Der Text wurde erstmals am 11. Februar 2025 in der Printausgabe der F.A.Z. Rhein-Main-Zeitung veröffentlicht. Das Interview führte Sascha Zoske. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Alle Rechte vorbehalten. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
Der Historiker Andreas Rödder verteidigt die gemeinsamen Abstimmungen von CDU und AfD im Bundestag. Hier sagt er, was er von Vergleichen mit „Weimar“ und „1933“ hält, welche Entwicklung bei Europas Rechtspopulisten er interessant findet und was man daraus für den Umgang mit der AfD lernen kann.
Herr Rödder, Sie sind Geschichtsprofessor und CDU-Mitglied. Wie finden Sie es, dass Ihrem Parteichef Friedrich Merz wegen der Abstimmungen mit der AfD im Bundestag vorgeworfen wird, er mache die Wiedergänger des Nationalsozialismus hoffähig?
Ich möchte zunächst sagen, dass ich in CDU-Angelegenheiten nicht für die Partei spreche, sondern als historisch informierter politischer Beobachter, der aus seiner Parteizugehörigkeit keinen Hehl macht. Was die historischen Vergleiche angeht: Das Problem damit ist, dass Geschichte oft so ausgelegt wird, wie es gerade politisch passt. Ein Beispiel ist „Friedrich Hindenburg“: Den CDU-Kanzlerkandidaten mit dem Reichspräsidenten gleichzusetzen, ist grober Unfug. Wer solche Parallelen zieht, will nichts erhellen, sondern tabuisieren. Diese Debatte zeigt einmal mehr, dass die rot-grüne Linke die Deutungshoheit darüber beansprucht, was in Deutschland politisch zulässig ist.
Grundlage solcher Gleichsetzungen ist die Annahme, die AfD sei eine faschistische Partei. Ist sie das?
Zunächst einmal: „Faschismus“ ist seit Jahrzehnten vor allem ein linker Kampfbegriff, den man analytisch schon sehr differenziert verwenden muss, damit er einen Erkenntnismehrwert erbringt. Um mal mit zwei Unterschieden zu beginnen: Was man historisch „Faschismus“ nennt, zeichnet sich durch physische Gewaltbereitschaft und paramilitärische Mobilisierung aus, wie wir sie bislang nicht erleben. Ich erkenne auch nicht, dass die AfD für eine Führerdiktatur einträte, selbst wenn es in der Partei Hitler-Verehrer gibt.
Welche Unterschiede zwischen den faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts und den heutigen Rechtspopulisten sehen Sie noch?
Die faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit waren antiparlamentarisch und antidemokratisch. Die neue Rechte ist da weniger eindeutig. In der AfD gibt es immer wieder Äußerungen, die auf eine Ablehnung der parlamentarischen Demokratie hindeuten, in ihren Programmen hingegen bekennt sie sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Wie ernst sind solche Bekenntnisse zu nehmen? Teile der Partei werden vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft, immer wieder wird ein Verbotsverfahren gefordert. Haben da manche einfach Kreide gefressen?
Rhetorische Unklarheit und inhaltliche Widersprüchlichkeit ist charakteristisch für die gesamte neue Rechte. Deshalb ist es so wichtig, zu differenzieren und präzise zu argumentieren statt einfach zu pauschalisieren.
Ist die Einschätzung des Verfassungsschutzes aus Ihrer Sicht falsch?
Der Verfassungsschutz argumentiert mit einem ethnischen Volksbegriff, den die AfD propagiere. Auch das muss man differenzieren. Die AfD und die Rechtspopulisten der Gegenwart vertreten keinen völkischen Nationalismus mehr wie die Rechte in der Zwischenkriegszeit. Historisch neu ist vielmehr das Konzept eines Ethnopluralismus, der eine Durchmischung verschiedener Völker ablehnt. Dieses Denken kann verfassungsfeindlich sein, muss es aber nicht. Wichtiger ist der politische Unterschied: Es ist eine Form kollektivistischen Denkens, das einem bürgerlich-liberalen Menschenbild und der offenen Gesellschaft grundsätzlich widerspricht.
Halten Sie vor diesem Hintergrund ein Verbotsverfahren gegen die AfD für sinnvoll?
Wir müssen zwischen verfassungsmäßiger Zulässigkeit und politischer Zustimmungsfähigkeit unterscheiden und dürfen diese beiden Trennlinien nicht verwechseln. Substanzielle Bestrebungen zur Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sind ein Grund für ein Parteiverbot. Alles andere liegt an der Trennlinie des Zustimmungsfähigen und sollte dementsprechend politisch adressiert werden. Ganz abgesehen davon hielte ich es rein funktional gesehen für sehr schwierig, eine Partei zu verbieten, die 20 und mehr Prozent der Bevölkerung als Wähler anspricht. Die Konvulsionen des politischen Systems, die aus einem Verbot der AfD entstehen würden, will ich mir nicht ausmalen.
