Der Text wurde erstmals am 30. Mai 2025 auf Publico veröffentlicht.
Gibt es unter Trump eine Verfolgung von Akademikern in den USA? Suchen amerikanische Forscher demnächst Zuflucht in Deutschland? Ein Gespräch mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Russell Berman über akademisch verbrämten Antisemitismus und den Zustand der Meinungsfreiheit auf beiden Seiten des Atlantik.
Interview: Alexander Wendt
Herr Professor Berman, kürzlich erklärte der Präsident der Universität Hamburg, er sei hoch besorgt über die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit in den USA und er hoffe gleichzeitig darauf, dass amerikanische Spitzenforscher wegen Donald Trump nach Deutschland kämen. Ganz ähnlich äußerte sich der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft Otmar Wiestler: Er möchte Forscher aus den USA anlocken, außerdem Wissenschaftstalente, die jetzt die USA seiner Erwartung nach meiden würden. In den Vereinigten Staaten, so Wiestler, fände ein „Feldzug gegen Intellektuelle” statt. Manche deutsche Medien zeichnen sogar ein Bild eines Landes, das in die Diktatur, sogar in den Faschismus abgleitet. Sie haben lange als Germanist in Stanford gelehrt, und forschen jetzt an der Hoover Institution. Sitzen Sie in Stanford schon auf gepackten Koffern?
Berman: Der einzige Koffer, auf dem ich bald sitzen werde, wäre der Koffer für meinen Sommerurlaub. Das sind schöne journalistische Märchen, die dazu dienen, Schlagzeilen zu verkaufen. Aber ernsthaft, ich kenne niemanden, der wegen der jetzigen politischen Entwicklungen auswandern will oder gar darüber nachdenkt, es zu tun. Bei jeder Wahl hierzulande gibt es vor allem bei den Hollywoodstars das Gerede: Wenn ein Republikaner gewinnt, dann ziehe ich nach Kanada, dann fahre ich auf die Bahamas oder wohin auch immer. Aber das ist bloß eine überhitzte Rhetorik, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Nun, in der Tat, es gibt jetzt eine Auseinandersetzung zwischen der Trump-Regierung und einigen wenigen Universitäten über Aspekte der Hochschulpolitik, bzw. darüber, wie die Hochschulen die eigene Selbstverwaltung ausüben. Das führt allerdings nicht zu einer Auswanderungswelle. Wir haben es offenbar mit einer Selbstüberschätzung oder einer falschen Kenntnislage dieser deutschen Universitätspräsidenten zu tun, die glauben, sie würden Erfolg dabei haben, amerikanische Koryphäen anzuheuern. Das schließe ich zwar für bestimmte Fachbereiche nicht aus, etwa in Gendertheorie oder Diversitätslehre. Aber in den Bereichen, die für die deutsche Gesellschaft und Wirtschaft wichtig wären – also Robotik, Informationstechnologie, MINT-Fächer –, wird das nicht passieren. Vielleicht gibt es hier und da einen Wissenschaftler, der nach Europa heiratet oder andere private Gründe hat, auszuwandern. Aber was der Präsident aus Hamburg oder derjenige der Helmholtz-Gemeinschaft sagen, ist reiner Wunschtraum.
Publico: In dem mittlerweile beigelegten Streit zwischen der Regierung Trump und der Columbia University, über die in der US-Presse breit berichtet wurde, ging es um den Vorwurf, die Universität habe nicht genug getan, um jüdische Studenten und Lehrkräfte ausreichend gegen Mobbing und Bedrohung zu schützen. Die Universitätsleitung räumte ein, sich in der Vergangenheit falsch verhalten zu haben, beschloss Leitlinien zum besseren Schutz von jüdischen Studenten und Lehrern und erhielt danach die von der Regierung zunächst zurückgehaltenen öffentlichen Mittel in Höhe von 400 Millionen Dollar. Etliche Akademiker kritisierten das Einlenken der Columbia allerdings als „Unterwerfung”. Harvard jedenfalls weigert sich, ähnliche Regeln gegen antisemitische Agitation auf dem Campus einzuführen. Wie konnte es überhaupt zu diesen massiven Bedrohungen und Einschüchterungen jüdischer Kommilitonen und Lehrer an Ivy-League-Universitäten nach dem 7. Oktober 2023 kommen? Normalerweise zieht dort ja schon jede Andeutung einer Minderheitsdiskriminierung schwere Konsequenzen nach sich.
