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Foto: Denkfabrik R21

„Komplettversagen einer Politik, die unkontrollierte Migration toleriert“

Das Interview wurde erstmals am 31. August 2024 im „Handelsblatt“ veröffentlicht. 

Handelsblatt: Herr Rödder, der syrische Attentäter von Solingen, der drei Menschen bei einem Stadtfest ermordete und acht andere verletzte, hätte eigentlich 2023 nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Was bedeutet ein solcher Vorgang für das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat?

Andreas Rödder: Dieser Fall beleuchtet schlaglichtartig das Nicht-Funktionieren des europäischen Asylrechts und die Handlungsunfähigkeit der deutschen Politik. Die Folge ist ein systematischer Vertrauensverlust der Menschen in die handelnden Akteure.

Handelsblatt: Am Tag der vorgesehenen Abschiebung war der Mann nicht auffindbar. Als nach sechs Monaten die Überstellungsfrist nach Bulgarien verstrichen war, meldete er sich wieder bei den Behörden – und kam in eine Solinger Flüchtlingsunterkunft. Was stimmt im System nicht?

Die entscheidende Frage ist: Woher wusste der Täter, dass er sich nach einem halben Jahr wieder melden kann und damit ein Bleiberecht erwirkt? Die Vorstellung, dass zivilgesellschaftliche Kräfte in Deutschland ihn dabei tatkräftig unterstützt haben, ist nicht von der Hand zu weisen.

Handelsblatt: Zu beweisen ist das nicht.

Es spricht vieles dafür, dass wir es mit einem politisch-gesellschaftlichen Komplex zu tun haben, der zweierlei umfasst: Auf der einen Seite einen handlungsschwachen Staat, dessen Behörden sich im Dickicht von Bürokratie und Zuständigkeiten verheddern, anstatt konsequent Recht und Gesetz durchzusetzen. Auf der anderen Seite ein zivilgesellschaftliches Milieu, das unkontrollierte Zuwanderung als höhere Gerechtigkeit ansieht, als Sühne des Westens für seine Verfehlungen, und das Abschiebungen deshalb partout verhindern will. Dieses im weiteren Sinne „grüne Milieu“ hat bis weit in Medien, Kirchen und Wissenschaft hinein die kulturelle Hegemonie errungen.

Handelsblatt: Viele Grünen-Politiker sprechen sich ausdrücklich für Abschiebungen von Straftätern aus.

Inzwischen, ja. Ich spreche aber nicht von einzelnen Politikern, sondern vom Erbe der grünen Hegemonie, die weit über die Partei der Grünen hinausgeht. Dazu gehört die Ablehnung von Migrationskontrolle und Abschiebungen. Als meine Kollegin Susanne Schröter eine zutiefst liberale Konferenz mit dem Titel „Migration steuern, Pluralismus gestalten“ veranstaltet hat, wurden die Teilnehmer von Demonstranten als „Nazis“ beschimpft. Das ist die große Ersatzhandlung dieses Milieus: der vermeintliche „Kampf gegen rechts“.

Handelsblatt: Die terroristische Bluttat von Solingen reklamiert der IS für sich. Solche Messerattacken gab es auch in anderen Staaten. Soll eine offene Gesellschaft, die auch vom freien Warenverkehr über europäische Grenzen lebt, deshalb deutlich restriktiver werden?

Der Staat müsste schlicht und einfach seine Schutzfunktion wahrnehmen. Als Frau Merkel sagte, der Staat könne seine Grenzen nicht schützen, hat sie seine Kapitulation des Rechtsstaates ausgesprochen.

Handelsblatt: Wie werden sich die Vorkommnisse bei den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ausdrücken?

Der AfD und dem BSW konnte nichts Besseres passieren. Für eine solche Aussage muss man kein Prophet sein. Das ist ein Kollateralschaden mit Ansage. Schon 2015 hatte man über solche schweren Folgen unkontrollierter Migration gesprochen. Durch Ideologie und Illusion wurde das Problem kleingeredet.

Handelsblatt: Eine Studie der Körber-Stiftung vom Sommer 2023 ergab, dass 54 Prozent der Deutschen „weniger großes“ oder „geringes“ Vertrauen in die Demokratie haben. Und vor einigen Wochen zeigte eine jährliche Umfrage des Deutschen Beamtenbundes, dass nur 25 Prozent der Befragten den Staat für fähig hielten, seine Aufgaben zu erfüllen. 70 Prozent sahen ihn als überfordert an. Ist das der Endpunkt einer bedenklichen Entwicklung?

