vom antagonistischen zum kooperativen Nationalstaat übergegangen zu sein. Belgien, oder Polen sind keine Einmarschgebiete benachbarter Großmächte mehr, sondern stellen führende europäische Repräsentanten. Die EU zahlt dafür freilich den Preis, dass sie kein global player ist. Standen Deutschland und Europa im Zentrum der Ereignisse von 1989/90, so stehen sie 2025 am Rande des Geschehens. Das vereinte Europa nach 1990 ist gekennzeichnet von Überambition und Unterperformanz. Die historische Erfahrung zeigt aber auch, dass äußerer Druck zu Bewegung in Europa führen kann.

Auf der Ebene der politischen Kultur dominiert in vielen westlichen Gesellschaften der Pendelschlag nach rechts – und die große Frage ist, ob er in der rechten Mitte abgefangen wird oder ob er nach rechtsaußen durchschlägt.

Entscheidend dafür sind die Performanz des politischen Systems und die Leistungsfähigkeit des Staates. Die Entpolitisierung und Entdemokratisierung wesentlicher Politikbereiche durch ihre Verrechtlichung und die Übertragung auf die europäische Ebene, das Versagen in Bereichen wie Migration oder Infrastruktur, dysfunktionales Überengagement in der Mikrosteuerung der Wirtschaft und kompensatorische Übergriffigkeit durch einschüchternde Ausweitung von Beleidigungstatbeständen, die früher als Bagatellen gegolten hätten, – all dies geht zu Lasten der Legitimität von Staat und politischem System. Die entscheidende Herausforderung der westlichen Demokratie liegt darin, staatliche Handlungsfähigkeit in den zentralen Aufgabenbereichen ohne dysfunktionale Mikrosteuerung und paternalistische Übergriffigkeit wiederherzustellen.

Im Februar 1946 schickte der amerikanische Diplomat George F. Kennan sein „langes Telegramm“ aus Moskau nach Washington, in dem er die Lage im Übergang zum ersten Ost-West-Konflikt analysierte. Was der Westen in diesem Systemkonflikt brauche, sei Stärke nach außen, nicht weniger aber auch Stärke von innen: Die „selbstbewusste Umsetzung eines positiven und konstruktiven Leitbildes“ und die „Prosperität und Lebenskraft unserer eigenen Gesellschaft“, so Kennan, seien wichtiger als tausend diplomatische Kommuniqués.

Nichts könnte heute aktueller sein. Der neue Ost-West-Konflikt verlangt eine Politik der Stärke und die glaubhafte Abschreckung gewaltbereiter Autokraten, und zwar in transatlantischer Solidarität, so weit sie eben möglich ist.

Ebenso erfordert er Stärke von innen. Wie aber steht es um das positive und konstruktive Leitbild des Westens? Klimaaktivisten und Woke halten die westliche Gesellschaft für grundsätzlich zerstörerisch und strukturell rassistisch. Defätistische „Postliberale“ sehen die westliche Gesellschaft im unumkehrbaren Niedergang liberaler Dekadenz. Wer glaubt an die Zukunftsfähigkeit der offenen bürgerlichen Gesellschaft, die das historisch und global größte Maß an Freiheit und Wohlstand hervorgebracht hat?

Vielleicht ist es die historische Selbstbesinnung und damit zugleich die Selbstbeschränkung der Demokratie auf ihre Kernbestandteile ohne ideologische (Selbst-)Überhöhung, die den Weg in die Zukunft weist: auf das Mehrheitsprinzip statt Wahrheitsanspruch, auf Minderheitenschutz statt gesellschaftlicher Umgestaltung, das Prinzip des friedlichen Regierungswechsels, aber auch echte Alternativen – und eine vitale, offene und kontroverse politische Öffentlichkeit.

Die historische Erfahrung besagt: Die Zukunft ist nicht nur offen, sondern sie wird auch doppelt anders – anders als Gegenwart und ganz anders, wir sie erwarten. Wir sollten unsere Phantasie nicht immer wieder von den Realitäten überflügeln lassen. Geschichte ist kein Automat, und die Zukunft ist nicht determiniert. Sie lässt sich gestalten. Das ist die gute Nachricht der doppelten und dreifachen Zeitenwende.

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