Berman: Es stimmt, dass Harvard und Columbia unterschiedliche Strategien verfolgen. Aber Sie weisen auf eine wichtige und peinliche Frage hin: Wie kam es denn eigentlich zu dieser Antisemitismuswelle? Und das ist nicht nur Ihre oder meine Behauptung. Sondern Harvard und Columbia, auch meine Universität Stanford haben eigene Kommissionen ins Leben gerufen, die diesen Antisemitismus dokumentiert haben. Es gibt keinen Zweifel, dass es ein Problem gibt. Sie können diese Berichte leicht online finden. Es gibt in diesem Komplex verschiedene Aspekte. Ich nenne jetzt nur zwei: Erstens galt die Bereitschaft, auf Mikroaggressionen zu reagieren, eigentlich nur für bestimmte Minoritäten. Wenn Sie beispielsweise als Deutscher an einer amerikanischen Universität einen antideutschen Witz hören würden, hätten Sie keinen Erfolg damit, eine Anklage wegen Mikroaggressionen einzureichen. Es ist auch übrigens nicht nur eine Frage von Witzen und geschmacklosen Bemerkungen. Per Bundesgesetz ist Diskriminierung aufgrund der nationalen Herkunft illegal. Eben darum geht es nicht nur um Antisemitismus, sondern auch um Diskriminierung israelischer Studenten, die wegen ihrer nationalen Herkunft manchmal Anfeindungen ausgesetzt waren. Der zweite Punkt betrifft den unterschwelligen Antisemitismus, und dieses Phänomen ist nicht neu. Es ist eine traurige Komponente der Kulturgeschichte der Welt, des Westens. Man glaubte, das überwunden zu haben, aber anscheinend hat es tiefe Wurzeln. Nach den Massakern der Hamas in Israel am 7. Oktober kam der Antisemitismus jedenfalls wieder an den Tag. Man hätte nach dem furchtbaren Angriff als Reaktion eher Sympathie erwarten können, Mitgefühl, Solidarität. Und das hat es auch gegeben in manchen Kreisen. Aber – das ist meine Hypothese – der 7. Oktober zeigte Israel und damit in den Augen mancher Leute die Juden insgesamt von einer schwachen Seite. Gerade deshalb, weil Israel angegriffen wurde, weil furchtbare Gewalt gegen die Israelis ausgeführt worden ist, weil Israel schwach erschien, haben Antisemiten sozusagen Blut gerochen und sind deshalb aus ihren Höhlen herausgekrochen – und in die Zeltlager an dem Campus. Ich denke, dass es Parallelen gibt zur Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001, und zwar in dem Sinne, dass Amerika, von dem man Stärke erwartet hatte, sich verwundbar zeigte und momentan schwach. Es gibt eine sehr unschöne Seite der menschlichen Natur, nämlich jene, die Schwachen, die Opfer, die Hilflosen weiter quälen zu wollen. Man hat wohl Angst davor, den Starken anzugreifen und deshalb schlägt man nur zu, wenn man einen Verwundeten sieht. Das ist die Feigheit der Antisemiten.
Publico: An US-Hochschulen scheint es eine große Rolle gespielt zu haben, dass die Parteinahme für die Hamas und die Rechtfertigung der Massaker postkolonialistisch begründet wurden: Viele deuteten den Überfall der Hamas auf Zivilisten als Aufstand gegen die angebliche Kolonialmacht Israel – und damit Mord und Vergewaltigung als Befreiungsakt.
Berman: Ja, das ist die ideologische Einrahmung. Ich frage mich allerdings, inwiefern dieser Postkolonialismus eine Ursache des Antisemitismus ist, der sich nach dem 7. Oktober zeigte, oder ob er nur eine Art retrospektives Legitimationsmuster war. Das heißt, wer schon von vornherein antisemitisch veranlagt war, bemühte einige pseudowissenschaftliche Floskeln des Postkolonialismus als Feigenblatt. Einige genossen es offensichtlich, Antisemit zu sein. Und um das zu erklären, beschworen sie im Nachhinein die postkoloniale Theorie. Das Problem besteht darin, dass diese Theorie nicht fähig ist, den Kolonialismus an sich zu analysieren, zu kritisieren, zu beschreiben und seine wirklichen Folgen zu überwinden. Den allermeisten Theoretikern des Postkolonialismus geht es vor allem darum, zu sagen: Der Kolonialismus war schlechter als die Shoah, als der Holocaust. Und deshalb sollte man weniger von Shoah reden und mehr von Kolonialismus. Den Theoretikern des Postkolonialismus geht es nicht in erster Linie darum, den Kolonialismus zu analysieren, sondern den Holocaust zu minimalisieren.
Publico: Diese Erscheinung gibt es auch an deutschen Hochschulen: Der Historiker Jürgen Zimmerer beispielsweise, Professor an der schon erwähnten Universität Hamburg, meint, die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland sollte weniger Platz einnehmen, die Beschäftigung mit den deutschen Kolonialverbrechen dafür deutlich mehr. Aber um noch einmal auf die Vorgänge an amerikanischen Universitäten zurückzukommen: Dort riefen einige radikale Studenten jüdischen Kommilitonen zu: „Geht nach Polen!” So, als wäre Polen das eigentliche Herkunftsland der Juden. Wissen diese Studenten von Spitzenuniversitäten tatsächlich so wenig von Geschichte? Oder handelt es sich bei diesem Slogan schlicht um eine Variante von: Ihr gehört nicht hierher?
Berman: Solche Rufe gab es. Hier in Stanford fand eine Veranstaltung statt und es kam zu einer Gegendemonstration, deren Teilnehmer riefen nicht „Geht!”, sondern “Go back!“ Geht zurück nach irgendwohin. Also nach Brooklyn, das heißt nach New York, zurück an die Ostküste. Natürlich können Sie nicht rufen: ‘Go to Israel’. Das wäre ja der reine Zionismus. Ein Nebeneffekt des 7. Oktober, denke ich, ist übrigens eine Verstärkung jüdischer Identifizierung mit Israel. Der Überfall der Hamas hat das zionistische Bewusstsein eher gestärkt als geschwächt. Aber zurück zum Antisemitismus: ‘Geht zurück nach Brooklyn’ ‘Geht zurück an die Ostküste’, ‘Geht zurück nach Polen’, das ist Ausdruck einer ganz bestimmten Perspektive. Wo immer sie auch sind, Juden sollten nach Meinung dieser Leute dort nicht zu Hause sein. Sie sollten verschwinden. Nun gibt es auch eine andere Lesart von ‘Geht zurück nach Polen’. Nämlich nicht die Aufforderung, zum historischen Siedlungsgebiet der jüdischen Bevölkerung im jetzigen beziehungsweise damaligen Polen zu gehen – die Geografie hat sich ja geändert, wie man weiß. Sondern: ‘Geht zurück nach Polen’ heißt eigentlich: ‘Geht zurück nach Auschwitz’.
Publico: Oder zumindest ins Ghetto, ins Schtetl.
Berman: Ja. Hier kommt das alte Motiv des ewigen Juden zum Vorschein, der keine Heimat haben soll.
Publico: Teils sind diese Parolen ganz offen in Kameras und Mikrofone gerufen worden. Wie war es in Stanford?