Das ist eine schleichende Erosion des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit des Staates. Und doch haben bis heute viele nicht verstanden, was da passiert. Hier wird der grundlegende Gesellschaftsvertrag infrage gestellt. Er bedeutet, dass die Einzelnen sich dem Gewaltmonopol des Staates unterwerfen und der Staat im Gegenzug ihre Sicherheit gewährleistet. Wenn der Staat seinerseits diesen Vertrag aber nicht einhalten kann, wird auch die Gesellschaft diese Abmachung als obsolet betrachten. Ich bin wirklich kein Schwarzseher, aber so etwas kann im äußersten Fall zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. Dann sagen sich die Leute, sie müssten selbst mit Waffen für ihre Sicherheit sorgen.

Handelsblatt: Einige Gruppen sind besonders stark von der Überforderung des Staates überzeugt. Das glauben 77 Prozent der Ostdeutschen, 90 Prozent der AfD-Wähler und 85 Prozent der FDP-Wähler. Was folgt daraus?

Schwer zu sagen. Da gibt es Sonderbedingungen: zum Beispiel ein bestimmtes Staatsverständnis bei Liberalen oder ein gewisses Ressentiment bei der AfD. Das führt uns insgesamt nicht weiter. Evident ist der empirisch messbare – und auch fühlbare – allgemeine Vertrauensverlust in Staat und Politik. Das macht sich habituell bemerkbar, etwa in der Reaktion auf Politiker, die in Situationen wie Solingen immer Dasselbe sagen. Das kommt als hohle Rhetorik an. Die Leute nehmen das nicht mehr ernst, und wenn sie darüber nur noch lachen, ist das am schlimmsten.

Handelsblatt: Sie zielen auf Bundeskanzler Olaf Scholz, der Abschiebungen im „großen Stil“ angekündigt hat und sich nach Solingen ähnlich äußerte wie zuvor nach dem Messertod eines Polizisten in Mannheim: „Jetzt muss alles getan werden, damit Recht und Gesetz durchgesetzt werden können und der Täter hart bestraft wird.“

Ich meine alle, egal ob Scholz, Faeser, Steinmeier, Habeck, Göring-Eckardt oder Wüst. In der allgemeinen Draufsicht ist das absolut austauschbar.

Handelsblatt: Politiker müssen sich doch in einer solche Lage äußern.

Ja. Und was gesagt wird, ist ja auch im wörtlichen Sinne nicht mal falsch. Aber wenn sich die Rhetorik von der Substanz so weit entfernt hat, wie das mittlerweile der Fall ist, schwindet das Vertrauen immer weiter.

Handelsblatt: Muss man bei aller Kritik und dem konstatierten Vertrauensverlust nicht auch anerkennen, dass es der Staat zuletzt mit äußerst schwierigen Umfeldbedingungen zu tun hatte? Etwa mit Corona oder dem Krieg in der Ukraine? Und dass er das Land immerhin rasch unabhängig vom Gas und Öl aus Russland gemacht hat?

Erstens haben wir den Staat dafür, dass er den Bürger in Krisen beschützt. Zweitens ist die neue Unabhängigkeit von russischen Gaslieferungen die Korrektur einer eklatanten politischen Fehlleistung in den Jahren davor gewesen. Und die autoritären Versuchungen in Politik, Medien und Wissenschaft während der Pandemie fangen wir ja erst an zu diskutieren. Nein, da können keine besonderen mildernden Umstände geltend gemacht werden.

Handelsblatt: Wie kann es dem Staat gelingen, wieder mehr Vertrauen zu schaffen?

Wichtig ist, Politik tatsächlich einmal vom Ende her zu denken – und nicht, sich in Blasen einzuspinnen und nur auszugrenzen. Wir müssen hart über die Sache reden und nicht alles nach politischen Korrektheiten sortieren. Konkret: Migrationspolitik muss von dem Ziel her aufgezogen werden, innere Sicherheit und eine funktionierende Zuwanderungsregelung zu gewährleisten.

Handelsblatt: Es geht doch auch darum, die Polizei mit mehr Geld und besserem Equipment auszustatten.

In erster Linie geht es um die konsequente Anwendung bestehender Rechtsvorschriften. Wahrscheinlich braucht man auch mehr Budget für die Polizei oder einen besseren Austausch zwischen den Sicherheitsbehörden, aber das sind alles abgeleitete Maßnahmen. Erst brauchen wir die Zielbestimmung.

Handelsblatt: CDU-Chef Friedrich Merz fordert einen Aufnahmestopp für Syrer und Afghanen. Ist das nicht pauschale Sippenhaft? Menschen, die vor Terror oder Diktatoren flüchten, müssen eine Aufnahmegelegenheit haben. Und viele Syrer leisten gute Dienste in der Gesellschaft.

