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„Gramsci des Monats“ (3): Hamilton-Moment

„Sprache in der Politik“, so der einstige SPD-Bundestagsabgeordnete Dieter Lattmann, ist wie eine Mogelpackung. Wenn man die Behauptung auspackt, zeigt sich, wie klein der Inhalt ist.“ Lattmann war nicht nur Politiker, sondern auch Schriftsteller. Er hatte für verbale Seifenblasen sicherlich ein besonderes Gespür. 2018 ist er gestorben und kann deswegen nicht mehr mahnen. Politische Mogelpackungen gibt es allerdings noch immer. Und entfalten oft über Monate hinweg ihre Wirkung in der Öffentlichkeit.

Am 20. Mai 2020, im ersten Frühsommer der Corona-Pandemie, erschien in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ ein Interview mit Olaf Scholz, damals Finanzminister, heute angehender Bundeskanzler. Das Thema: die Situation Europas – und das nicht ohne Grund. Zwei Tage zuvor hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident, Emmanuel Macron, einen Epochenwechsel eingeläutet. Sie hatten gemeinsam vorgeschlagen, einen EU-Hilfsfonds zum Wiederaufbau Europas nach der Corona-Pandemie zu schaffen und für diesen „recovery fund“ 500 Milliarden Euro am Finanzmarkt zu leihen. Damit erhielt ein Schritt seine politischen Weihen, der nicht in den Europäischen Verträgen vorgesehen ist und gegen den sich gerade Deutschland lange gewehrt hatte: der Einstieg in die Schuldenunion.

Anleihe bei der amerikanischen Geschichte

Der Bundesfinanzminister gab dieser Entscheidung Schützenhilfe und überhöhte sie im Interview zum historischen Moment: „Im Zuge einer tieferen Integration der EU sollte eine zeitweilige Aufnahme von Schulden auf europäischer Ebene kein Tabu sein. Für eine solche Fiskalreform gibt es historische Vorbilder: Der erste US-Finanzminister Alexander Hamilton (1755 – 1804) bündelte im Jahre 1790 auf Ebene des Zentralstaats die Kompetenz, gemeinsame Einnahmen zu erzielen, und eine eigene Verschuldungsfähigkeit.“

Damit war in der deutschen tagespolitischen Debatte der „Hamilton-Moment“ geboren und geprägt. Der europäische Hamilton-Moment klang charmant und so ganz anders als die europapolitischen Krisendauerbrenner wie Pandemiebekämpfung, Post-Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien und Rechtsstaat-Streit mit Polen und Ungarn. Warum nicht durch eine fiskalische Volte endlich zu den Vereinigten Staaten von Europa werden?

Olaf Scholz sprach über diese Idee nicht ohne Emphase: „Ich spreche von einer more perfect union, einer immer besseren Union,“ sagte er in einem Interview mit dem Handelsblatt zwei Wochen darauf. Und legte abermals in der ZEIT zwei Monate später unter erneutem Verweis auf Hamilton nach: „Wer zusammen Kredite aufnimmt und sie zusammen zurückzahlt, der erreicht eine neue Dimension der Gemeinsamkeit.“

Journalisten lieben Metaphern und so fand der „Hamilton-Moment“ sein Echo. Ob ZEIT, Handelsblatt, Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) oder die Frankfurter Allgemeine Sonntags-Zeitung: Weder die Begeisterung des Finanzministers für die EU-Schulden noch der Bezug auf Alexander Hamilton wurden dort hinterfragt. 

Entscheidung mit weitreichenden Folgen

Dabei wäre es wichtig und aufschlussreich, sich ein größeres Bild zu machen, als sich mit der Moment-Aufnahme zu begnügen. Zwar hat der erste Finanzminister der USA 1790 durch die Zusage, dass die amerikanische Zentralregierung die Schulden der einzelnen Bundesstaaten übernimmt, in der Tat deren Einwilligung zu Bundessteuereinahmen erhalten und somit mehr Zuständigkeiten für die föderale Ebene erkämpft. Das war ein wichtiger Schritt beim US-amerikanischen „nation building“.

Aber der Preis für diesen Deal, den Hamilton mit den beiden anderen Gründervätern Thomas Jefferson und James Madison bei einem Abendessen besiegelt haben soll, war hoch. Einzelne Bundesstaaten fühlten sich in der Folgezeit dadurch ermuntert, einen Kredit nach dem anderen zu aufzunehmen und somit auf Pump Investitionen in Straßen, Brücken und öffentliche Gebäude zu finanzieren. Die gewaltige Kreditblase platzte in den 1830er Jahren und stieß die amerikanische Volkswirtschaft in eine tiefe Depression. 1842 waren neun der damals 29 US-Staaten bankrott. Die Folge: fortgesetzter Streit und Spannungen. Historiker sagen, die ungelöste Schuldenproblematik hat mit zum Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges beigetragen. Er wütete vier Jahre und kostete über 600.000 Soldaten und geschätzt mehrere Hunderttausend Zivilisten das Leben.

Die Amerikaner haben auf den Hamilton-Moment und seine traurigen Folgen reagiert. Sie führten strikte Schuldengrenzen für die Einzelstaaten ein. Fortan sollten sie haften und der Bund nicht einspringen. Kalifornien, das zuletzt 2009 zahlungsunfähig war, ist ein aktuelles Beispiel dafür, dass die Regel des „No Bail Out“ bis in die Gegenwart gilt. Der Ökonom und langjährige Leiter des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, erinnerte gerade erst kürzlich wieder in einem Interview an die „Schuldenexzesse, die durch die Schulden-Vergemeinschaftung Alexander Hamiltons“ angekurbelt worden waren. Für ihn steht fest: Erst durch das No-Bail-Out-System wurde der Dollar stabil.

Fazit: Nicht auf den langen Schatten des „Hamilton-Moments“ in der US-Geschichte hinzuweisen, kommt einer Lattmannschen Mogelpackung gleich. Sie verschleiert den Blick auf die großen Gefahren einer Finanzpolitik, die auf Schulden setzt, ohne zugleich die Instrumente der Haushalts- und Ausgabendisziplin anzupassen und ohne die gleichermaßen notwendigen Strukturreformen einzufordern. Genau das ist die große Gefahr des „Merkel-Macron-Scholz-Moments“ von 2020, dessen Beschlüsse Brüssel jetzt Zug um Zug umsetzt.

Redaktion

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