Bleiben wir noch einen Moment bei historischen Analogien. Die heutige Situation wird immer mal wieder mit „Weimar“ oder „1933“ verglichen. Zu Recht?
Auch das sind wieder solche verkürzten Vergleiche. Wir haben in Deutschland derzeit keine Wirtschaftskrise, die mit jener von 1932 vergleichbar wäre, und auch keine vergleichbare Atmosphäre öffentlicher Gewalt. Ich würde, was den Umgang mit der AfD angeht, vielmehr zwei historische Vergleichsmomente heranziehen, die einander widersprechen und uns zeigen, dass es keine historischen Patentrezepte gibt: Einerseits ist der Versuch von 1933 gescheitert, die Nationalsozialisten parlamentarisch einzubinden. Andererseits ist es der Bundesrepublik gelungen, ursprünglich systemoppositionelle Bewegungen wie Teile der frühen Grünen in das politische System zu integrieren.
Wollen Sie die Grünen von 1980 mit der AfD von heute gleichsetzen?
Nein. Aber es gab damals bei den Grünen Kräfte, die das staatliche Gewaltmonopol und die freiheitlich demokratische Grundordnung ablehnten. Denken sie nur an die Gewalt bei den Anti-AKW-Demonstrationen und an der Startbahn West des Frankfurter Flughafens oder an die Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Personen und gegen Sachen – von der Sympathisantenszene mit dem RAF-Terrorismus ganz zu schweigen. Teile der Grünen waren damals jedenfalls weit weg von dem, was sich heute die „demokratische Mitte“ nennt.
Einen Hauch von „Weimar“ kann man schon verspüren angesichts der Töne, die nach den Migrationsabstimmungen im Bundestag angeschlagen wurden. Vom Öffnen eines „Tors zur Hölle“ war die Rede und davon, dass man Friedrich Merz nicht mehr trauen könne. Wie sollen CDU, SPD und Grüne unter diesen Umständen nach dem 23. Februar eine Koalition hinbekommen?
Diese Unversöhnlichkeit und der daraus resultierende Mangel an Einigungsfähigkeit, wie wir ihn am 31. Januar erlebt haben, erinnert tatsächlich in gewisser Weise an die Weimarer Republik. Das Weimarer System war geradezu durchzogen von nicht mehr überwindbaren Gräben. Daher finde ich Ausschließeritis grundsätzlich problematisch.
Wie klug war es dann von Friedrich Merz, seine Migrationspläne im Bundestag zur Abstimmung zu stellen? Ist das nicht eine schwere Hypothek für Koalitionsgespräche?
Die Union hat eine aus ihren eigenen Prinzipien heraus begründete Position bezogen, diese im Bundestag eingebracht und dafür eine parlamentarische Mehrheit gefunden. Ich finde es weder parlamentarisch noch demokratisch in Ordnung, wenn SPD und Grüne das für illegitim erklären.
Aber glauben Sie denn, dass die CDU am Ende davon profitieren wird? Es könnte gut sein, dass sie das, was sie an Wählern auf der rechten Seite gewinnt, auf der linken verliert.
Ich bin kein Wahlkampfberater. Aber im Hinblick auf das politische System finde ich es sehr begrüßenswert, dass wir wieder klare Unterschiede zwischen den Parteien erkennen. Eine parlamentarische Demokratie lebt doch von der Kontroverse der Meinungen. Und ich finde es richtig, dass sich die Union von der Bevormundung der rot-grünen Linken befreit, die ihr vorschreiben will, welche Positionen sie vertreten darf und welche nicht.
Sie haben es 2023 für vertretbar erklärt, dass CDU-Minderheitsregierungen in Ostdeutschland von Fall zu Fall auf Stimmen der AfD setzen. Dafür hat man Sie heftig kritisiert, und Sie haben daraufhin den Vorsitz der CDU-Grundwertekommission niedergelegt. Fühlen Sie sich durch die jetzige Entwicklung bestätigt?
Ich fand es damals schon völlig richtig, Positionen aus den eigenen Grundwerten abzuleiten und sie in Parlamente einzubringen. Wenn dann AfD, BSW, Linke oder wer auch immer zustimmt, tut das der eigenen Position keinen Abbruch. Ein gutes Stück wird nicht dadurch schlecht, dass es Applaus von unerwünschter Seite bekommt.
Nach der Abstimmung hat sich die frühere Kanzlerin Angela Merkel zu Wort gemeldet und Merz deutlich kritisiert. Wie fanden Sie das?
