Demokratiefördergesetz: Gegen das betreute Denken
Das geplante Demokratiefördergesetz ist staatlich gelenkte Symptombekämpfung – zu diesem Schluss kam Jörg Schulte-Altedorneburg in seinem Vortrag auf einer Diskussionsveranstaltung der Denkfabrik R21. Es brauche kein „betreutes Denken“, so der Bildungsexperte, sondern eine „verantwortungsvolle Anleitung zum Selbst-Denken“.
Der Vortrag im Wortlaut:
Sehr geehrte Damen und Herren,
dass wir heute über das sogenannte „Demokratiefördergesetz“ sprechen wollen, ist wenig überraschend.
Es hat seinen Grund zum einen in der seit langem anhaltenden Debatte um die zunehmende Gefährdung der Demokratie bzw. unseres Gemeinwesens. Das schließt rechts- und linksextremen sowie religiös motivierten Terror ebenso ein wie ein europaweit und in Deutschland spürbares Erstarken extremer, hier insbesondere rechtsextremer Parteien.
Zum anderen ist nach den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Zuge der allgemeinen Besorgnis über die dortigen Wahlergebnisse die Diskussion über den Umgang mit demokratiegefährdenden Parteien und Politikern sehr laut geworden – und seit zwei Wochen wird auch wieder laut über ein Parteiverbot nachgedacht.
Die Wiederaufnahme der Arbeit am Demokratiefördergesetz dürfte daher nur eine Frage der Zeit sein. Grund genug für uns, hier und heute zu fragen, ob und inwiefern dieses Gesetzesvorhaben sinnvoll ist.
Dazu werde ich mich in meinem Impuls für die anschließende Diskussion auf drei Punkte konzentrieren:
- Anlaß und Relevanz der Sorge, die hinter der Gesetzesinitiative liegt
- Risiken und Nebenwirkungen der Gesetzesinitiative
- Alternativen zur Gesetzesinitiative
Zu 1.: Relevanz der Sorge um das Gemeinwesen – eine Erinnerung
Der Befund der politischen Beobachter, wie man ihn täglich in den Medien findet, scheint eindeutig: Die Demokratie, die Ressource für Stabilität, Zusammenhalt und Stärke unserer Gesellschaft, wird derzeit als gefährdet und bedroht beschrieben.
Wie die jüngsten Landtagswahlen gezeigt haben, sind es in Deutschland, neben den politischen Radikalismen, nicht zuletzt die andauernden Debatten um die Meinungsfreiheit, die die Sorge um die Stabilität des Gemeinwesens befeuern. Polarisierungen, wie sie sich im Phänomen der Wokeness, der Hypermoral und in der Cancel Culture Bahn brechen, sind in ihrem Spaltungspotential demokratiegefährdend und werden – wie Umfragen zeigen – von den Bürgern mehrheitlich auch so wahrgenommen.
Zugleich und damit verbunden wird auch eine neue und teils fundamentale Skepsis gegenüber unserer Demokratie sichtbar. Zu langsam im Blick auf die Zielerreichung seien die demokratischen Aushandlungsprozesse, tönt es aktuell aus der einen Ecke: Dem Klimawandel und seinen bedrohlichen Folgen etwa könne man mit den Mitteln der Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft doch gar nicht wirksam und schnell begegnen, so die immer häufiger hörbare und demokratietheoretisch wie -praktisch beunruhigende Basta-Formel. Daß daraus zugleich Rechtsbrüche als legitim abgeleitet und auch begangen werden, muß uns trotz der vielfach nachvollziehbaren und sinnvollen Ziele dahinter sehr beunruhigen. Offenkundig haben manche Interessengruppen ihr Vertrauen in die Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse der Demokratie weitgehend verloren.
Andere Bürger wiederum fühlen sich angesichts der aktuellen Fülle gesellschafts-, sozial-, wirtschafts-, finanz-, außen-, verteidigungs- und sicherheitspolitischer Herausforderungen von der Politik abgehängt, ungehört oder übergangen. Hinzu kommt der Eindruck, daß die Politik immer bevormundender und übergriffiger wird, in immer mehr eigentlich private Bereiche hineinregiert.
Die daraus abgeleitete Enttäuschung und Wut führen, wie Analysen gezeigt haben, entweder zur Abkehr vom Gemeinwesen oder zu einer protestgetriebenen Stärkung extremer Positionen. So weit, so bekannt.
Wie liberal, wie offen, wie tolerant kann oder muss eine Demokratie also sein angesichts solcher Gefahren? Und was kann man tun, wo muß man ansetzen, um der ausgemachten Schwächung unserer politischen Rahmenordnung entgegenzuwirken? Konsequent und wenig überraschend sind in den vergangene Jahren die Bürger sowohl als Problem als auch als Stellschraube für die Lösung identifiziert worden. Folgerichtig setzte sich die Forderung nach einer Stärkung demokratischen Denkens lagerübergreifend medial durch. Ohne zuvor genauer zu bestimmen oder zu diskutieren, woraus denn ein solches politisches Lernprogramm bestehen müsste, ist die Überzeugung seiner Notwendigkeit in der Politik angekommen. Die Bundesregierung hat daraufhin beschlossen, das erkannte wie nebulöse Defizit per Gesetz zu beheben, mit dem sogenannten ‚Demokratiefördergesetz‘.