Berman: Das riefen sehr oft Demonstranten mit vermummten Gesichtern. Und das ist ein Aspekt der jetzigen Demonstrationswellen: Ich denke, ein Anliegen sowohl in den USA als auch an der Universität Hamburg beziehungsweise in Deutschland sollte es sein, ein Vermummungsverbot durchzusetzen und konsequent aufrechtzuerhalten. Diese Leute sind am Ende feige. Sie wollen sich nicht zeigen. Sie haben Angst, ihre Eltern könnten vielleicht die missratenen Kinder in den Nachrichten erwischen. Sie wollen die Meinungsfreiheit gebrauchen, um unvertretbare Positionen zum Ausdruck zu bringen, ohne sie zu unterzeichnen, ohne mit ihrer Person dazu zu stehen.
Publico: Mittlerweile gibt es eine neue Eskalation im Streit der Regierung mit Harvard: Die Trump-Administration hat angekündigt, dass diese Universität keine ausländischen Studenten mehr aufnehmen darf. Das scheint ein tiefer Einschnitt zu sein. Wie bewerten Sie das?
Berman: Es geht im Grunde um Folgendes: Im Anschluss an die Demonstrationen und antisemitische Ausschreitungen auf Harvard, die wohl zu den schlimmsten im Land zählten, verlangte der Staat, Harvard solle gewisse interne Reformen unternehmen, beispielsweise die positive Diskriminierung (“affirmative action”) abschaffen, und auch Auskunft darüber geben, ob internationale Studenten, die sich ja nur auf Grund eines Visums im Lande aufhalten, gegen die Universitätsregeln verstoßen haben. Der Kontext dazu: Es gibt Behauptungen, manche Universitäten hätten ausländische Studenten, die gegen die Uniregeln verstoßen hatten, gerade deshalb nicht bestraft, um sie vor Visumsschwierigkeiten zu schützen. Harvard hat dann eben nicht genügend kooperiert und die Trump-Regierung erhöht folglich den Druck. Ich gehe davon aus, die Drohung, es Harvard unmöglich zu machen, internationale Studenten einzuschreiben, ist als „fiskalischer” Schlag gemeint, denn Harvard, wie viele andere US-Hochschulen, lebt von den Studiengebühren ausländischer Studenten. Die finanzielle Unterstützung für Studenten gilt vor allem einheimischen, während die anderen eben „voll” zahlen müssen. Möglicherweise gibt es auch eine nichtfiskalische Seite zu diesem Schritt: Es scheint der Fall zu sein, dass Universitäten mit dem größten Prozentsatz internationaler Studenten, in Harvard: 27 Prozent, eben auch diejenigen mit den größten Unruhen und Ausschreitungen waren. Das heißt bei weitem nicht, dass alle Demonstranten Ausländer waren – gewiss nicht. Aber das Campusklima ändert sich vermutlich, wenn die Anzahl internationaler Studenten eine gewisse Grenze überschreitet. Diese These untersuche ich gerade.
Publico: Sie sprachen kürzlich bei einer Veranstaltung in Berlin davon, dass es innerhalb der Universitäten strukturelle Auseinandersetzungen zwischen Geisteswissenschaften und den Vertretern anderer Fächer gibt. Bei Ihnen in Stanford auch? Und: Wie liefen die Demonstrationen bei Ihnen konkret ab? An mehreren Universitäten stellte sich heraus, dass es sich bei manchen Besetzern auf dem Campus gar nicht um eingeschriebene Studenten handelte, sondern um Unterstützer, die radikale Studenten herbeigerufen hatten, um mehr Druck zu machen.
Berman: Die meisten Universitätsareale sind normalerweise offen, vor allem Stanford. Es gibt keine Gitter um die Universität. Das ist bei Columbia oder Harvard anders, wo man die Campusanlage oder wenigstens den Kern der Anlage abschließen kann. Tatsächlich nahmen an einigen Demonstrationen und Ausschreitungen auch Nicht-Universitätsmitglieder teil. Es gab aber genug Universitätsmitglieder, die mitmachten. Wir können uns also nicht trösten, indem wir sagen: Das waren alles Leute von außen, die das verursachten. Die Lage ist vielschichtig. Ich sollte ein bisschen weiter ausholen. Die Demonstrationswelle nach dem 7. Oktober an den Universitäten legte eine ganze Reihe von Problemen offen, die schon länger bestehen. Eins davon betrifft die Studiengebühren. Die sind horrend teuer und mit großer Verschuldung verbunden. Darüber hinaus gibt es eine schlechte Abstimmung zwischen Lehre und Arbeitsmarkt. Das kennen Sie in Deutschland. Es gibt auch darum eine Unzufriedenheit in der Bevölkerung insgesamt mit den Hochschulen. Und vor diesem Hintergrund einer unterschwelligen Unzufriedenheit vieler Bürger mit den Universitäten kam es dann zu den Protesten und Ausschreitungen nach dem 7. Oktober. Seitens der Regierung geht es um folgende Streitpunkte: Erstens den Antisemitismus, die Diskriminierung gegen jüdische Studenten – und nicht nur gegen Studenten, sondern auch gegen nichtwissenschaftliche Angestellte und Wissenschaftler. Die Lage der israelischen Studenten habe ich schon erwähnt. Zweitens gibt es ein Thema, das bisher weniger die Schlagzeilen erreicht hat: Die Diskriminierung bei der Anstellung von Professoren und bei der Aufnahme von Studenten. Hier geht es nicht vor allem um Antisemitismus, sondern um die Anwendung rassischer Selektionskategorien, beziehungsweise ethnischer Kategorien, so würde man höflicher