Mit Frau Merkel gesprochen: „nicht hilfreich“. Überrascht hat es mich nicht. Aber Frau Merkel hat ja 1999 selbst die Devise ausgegeben, wie die Partei mit einem Altkanzler umgehen solle, der ihr Schaden zufügt: „in Zukunft ohne ihr altes Schlachtross“ auszukommen.
Kritik am Kurs von Merz kam auch von den Kirchen. Sie sind selbst Mitglied einer Gemeinde. Wie fanden Sie diese Wortmeldungen?
Ich habe wieder einmal darüber nachgedacht, aus der katholischen Kirche auszutreten.
Sie haben sich richtig geärgert?
Ich fand diese Statements vollkommen unangebracht. Erstens positioniert sich die katholische Kirche damit in einer Weise parteipolitisch, wie sie es nicht einmal in den Achtzigerjahren getan hat, als man ihr vorwarf, zu CDU-nah zu sein. Zweitens sprechen diese Kirchenvertreter sicher nicht für die Breite der Gläubigen. Und drittens stört mich der Absolutheitsanspruch, mit dem die Kirchen ihre eigene Position in die politische Debatte einbringen. Wer moralisiert, spricht dem anderen die moralische Dignität ab. Das halte ich für politisches Gift.
Stichwort politisches Gift: Dieser Tage wird immer wieder die Verrohung der politischen Debatte beklagt. Vielleicht lohnt auch hier noch einmal ein Blick in die Geschichte: In den Achtzigerjahren ging es in der deutschen Politik ebenfalls hart zur Sache. Franz Josef Strauß etwa hat seine Widersacher verbal heftig attackiert, und er selbst wurde von Linken mit Nazivergleichen überzogen. Sind wir einfach zu empfindlich geworden?
Einerseits ja. Helmut Schmidt hat gesagt: „Politik ist immer auch ein Kampfsport.“ Ich bin ganz dafür, die politische Auseinandersetzungen hart und mit klaren Worten zu führen. Eine Grenze sehe ich aber überschritten, wenn dem Widersacher die moralische Berechtigung abgesprochen und er persönlich diffamiert wird. Das gab es in den Achtzigerjahren auch schon, aber heute sehen wir das öfter. Ich kritisiere immer sehr scharf den verächtlichen Ton, in dem die AfD über die von ihr sogenannten Systemparteien redet. Aber auch die demokratische Mitte hat keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit. Wenn jemand auf einer Kundgebung „gegen rechts“ in der einen Hand ein Schild mit der Aufschrift „Gegen Hass und Hetze“ hält und in der anderen eines, auf dem steht „Ganz Deutschland hasst die AfD“, dann sage ich: Finde den Fehler!
Können wir aus der jüngsten Geschichte, auch mit Blick auf andere Länder, etwas für den Umgang mit der AfD lernen?
Die interessanteste europaweite Entwicklung der letzten Jahre ist die Mäßigung der extremen Rechten in verschiedenen Ländern, allen voran in Italien und Skandinavien, in Teilen auch in Frankreich und den Niederlanden. Die Parteien dort standen vor der Frage: Wollen wir uns weiter radikalisieren und dadurch weiter marginalisieren? Oder wollen wir uns mäßigen und damit den Anspruch erwerben, an Regierungen teilzuhaben? Diese Debatte hat die AfD nie führen müssen. Es gab schon sehr früh diese Spirale von Radikalisierung und Marginalisierung. Ich frage mich, wie lange wir diese Polarisierungsspirale noch drehen wollen.
Sollte man mit der AfD koalieren, damit sie sich in der Regierung deradikalisieren kann?
Nein, dazu hat sie sich in den letzten zehn Jahren zu sehr radikalisiert. Und die Idee, extreme Kräfte in Regierungen zu entzaubern, vertrete ich nicht. Aber man sollte der AfD die Chance geben, sich die Frage zu stellen, ob sie sich weiter radikalisieren oder ob sie sich mäßigen will. Die Brandmauer hat nur dazu geführt, dass die AfD sich solidarisiert und radikalisiert – Ausgeschlossene verhalten sich wie Ausgeschlossene. Deshalb plädiere ich dafür, die Brandmauer, die Menschen ausschließt, durch rote Linien zu ersetzen, die Themen markieren. Wir sollten uns nicht dauernd über die AfD empören, sondern hart in der Sache diskutieren – und uns gegenseitig auf eine „robuste Zivilität“ verpflichten, wie es Timothy Garton Ash formuliert hat. Ob das funktioniert? Ich kann es nicht sagen. Aber einen Versuch ist es wert. Und jedenfalls ist das der Anspruch, den ich an eine reife parlamentarische Demokratie habe.
F.A.Z., 11.02.2025, Nr. 35, Rhein-Main-Zeitung, S. 6, R-DA
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Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.
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