Natürlich brauchen wir Einwanderung, aber eine funktionierende Migrationspolitik unterscheidet klar zwischen regulärer Einwanderung und Asylmigration. Die aber ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Wer über ein anderes EU-Land nach Deutschland einreist, kann nicht auf das im Grundgesetz verbriefte Asylrecht pochen. Und Menschen, die hier kein Bleiberecht haben, sollten dieses nicht durch Anwesenheit und Zeitablauf erwerben können, sondern am besten gar nicht erst nach Deutschland kommen.

Handelsblatt: Solingen sei eine „Bankrott-Erklärung“ für die Ampelregierung, erklärt Thüringens CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt. Oder liegt vielmehr auch ein Versagen der von der CDU geführten NRW-Landesregierung vor, die für die Polizei im Bundesland zuständig ist?

Noch einmal: Es ist das Komplett-Versagen einer Politik, die unkontrollierte Migration entweder toleriert oder sogar will. Wie sich das genau auf die Parteien verteilt, ist für mich sekundär. Es ist eine Politik- und Vertrauenskrise im Zentrum unserer Demokratie. Das ist das Schlimme.

Handelsblatt: Welchen Einfluss haben die ständigen Streitereien in der Bundesregierung auf die Haltung im Volk gegenüber dem Staat? Ist die Vertrauenskrise dadurch verschärft worden?

Natürlich gibt die Bundesregierung kein gutes Bild ab. Schlimmer als die Streitigkeiten innerhalb der Ampel aber sind Übergriffigkeiten eines Staates, der sich an entscheidenden Stellen als handlungsunfähig erweist, während Innenministerium und Verfassungsschutz den Tatbestand der „Delegitimierung der Demokratie“ einführen.

Handelsblatt: Seit 2021 hat der Verfassungsschutzbericht eine neue Rubrik: „Delegitimierung des Staates“. Diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssten es mit einem starken Staat zu tun bekommen, so Faesers Leitlinie gegen rechtsextreme Netzwerke. Was ist daran falsch?

Wer sagt denn, was damit gemeint ist, außer dem Verfassungsschutz und einem Innenministerium, das sich immer wieder gerichtlich in die Schranken weisen lassen muss, weil es offenbar selbst die Spielregeln des Rechtsstaates nicht kennt? Es geht um Tatbestände unterhalb der Strafbarkeitsschwelle – kann es jemanden wundern, dass die Ostdeutschen dies an die Staatssicherheit erinnert?

Handelsblatt: Gehört zu dieser toxischen Mischung auch die nachlassende Wirtschaftskraft, die bei Einzelnen ein vorhandenes Unsicherheitsgefühl verstärkt?

Die Deindustrialisierung Deutschlands hat eine lange Vorlaufgeschichte. Die Früchte der „Agenda 2010“ sind verzehrt. Auch da bekommen wir die Quittung.

Handelsblatt: Und was ist mit der Bürokratie? Immer mehr Vorschriften, die sogar Verwaltungsjuristen überfordern, führen doch auch dazu, dass sich der Bürger mit Grausen abwendet.

Das nagt an der Akzeptanz des Rechtsstaates. Aber auch das ist in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Sowohl Deindustrialisierung als auch Überbürokratisierung haben damit zu tun, dass es diesem Land am Willen zu Innovation, Leistungsbereitschaft und Wachstum fehlt. Das war in den Mustern der grünen Hegemonie nicht vorgesehen. Die Krise Deutschlands hat ein hausgemachtes kulturelles Unterfutter.

Handelsblatt: Wir bräuchten also eher einen Paradigmen-Wechsel und einen Kulturwandel als einen Regierungswechsel?

Wir brauchen das grundlegend, und zwar ganz dringend.

Handelsblatt: Egal von wem?

Nein, im Gegenteil. Die Alternativen von AfD und BSW bewirtschaften ein nationales und soziales Politikmodell. Sie setzen auf staatliche Intervention. Nötig ist eine bürgerliche Politik, die die Gestaltungskräfte der Individuen wieder starkmacht. Einen Paradigmenwechsel wie in den 1980er Jahren unter Ronald Reagan, Margaret Thatcher oder Helmut Kohl. Das ist ein fundamentaler Sprung. Das beginnt bei der Messung von Leistungen bei Bundesjugendspielen und hört bei Spitzentechnologien noch lange nicht auf.

Handelsblatt: Und das sorgt für Vertrauenszuwachs in der Bevölkerung? Viele habe sich etwa an höhere Sozialleistungen gewöhnt.

Der Gewöhnungseffekt hat uns nicht vor dem Vertrauensverlust bewahrt. Die einzige Chance auf mehr Staatsvertrauen ist, dass die Menschen wieder begründete Zuversicht in eine bessere Zukunft finden. Dieses Versprechen muss demokratische Politik wieder glaubwürdig aufsetzen. Sonst wird es eng.

Andreas Rödder

Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.

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