Pointiert zugespitzt, sollen die als mündig beschriebenen Bürger dem veröffentlichten Text zufolge von Regierungsseite aus mit der Hilfe ausgewählter und staatlich finanzierter Organisationen der Zivilgesellschaft den Wert und die Schutzwürdigkeit ihrer Demokratie wiederentdecken.
Das klingt irgendwie gut, läuft aber doch zugleich auf betreutes Denken hinaus. Denn es entsteht der Eindruck, daß die Bedrohungen unserer Demokratie erkannt und politisch lokalisiert wurden und nun konkret angegangen werden können. Aber ist diese vermeintliche Eindeutigkeit in der Ursachen- und Lösungsbestimmung tatsächlich so eindeutig?
Zu 2: Risiken und Nebenwirkungen der Gesetzesinitiative
Die bisher schon laut gewordene Kritik an dem Gesetzesvorhaben richtet sich nicht zuletzt auf diese Frage. Hinzukommen Anfragen zu den Kriterien der Auswahl geeigneter Projekte und Projektträger. Benötigen wir also tatsächlich ein solches Gesetz, das Gefahr läuft, Demokratie zum Gegenstand ideologieanfälliger Gesinnungsförderung zu machen? Oder zumindest einen solchen Eindruck zu vermitteln droht und damit den Verdruß noch erhöht, anstatt ihm beizukommen?
Offenbar setzt das „Demokratiefördergesetz“ den vorliegenden Dokumenten zufolge allein auf eine staatlich gelenkte Symptombekämpfung: Die Zivilgesellschaft bzw. ihre Organisationen sollen durch finanzielle Zuwendungen in die Lage versetzt werden, die die Demokratie gefährdenden Extremismen zu bekämpfen. Extremismen entgegenzutreten, ist zweifellos ein wichtiges und richtiges Ziel. Doch der Ansatz, dazu allein bei irgendwelchen kommunikativen oder politisierten Phänomenen anzusetzen, greift meines Erachtens zu kurz.
Schauen wir auf den Bürger. Es wird im Zuge des Gesetzesvorhabens von der Auseinandersetzung mit Polarisierungen, Intoleranz, Cancel Culture, Hate Speech gesprochen. Dahinter stehen in den meisten Fällen Haltungen des Einzelnen, die auf Befürchtungen, Vorurteile, Unkenntnis, leichtfertig verallgemeinerte Negativerfahrungen, widrige Lebensumstände, persönliche Misserfolge und viele weitere Faktoren zurückgeführt werden können. Solche dauerhaften oder momentanen Haltungen wiederum prägen das individuelle Urteilsvermögen („cognitive bias“). Sie können eine Fixierung in der Wahrnehmung hervorrufen und verursachen so ein entsprechend einseitig ausgerichtetes Handeln, das durch Vergewisserung in der jeweiligen Echokammer noch verstärkt wird. Es sind diese Anfälligkeit für Fixierungen und die daraus resultierende Unfähigkeit, buchstäblich den Kopf zu drehen – also die Unfähigkeit, eine andere Perspektive nicht ausschließlich als moralisch falsch und damit unmoralisch und gefährlich wahrzunehmen -, die das Meinungsklima vergiften. Der Einzelne ist schlicht nicht mehr in der Lage, eine abweichende Position als eine notwendige und für die eigene Standortbestimmung bereichernde Perspektive zu erkennen und anzunehmen.
Doch ruft eine solche trivial oder auch naiv anmutende Analyse nicht vielmehr nach mehr Bildung und insbesondere der Ausbildung des individuellen Urteilsvermögens – und damit nach einer Bildungsdebatte, die nach Corona ohnehin überfällig scheint? Bildlich gesprochen, wird, bevor es bloß um die Verschönerung der Fassade gehen kann, doch erst einmal ein tragfähiges Fundament benötigt.
Das führt uns zu Punkt 3: Zu den denkbaren Alternativen
Meines Erachtens braucht es zur Demokratieförderung demzufolge ein bewährtes Mittel, nämlich Bildung. Allgemeine und breite Bildung ist die Grundlage für eine konstruktive Teilhabe und Teilnahme im demokratischen Gemeinwesen. In einer mittel- bis langfristigen Strategie zur Demokratieförderung muss es also darum gehen, das individuelle Urteilsvermögen aller Bürger zu stärken und Neugier zu wecken, um der Diskursverengung und Polarisierung in der Gesellschaft grundsätzlicher und nachhaltiger zu begegnen. Es braucht Toleranz, aber eine, die auf Urteilsvermögen und Neugier gebaut ist und nicht nur ein wechselseitiges Desinteresse widerstreitender Gruppen beschreibt.