sagen, also die sogenannte affirmative action, die positive Diskriminierung zugunsten von bestimmten Minderheiten, die neulich vom Obersten Gerichtshof für illegal, also verfassungswidrig erklärt wurde. Viele Universitäten halten trotz dieses Urteils an dieser Praxis fest. Bei der Kritik an der Legalität der Regierungsmaßnahmen sollte man nicht vergessen, dass manche Universitäten selbst verfassungswidrig handeln, wenn sie weiterhin ethnische Kategorien bei der Einstellung anwenden und sagen: Wir wollen keine weißen Männer anheuern, wir wollen weniger weiße männliche Studenten und mehr Menschen von Farbe, of color, wie es im Englischen heißt. (In Wirklichkeit sind es oft Asian American Studenten, gegen die diskriminiert wird.) Das mag ja ursprünglich aus guter Absicht geschehen sein. Aber es ist nun einmal verfassungswidrig. Wie Chief Justice Roberts mal sagte: „Man beendet Rassendiskriminierung, indem man Rassendiskriminierung beendet.” Und wer eben anders handelt, stellt sich gegen die Verfassung. In Deutschland würde man wohl sagen: Er ist ein Fall für den Verfassungsschutz. Bisher hat die amerikanische Bundesregierung in solchen Fällen Gelder blockiert: Man sollte Staatsgelder nicht in Unis investieren, die nach rassischen Kategorien Entscheidungen treffen. Es ist aber eben so, dass die meisten Forschungsgelder in die Naturwissenschaften und Medizin fließen sollten, d.h. Gelder zu blockieren betrifft vor allem die Forschung in Naturwissenschaften und Medizin. Das geschieht wie erwähnt wegen fortgesetzter diskriminierender Einstellungspraktiken in den Universitäten und wegen eines Antisemitismus, der vor allem in den Geisteswissenschaften zu finden ist. Diese Blockierung der Gelder durch die Regierung ist bisher in den meisten Fällen wiederum von Gerichten blockiert worden. Wenn die Forschungsgelder aufhören sollten zu fließen, handelt es sich also in den meisten Fällen um Drohungen und noch nicht um Wirklichkeit. Wir haben es mit einem komplexen und weiten Feld von unterschiedlichen Universitäten und unterschiedlichen Gerichten zu tun. Das ist eine wichtige Feststellung. Denn wenn von Diktatur oder gar Faschismus die Rede ist in Bezug auf die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Universitäten in den USA, finde ich die Beschreibung Fehl am Platz: Ich kenne aus der Geschichte des Faschismus in Italien oder des Nationalsozialismus in Deutschland kaum Fälle, in denen Gerichte Mussolini und Hitler blockiert hätten. Also: Der Rechtsstaat bleibt lebendig. Trump mag mit dem Verlauf der Verfahren vielleicht unzufrieden sein. Aber er dürfte nicht der einzige Teilnehmer an einem gerichtlichen Verfahren sein, der unzufrieden mit den Richtern geworden ist. So etwas kommt in Rechtsstaaten vor.
Publico: Und die Demonstrationen und Unruhen – wie liefen sie bei Ihnen ab?
Berman: Wir haben auch unsere Zeltlager gehabt. Wir hatten auch unsere Demonstrationen. Das lief allerdings weniger extrem ab als an der Columbia und in Harvard. Warum? Das versuche ich gerade zu erforschen. Eine These lautet: Obwohl Stanford natürlich eine Volluniversität mit allen Fachbereichen ist, liegt der Schwerpunkt in den Naturwissenschaften und der Technologie. Und die MINT-Fächer im Allgemeinen sind weniger ideologisiert, wenn sie auch der Ideologisierung nicht völlig entkommen sind. Dort gibt es auch pathologische Erscheinungen, aber viel weniger als etwa bei den Geisteswissenschaftlern. Ich arbeite zur Zeit mit einer Kollegin zu den Unterschieden zwischen Stanford und der Columbia University, wo die Ausschreitungen besonders eklatant gewesen sind. Bei etlichen Demonstrationen gab es – interessanterweise an beiden Universitäten – eine klare Überzahl von jungen Frauen. Als es eine Okkupation des Büros des Präsidenten von Stanford gab, wurden 13 Teilnehmer verhaftet, neun davon Frauen. Als vor ein paar Wochen eine weitere Gebäudebesetzung an der Columbia Universität zu Verhaftungen führte, waren etwa 60 von 80 Festgenommenen Frauen. Wieso? Eine Erklärung besteht darin, dass es immer noch einen deutlichen Unterschied bei der Wahl der Studienfächer gibt. Frauen studieren weniger wahrscheinlich Ingenieurswissenschaften oder MINT-Fächer als Männer. Angehende Ingenieure sind entweder durch die Lehre weniger ideologisiert oder diese Fächer sind einfach schwerer und die Studenten dort haben also keine Zeit für diese Kindereien. Diejenigen, die Gendertheorie oder Cultural Studies machen, verfügen offenbar über viel mehr Freizeit und können deshalb auch eher demonstrieren gehen. Es kommt auch vor, dass Dozenten in diesen Fächern die Studenten direkt zum Aktivismus ermuntern oder gar die Grenze zwischen Wissenschaft und Aktivismus explizit einebnen.
Publico: Dazu kommt noch das generelle Phänomen in den meisten westlichen Ländern, dass junge Frauen tendenziell linker denken und wählen als Männer. Das dürfte den von Ihnen beschriebenen speziellen Effekt an den Universitäten noch einmal verstärkt haben.