Ob gegenwärtig Chat GPT, Populismus, Radikalisierung oder wachsende Zweifel an der Leistungsfähigkeit unseres demokratischen Systems für Verunsicherung und heftige Diskussionen sorgen, stets gerät ein Mangel an Differenzierungsfähigkeit und an Bereitschaft zur Unterscheidung in den Blick. Es sind das individuelle Urteilsvermögen und das Vertrauen in die Freiheit des Einzelnen, die konstruktive Aushandlungsprozesse und mithin auch die Demokratie überhaupt erst möglich machen – nicht ‚richtige‘ Haltungen, die die ‚Denkbetreuer‘ bereithalten.
Es bleibt dabei: Wissens- und Kompetenzerwerb haben auch im digitalen Zeitalter den Charme einer ‚Allzweckwaffe‘, mit der man Unbeständigkeit, Ungewissheiten, Komplexität und Uneindeutigkeiten bewältigen kann. Oder in der Version der Brüder Grimm: Wer Gefahren oder Herausforderungen nicht (er)kennt, sorgt sich nicht, hat keine Bedenken oder fürchtet sich nicht – und muss letztlich „ausziehen, um das Fürchten zu lernen“, wie es im Titel eines bekannten Märchens heißt.
Es ist daher so überfällig wie lohnend, die angedeuteten Aspekte des Wissens und der Unterscheidungsfähigkeit in den Blick zu nehmen, die wir unter dem Begriff des Urteilsvermögens kennen.
Und wenn dem Unterscheiden im Erkennen und Handeln eine so zentrale Rolle zukommt, gilt dies ebenso für die essentiellen Kriterien des Unterscheidens. Um eine Kultur, um Geschichte, um politisch Notwendiges, die Meinung oder den Standpunkt eines anderen angemessen beurteilen zu können, benötigt man Kriterien, wie beispielsweise schön und hässlich, gerecht und ungerecht, angemessen und unangemessen, wahr und falsch, nützlich und schädlich. Diese Unterscheidungskriterien und ihre Voraussetzungen wiederum zu erlernen und ihre Anwendung ’einzuüben‘, ist keineswegs trivial (wie auch die Begriffe selbst weder trivial noch leer sind), sondern es braucht Neugier, Zeit, Geduld, eigenes Zutun, Anleitung und viel Erfahrung.
Und Neugier meint hier weder den Hunger nach Enthüllungen aller Art noch ein bloßes Anfangsinteresse. Es geht vielmehr um die permanente Lust am Verstehen des Neuen mit dem Ziel der Erweiterung oder Korrektur des eigenen Wissens. Neugier als die Fähigkeit und Bereitschaft, die eigenen Urteilskriterien im Licht abweichender oder neuer Eindrücke immer wieder zu überprüfen, ist damit ein entscheidender Beitrag zur Demokratieförderung – und vor allem zur Freiheit des Einzelnen, etwa gegenüber Manipulationsversuchen.
Urteilsvermögen, verstanden als Unterscheidungsfähigkeit, sowie Selbstkritik und Bescheidenheit dürften vor diesem Hintergrund die Schlüsseltugenden für die Bewältigung der Gegenwart wie auch der Ungewissheiten der Zukunft sein. Und die zentrale Aufgabe für jedes Individuum wie für alle pädagogischen Experten und Laien, Bildungseinrichtungen, soziale Umfelder und die Politik dürfte somit darin liegen, die Bildungsbiographie auf das Erlernen und Umsetzen dieser und anderer Tugenden auszurichten.
Eine solche Erinnerung an vermeintlich Selbstverständliches ist offenkundig geboten in Zeiten der Informationsflut, der Echokammern und der teils gezielten Unterkomplexität in aktuellen Debatten um unsere gemeinsame Zukunft. Es braucht gerade kein betreutes Denken als Nachvollzug vorgegebener Inhalte. Es braucht die verantwortungsvolle Anleitung zum Selbst-Denken, zum reflektierten und selbständigen Unterscheiden des für den Einzelnen und die Gemeinschaft Nützlichen, Angemessenen, Gerechten, Guten und Schönen.
Ich plädiere also abschließend dafür, die Demokratieförderung nicht in der Form des Gesetzesvorhabens voranzutreiben, sondern die Bildung des Urteilsvermögens in den Blick zu nehmen. Die Gesetzesinitiative also solche hat die Debatte um den richtigen Weg der Förderung von Gemeinsinn, von politischem Bewußtsein, von der Fragilität demokratischer Prozesse und Systeme offengelegt. Seien wir dankbar für diesen Anstoß, aber lassen wir es dabei bewenden und investieren wir stattdessen bewußter und breiter in die grundständige Bildung.
Ich halte es mit Montesquieu, dem französischen Sozialphilosophen und Staatstheoretiker der Aufklärung: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“
Wenn es aber unbedingt ein Gesetz sein soll oder muss, dann kein ‚Demokratiefördergesetz‘, sondern ein ‚Urteilsvermögens- und Neugierfördergesetz‘.
—–
Der Referent hat eine ausführlichere Betrachtung zur Fragwürdigkeit des Demokratiefördergesetzes am 2. Oktober 2023 auf CICERO-Online veröffentlicht.