Berman: Bei den Ereignissen an den Universitäten ist interessant, dass gerade diese Frauen, die sich in diesen Demonstrationen und Besetzungen engagierten, und bei denen es sich vermutlich um linke feministische Frauen handelt, anscheinend kein Problem damit hatten, sich mit dem Patriarchat von Hamas zu solidarisieren. Die Unterdrückung der Frau in Gaza ist offenbar kein Thema für sie. Und das läuft parallel zu einer weiteren Tatsache bezüglich des 7. Oktober: Nach den Berichten über die Vergewaltigungen taten sich feministische Organisationen sehr, sehr schwer, sich solidarisch mit den Opfern zu äußern. Ich spreche jetzt von den feministischen Organisationen in den USA, ich weiß nicht, ob sich das in Deutschland ähnlich abspielte. Entweder leugneten sie die Tatsache der Vergewaltigungen oder sie schwiegen dazu oder sie rechtfertigten sie als Akt des antikolonialen Aufstands. Die Tatsache, dass sie bezweifelten, was am 7. Oktober 2023 vielen Frauen in Israel geschah, steht im offensichtlichen Widerspruch zu dem Credo der Me-Too-Bewegung, das lautete: Man sollte der Frau auf jeden Fall glauben. In diesem Fall glauben Feministinnen den Frauen nicht – denn das würde ihr eigenes Weltbild zerstören.
Publico: Ja, das konnte man auch in Deutschland beobachten. Ich hatte in Berlin eine Veranstaltung besucht, auf der eine Überlebende des Nova-Festivals sprach. Bei diesem Festival wurden bekanntlich viele Besucher von Hamas-Leuten getötet, etliche Frauen vorher vergewaltigt. Ich hatte mit einem riesigen Andrang in Berlin gerechnet. Tatsächlich blieb mehr als die Hälfte der Plätze im Saal leer. Kaum Journalisten, keine Vertreterinnen von linken Frauenorganisationen, an denen in der Stadt kein Mangel herrscht. Nicht weit von Stanford, in Berkeley hatte die Begründerin der Gender-Theorie Judith Butler 2006 vor Studenten die Hisbollah zum Bestandteil der globalen Linken erklärt – eine Organisation, deren Mitglieder sogar den Hitlergruß für sich adaptiert haben. Ich versuche zu verstehen, wie eine lesbische Frau mit jüdischen Wurzeln eine Nähe zu dieser Truppe empfinden kann. Haben Sie eine Erklärung?
Berman: Ich denke, dass bei vielen die vorrangige Bedeutung, links zu sein, zu einer Bereitschaft führt, Wahrheiten zu leugnen, ebenso wie Mitleid zu verweigern. Dieses Phänomen ist nicht unähnlich der Psychologie bei den Altkommunisten der 40er, 50er Jahre, die oft wussten, dass es sich beim Stalinismus um ein furchtbares System handelte, die aber trotzdem nicht willens waren, mit der Partei zu brechen. Da, wie es hieß, die Partei immer recht hat, habe man sich „verhärten” lassen, wie Wolf Biermann es beschrieb. Wenn Butler behauptet, die Hisbollah und auch die Hamas gehörten zur Internationalen Linken, und deshalb müsse man sich mit ihnen solidarisieren – als hätte sie ebenfalls immer recht –, dann ist eine erste Erwiderung: Diese Organisationen sind doch kulturell reaktionär, wie können sie dann links sein? Wo bleibt das „Progressive”? In dem Sinne müsste man die These Butlers ablehnen: Es gibt keinen Grund, dem verstorbenen Nasrallah nachzutrauern oder gar sich mit ihm aus einer progressiven Ecke zu solidarisieren. Vielleicht gibt es aber am Ende auch einen Wahrheitskern bei Butler. Kennzeichnend für Hisbollah und Hamas ist gerade ihre Grausamkeit und gerade diese Akzeptanz der Grausamkeit ist nah am Kern der Linken. Linkssein heißt nicht, ein netter Mensch zu sein und für soziale Gleichheit einzutreten. Linkssein heißt in seiner extremen Konsequenz Gulag. Und das entspricht dem Wesen von Hisbollah und Hamas. In diesem Sinne gebe ich Butler recht. Wer links sein will, muss das ganze Paket kaufen: Solidarität mit Hamas und Hisbollah und Hohenschönhausen und Kulturrevolution, alles muss blindlings bejaht werden. Aber es gibt noch mehr: Ich denke, bei Butler gibt es außerdem etwas Biographisches. Sie hat sich wirklich einen Namen gemacht als Vordenkerin der Gendertheorie. Das ist allerdings, sogar in Universitätskreisen, ein bisschen Schnee von gestern geworden. Es scheint also, dass sie versucht, sich mit ihrem Hamasfimmel wieder in die Öffentlichkeit zu bringen. Dann hätten wir es mit einer Karrierestrategie zu tun, keinem theoretischen Konzept. Das ähnelt ein bisschen einem bekannten Phänomen aus Hollywood: Wenn Schauspieler nicht mehr öffentlich präsent sind, greifen sie manchmal politische Themen auf, um wieder Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als Literaturwissenschaftler, als Germanist würde ich sagen, das gleiche Muster sah ich auch bei Günter Grass. Er hatte in der Tat am Anfang seiner Karriere erfolgreiche Romane geschrieben, die Danziger Trilogie. Danach kam eigentlich nichts Vergleichbares, stattdessen bemühte er sich, als politischer Sprecher in der politischen Öffentlichkeit aufzutreten, um weiter präsent zu bleiben.
Publico: Sowohl im politischen Meinungskampf innerhalb der USA als auch in der Berichterstattung in Europa und Deutschland über die USA spielt immer wieder der Begriff des Faschismus eine große Rolle – also der Vorwurf, die USA würden in eine faschistische Diktatur abgleiten. Trump, aber auch Elon Musk werden inflationär mit dem Begriff „Faschist“ belegt. Nun lautet bekanntlich die Definition des Faschismus durch Mussolini: Alles durch den Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat. Egal wie man zu Trump und Elon Musk steht – sie versuchen den Staatsapparat gerade zu schrumpfen; der Kongress verabschiedete kürzlich ein Steuersenkungspaket. Ist der Faschismusbegriff vieler Intellektueller dermaßen unscharf? Es scheint auch, dass kaum einer zwischen Faschismus und Nationalsozialismus unterscheidet.
Berman: Man sollte unterscheiden zwischen dem Sprachgebrauch der Historiker, die sich mit dem Thema beschäftigen und dem umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes „Faschist“. Zum ersten Punkt: Ich denke, Historiker müssten zwischen Faschismus und Nationalsozialismus unterscheiden. Das waren nicht die gleichen Entwicklungen, trotz des Bündnisses während des Krieges. Deshalb – wegen der damaligen Achse Berlin-Rom – vermischen wir die zwei unterschiedlichen Regimesorten. Man könnte sicherlich sagen, beide Fälle lassen sich als Varianten des Totalitarismus beschreiben. Diese Art Vergleich betrieb Hannah Arendt bezogen auf Nationalsozialismus und Stalinismus. Aber auch sie hätte nicht bestritten, dass es doch gleichzeitig Unterschiede gibt. Trotzdem gibt es Wissenschaftler mit unleugbaren Leistungen, die den Faschismusbegriff oder die Faschisten-Metapher benutzen, um Trump zu kritisieren.
Publico: Jason Stanley zum Beispiel, der von vielen Journalisten als führender Faschismusforscher der USA bezeichnet wird.
Berman: Ich stehe zur Meinungsfreiheit. Dieser Professor hat das Recht, sich zu irren. Ein anderer Faschismusforscher, Timothy Snyder, so ist berichtet worden, hat den Einsatz der Polizei unter Trump in dessen erster Regierung mit den Einsatzgruppen der SS im Zweiten Weltkrieg verglichen. Das ist obszön, Das ist eine massive Minimalisierung dessen, was die Einsatzgruppen getan haben. Das waren keine Verkehrspolizisten. Wir sind Demokraten und deshalb können sich auch Wissenschaftler als Staatsbürger an politischer Polemik beteiligen. Aber man hätte erwartet, dass Wissenschaftler, die es besser wissen müssten, vorsichtiger wären mit dem Gebrauch historischer Begriffe. Soweit zur wissenschaftlichen Seite. Umgangssprachlich sind, wie Sie wissen, „Faschist“ und auch „Nazi“ zu allgemeinen Schimpfworten degradiert.
Publico: Komischerweise nicht Kommunist.
Berman: Und komischerweise komme ich darauf zu sprechen. Aber erst mal noch zu „Faschist“: Wen ich nicht mag, der ist eben Faschist. Der Kellner, der mich schlecht behandelt, ist Nazi. Oder Rassist. Es gibt einen inflationären Gebrauch dieser Wörter, die ihre Bedeutung verlieren. Die Wissenschaftler, die ich jetzt erwähnt habe, sind zum Teil dafür verantwortlich. Aber das ist ein weites Feld, unsere Sprachkrise. Diese politischen, diese historisch gewordenen politischen Begriffe werden entleert, und damit verlieren wir die Fähigkeit, Entwicklungen zu beschreiben, zu benennen, und zu kritisieren. Die Termini sind zu allgemein gebräuchlichen Schimpfwörtern verkommen. Daraus folgt, dass der Schrecken, der eigentlich in diesen Begriffen liegt, kaschiert wird, sobald jemand irgendwen, den er nicht mag, als Faschist bezeichnet. Sie erwähnten die Asymmetrie bezüglich des semantischen Wertes von „Kommunist“. Das ist eine Entwicklung, die ich in Deutschland beobachte, die es aber wohl auch woanders gibt. Vor allem in dem einst geteilten Deutschland ist sie aber von besonderer Bedeutung. Es gab einmal einen antitotalitären Konsens in der Bundesrepublik. Extrem rechts und extrem links – eine große Mehrheit hielt beides für schlecht: Man wollte weder Kommunist noch Nazi sein. Die politische Bildung der Bundesrepublik ist mit diesem Gleichgewicht groß geworden. Hat man immer die richtigen Töne getroffen? Gewiss nicht. Aber man wollte weder zurück in die NS-Zeit noch „rüber” in die DDR. Das war klar und ich denke, das war auch sinnvoll und ethisch richtig. Aber im Laufe der Zeit und schon lange vor 1989 entwickelte sich eine asymmetrische Betrachtung, Die Nazis, die Faschisten, wurden weiter pejorativ verstanden und richtig so, während das Urteil über den Kommunismus mit der Zeit immer milder wurde. Auch unter Studenten in den USA kann man heute diejenigen finden, die sagen: Der Kommunismus war eine gute Idee, nur schlecht ausgeführt. Das Gleiche würde man nie vom Faschismus sagen, man würde das nie von Hitler sagen. Aber es gibt ja Stalinapologeten und Putinversteher. Es zeugt von einer Bereitschaft, den Kommunismus retrospektiv zu verklären.
Publico: Die Zahl der Ostdeutschen, die die Diktatur bewusst erlebt hat und dem System kritisch gegenüberstand, war schon 1990 gemessen an der deutschen Gesamtbevölkerung ziemlich klein. Eine Deutungshoheit über die DDR besaß sie nie. Die lag immer bei Westdeutschen, die die DDR sehr milde sahen, und ehemaligen politischen Kadern und Privilegierten der DDR.
Berman: Ich verstehe diese Apologie für die DDR vielleicht bei Teilen der Linkspartei – es sind ja die Erben der SED. Was mir Sorgen macht, ist, dass diese Verklärung des DDR-Kommunismus kein Monopol der Linkspartei ist. Das findet man auch bei Teilen der Grünen und in der SPD. Die Sozialdemokraten hätten es dabei gar nicht nötig. Sie sollten ihre eigene Geschichte nicht verleugnen, bzw. die Geschichte ihrer Parteigenossen, die unter der DDR gelitten haben. Hinzu kommt: Auch die ökologische Bewegung wurde unterdrückt in der DDR. Man könnte deshalb denken, dass gerade bei den Grünen wie auch bei der SPD ein schärferes Bewusstsein für den Unrechtsstaat herrschen würde. Aber wie Sie sagen: Es gibt heute eine Deutungshoheit des falschen Bewusstseins in Deutschland.
Publico: Wie schaut man eigentlich aus den USA heraus auf Deutschland beim Thema Meinungsfreiheit? Es gab zum einen die Rede von J. D. Vance auf der Sicherheitskonferenz in München, der die zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit in der EU und Deutschland thematisierte, außerdem die CBS-Dokumentation in dem Format “60 Minutes” über den Eifer der Staatsanwaltschaft in Deutschland, Kritik von Bürgern an Politikern mit dem Strafrecht zu verfolgen. Kam beides überraschend für die amerikanische Öffentlichkeit? Wie diskutiert man dieses Thema an den Universitäten in den USA?
Berman: Ich denke, diese “60 Minutes“-Sendung war hier in den USA weniger wichtig; das Programm ist bei weitem nicht mehr so einflussreich, wie es einmal war. Sie war natürlich für Leute wie mich von Interesse, die wir uns für Deutschland interessieren. Aber man sollte die breite Reaktion auf “60 Minutes” nicht überschätzen. Das, was die deutschen Juristen dort von sich gaben, war in der Tat eine Rechtfertigung der Einschränkung von Meinungsfreiheit. Die Münchner Rede von Vance war stark, aber vielleicht, so mein erster Gedanke, fehl am Platz. Es hätte um die Ukraine gehen sollen, um Sicherheit in Europa. Aber jetzt, im Nachhinein: Ich meine, dass gewisse Entwicklungen in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland Aspekte der westlichen Wertegemeinschaft in Frage stellen. Wie ich neulich in Berlin gesagt habe: Wir, Deutschland und Amerika, teilen immer noch die Demokratie. Gott sei Dank. Deshalb gibt es Einwanderungwellen nach Deutschland und in die USA. Wir müssen zwar die Migration regeln – aber die Einwanderung selbst zeugt davon, dass man in unseren Ländern leben möchte. Es gibt keine Migration aus anderen Ländern nach Russland oder China. Unsere geteilten gesellschaftlichen Vorteile unterscheiden uns von Moskau und Peking. Aber die Grundlagen des transatlantischen Bündnisses waren nicht nur strategische Interessen, sondern auch geteilte Werte. Dazu gehören Demokratie, Meinungsfreiheit und andere Freiheiten in der Tradition der Aufklärung. Es stimmt, worauf Sie hingedeutet haben: Amerikaner, die sich damit beschäftigen, sehen Einschränkungen der Redefreiheit in Deutschland – oder England – mit Befremdung. Dazu gehört insbesondere die Entwicklungen um den Paragraphen 188 StGB, der speziell Politiker vor scharfer Kritik schützen soll. Aber wenn ich als Bürger einen Politiker nicht beleidigen kann – was bleibt dann von der Demokratie? Wohin verschwindet die kritische Kraft der Öffentlichkeit? Eine Beleidigung ist sicherlich keine wissenschaftliche Analyse, aber die Meinungsfreiheit ist nicht bloß für Wissenschaftler gemeint. Ohne Frage: Eine Beleidigung kann lediglich Ausdruck von Missmut sein und nicht das Ergebnis eines gründlichen Nachdenkens. Aber so sind manche Staatsbürger nun mal. Sie sind nicht alle Wissenschaftler. Auch missmutige Staatsbürger haben das Recht auf Meinungsfreiheit. Aber neben diesem Problem zum Paragraphen 188 – ich nenne es das Schwachkopf-Problem – gibt es Gesetzgeber auf europäischer Ebene, vielleicht auch auf deutscher Ebene, die gern einschränken würden, was im Internet zum Ausdruck gebracht werden kann. Das war ein zweiter Punkt im Sinne der Münchner Rede. Dritter Punkt: Das enge Spektrum der Meinungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland wird weiter eingeschränkt durch die staatlichen Förderungen von Nichtregierungsorganisationen. Die Demokratie lebt, wie Jürgen Habermas sagen würde, von einer räsonierenden Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit sollte nicht von der Regierung geleitet, gelenkt oder verwaltet werden. Im Gegenteil: Die Regierung sollte nur den rechtlichen Rahmen geben. Es sollte keine Einschränkung der Meinungsfreiheit geben, auch keine besondere Förderung für bestimmte Positionen. Das scheint in Deutschland heute nicht der Fall zu sein. Und das ist ein Problem. Eine weitere Seite der Einschränkung des freiheitlichen Lebens, worauf Vance angespielt hat, hängt mit den Folgen der Migration zusammen. Es gibt viele Migranten, denen eine erfolgreiche Integration gelingt, sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft. Es gibt allerdings auch eine Minderheit von Migranten, die stark auf islamistische Kulturpolitik setzt. In den letzten Tagen lief in den deutschen Nachrichten die Geschichte eines Lehrers in Berlin Moabit, der sich als schwul geoutet hatte und anschließend gemobbt wurde von Schülern, die beinahe komplett aus migrantischen islamischen Familien stammen sollen. In der Welt gab es ein Interview mit Herrn Sarrazin, in dem der bedeutende Satz vorkam: „Wenn man massenweise Menschen aus anderen Kulturkreisen einlädt, sollte man nicht überrascht sein, wenn es kulturelle Folgen gibt.“ Und die Befürworter der Migration sollten sich fragen, ob sie damit zufrieden sind. Das ist für die amerikanische Sicht auf Europa deshalb wichtig – und ich sage Europa, da es nicht nur ein deutsches Problem ist, auch in London, in Paris gibt es ähnliche besorgniserregende Entwicklungen. Wann wird dieser islamistische Bevölkerungsanteil zum ausschlaggebenden Teil des Wahlvolkes? Wird er Druck ausüben auf die Politiker? Es ist jetzt schon zu beobachten, dass Politiker versuchen, gerade diese Stimmen zu gewinnen, wie etwa bei La France insoumise von Mélenchon. Was passiert, wenn diese Wähler beispielsweise eine Hamas-ähnliche oder Hisbollah-ähnliche Gesellschaftspolitik fordern, Geschlechtertrennung in den Schulen zum Beispiel oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln? Diese Diskussion gibt es ja schon. Dann werden Wahlergebnisse zu politischen Folgen der Migration. London und Paris sind Berlin in dieser Beziehung voraus, denn die Migration aus der islamischen Welt hat dort eine längere Geschichte. Aber das, was sich dort abspielt, werden Sie wohl bald auch in Deutschland erleben.
Publico: Zu dem Fall des gemobbten schwulen Lehrers in Moabit hat sich eine einflussreiche grüne Politikerin mit muslimischem Hintergrund zu Wort gemeldet. Sie bestritt jeden Zusammenhang zwischen islamischer Erziehung und Schwulenfeindlichkeit; ihrer Meinung nach haben die Drohungen der Schüler gegen den Lehrer „strukturelle Gründe”, Schwulenfeindlichkeit käme überall in der Gesellschaft vor. Ihre Argumentation läuft darauf hinaus: Wer die Ursache dieser und ähnlicher Vorfälle in den Wertvorstellungen vieler Muslime sieht, ist Rassist, Ende der Debatte. Es handelt sich um das gleiche Muster, das Sie vorhin ansprachen: Der Grundsatz von MeToo, Frauen müsse grundsätzlich geglaubt werden, gilt für die Opfer der Hamas eben nicht mehr. Genauso, wie der Grundsatz der alten Linken, dass Minderheiten wie Schwule geschützt werden müssen, außer Kraft gesetzt wird, wenn Hass und Angriffe von muslimischer Seite kommen. Dann dient der Rassismusvorwurf als Allzweckwaffe, um denjenigen, der auf die Bedrohung hinweist, zum Problem zu erklären.
Berman: Man sollte sie daran erinnern, dass Islam keine Rasse ist. Das heißt, dass man nicht Rassist sein kann gegen Muslime – es gibt auch weiße Muslime, es gibt asiatische. Das zeugt nur von der fehlenden Bildung dieser Politikerin. Ich würde gerne den vorhin erwähnten Präsidenten der Universität Hamburg fragen, ob sie womöglich dort studiert hat. Was hat sie eigentlich aus dem Studium gewonnen, wenn sie sowas behauptet? Vermutlich hat sie gelernt, dass ein fälschlicherweise erhobener Vorwurf wegen Rassismus Erfolg haben kann, einen Adressaten mundtot zu machen. Und gerade diese Degradierung des Anderen zum Rassisten oder zum Islamophoben führte bekanntlich in französischen Schulen dazu, Lehrer nicht nur mundtot zu machen, sondern in einem Fall wirklich zu Mord. Demnächst auch in Moabit? Vertreter des Diskurses, den Sie bei dieser Politikerin beschreiben, wollen blind sein gegen das Problem – und zugleich untergraben sie den semantischen Wert des Rassismusvorwurfs, wenn sie das Wort so gedankenlos gebrauchen.
Publico: Welche amerikanischen Medien würden Sie Deutschen empfehlen, die sich über die Innenpolitik der USA informieren wollen?
Berman: Im Zeitalter des Internets sieht sich die etablierte Presse einer großen Konkurrenz gegenüber. Es ist wichtig, in der neuen Medienlandschaft breit zu lesen, sich nicht nur auf ein Leib-und Magenblatt zu verlassen. Das Wall Street Journal finde ich sehr informativ. Ist es Trump-kritisch? Allerdings, und zwar von einer republikanischen Seite. Das Wall Street Journal, obwohl dank seines Namens eng mit dem Kapitalismus verbunden, betreibt meiner Meinung nach den besten Journalismus zu Fehlentwicklungen der Marktwirtschaft. Den Enron-Skandal hatte damals das Wall Street Journal aufgedeckt. Ich finde es viel besser als etwa die New York Times oder die Washington Post, wobei die Post immer noch die Trennung zwischen Nachrichten und Meinung aufrechterhält. Bei New York Times ist hingegen jeder Nachrichtenartikel beinahe schon ein Leitartikel. Ich lese außerdem gern The Free Press mit Bari Weiss. Das ist nicht wie eine Tageszeitung, eher ein Magazin mit längeren Aufsätzen, mitte-konservativ. Mitte links ist das Atlantic Magazin. Es gibt gute Substacks. Ich lese gerne Chris Rufo, Mitarbeiter des Manhattan Institute. Und jetzt ein bisschen Reklame: Ich bin an der Hoover Institution in Kalifornien, einem konservativen Forschungsinstitut. Ich bin auch mit der Zeitschrift Telos assoziiert.
Der Germanist und Literaturwissenschaftler Russell A. Berman, geboren 1950 in Boston, gehört zu den profundesten Deutschlandkennern der USA. Berman ist Inhaber the Walter A. Haas Professur der Geisteswissenschaften an der Stanford University, Senior Fellow der Hoover Institution und Co-Vorsitzender der Arbeitsgruppe Middle East and the Islamic World. In Stanford bekleidete er mehrere administrative Positionen, unter anderem als Senatsvorsitzender des Akademischen Konzils und Direktor des Stanford Overseas Studies Program. In mehreren seiner Publikationen befasste sich Berman mit der deutschen Literaturgeschichte, etwa in “Between Fontane and Tucholsky: Literary Criticism and the Public Sphere in Imperial Germany“.