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„Gramsci des Monats“ (5): Freiheit

Wer möchte nicht in Freiheit leben? “Geben Sie Gedankenfreiheit!”, so lautet die berühmte Aufforderung an den König von Spanien in Friedrich Schillers Theaterstück “Don Carlos”. Und Schiller war es auch, der um das Jahr 1790 herum das berühmte und auch vertonte Gedicht “Die Gedanken sind frei” verfasste. Es war die Sturm-und-Drang-Zeit, und im Nachbarland Frankreich schien die französische Revolution dem absolutistischen Ständestaat ein Ende zu setzen. Bürgerliche Freiheiten waren zum Greifen nah. Doch das Beispiel Schillers zeigt auch die dunkle Seite des Freiheitsbegriffs: Keine zwei Jahre später ging es den Revolutionären, die sich als Freiheitskämpfer in Szene setzten, bereits um die Durchsetzung immer radikalerer, ideologischerer Ideen. Alle, die den Anführern der Revolution nicht weiter folgen wollten, wurden verfolgt, viele getötet. Zum Schluss herrschte blanker Terror: Die Revolution fraß ihre Kinder.

Der Freiheitsbegriff ist also ein schwieriger – und ein oft missbrauchter. In seiner berühmten Vorlesung über “Die Zwei Konzepte von Freiheit”, die Isaiah Berlin, der britische Philosoph und Vordenker eines modernen Liberalismus 1958 in Oxford hielt, unterschied er zweierlei Arten von Freiheit. Da ist zunächst einmal die ganz elementare Abwesenheit von Zwang. Danach ist Freiheit zuallererst die Möglichkeit eines Individuums, frei zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können. Der Respekt vor dem Individuum, die Souveränität des einzelnen Menschen und seiner persönlichen Entfaltung steht dabei im Zentrum. Und in Zeiten wie diesen, wo ein europäisches Land von einem skrupellosen Aggressor überfallen wird und Krieg, Unterdrückung und gewaltsamer Tod zurück nach Kerneuropa kommen, bekommt auch der Ruf nach Freiheit eine ganz neue Aktualität. Es ist kein Zufall, dass es dieses Freiheitsverständnis ist, das die Grundlage für alle demokratischen Gesellschaften darstellt. Isaiah Berlin nannte sie auch die “negative” Freiheit, angelehnt ans Lateinische (‘ex negativo’ – also ‘frei von etwas’ zu sein). Allerdings verliert man leicht den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge, setzt man die Freiheit des Individuums absolut. Libertäre Theorien legen ein Zeugnis davon ab.

Ein völlig anderes Konzept von Freiheit ist jenes, das Isaiah Berlin als “positive Freiheit” beschrieben hat. Dieses Freiheitsverständnis blickt auf die “Freiheit zu etwas” oder auch den “Zugang zu etwas”. Und kalkuliert ein, dass die Möglichkeiten des Einzelnen, sein Schicksal frei zu gestalten, begrenzt sein können. Aus Mangel an Ressourcen oder Möglichkeiten zum Beispiel. Blickt man ausschließlich durch die Brille dieses Freiheitsverständnisses auf die Welt, sieht man vor allem Zwänge. Der Mensch wird schnell vor allem als Opfer gesehen: der Verhältnisse, sozialer Ungerechtigkeiten, des “Systems”. Und dagegen helfen, so die Verfechter einer unbedingten “positiven” Freiheit, vor allem starke Kollektive, erzwungene Gleichheit – und Politiker mit viel Macht. Es ist dieser zweite, leicht zu missbrauchende Freiheitsbegriffs, mit dem vor allem sozialistische Politiker hantieren. Denn nach dieser Art Freiheitsverständnis wächst die Freiheit, je weniger Unterschiede es in einer Gesellschaft gibt. Vor allem materieller Art, aber auch, was das Meinungsspektrum anbelangt.

Auch totalitäre Sozialreformer reden von Freiheit

Der große, liberale Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa erläutert das in seinem Buch “Der Ruf der Horde” folgendermaßen: “Alle Gesellschaftsutopien, ob rechts oder links, religiös oder weltlich, gründen auf dem ‘positiven’ Freiheitsbegriff. Ihnen liegt die Überzeugung zugrunde, dass es in jedem Menschen – jenseits des Individuums mit seinen Eigenheiten und Unterschieden – etwas Wichtiges gibt, ein identisches gesellschaftliches ‘Ich’, das nach der Verwirklichung eines kollektiven, solidarischen Ideals strebt, eines Ideals, das in einer gegebenen Zukunft Wirklichkeit wird und dem alles, was ihm entgegensteht oder hinderlich ist, geopfert werden muss.” Die “positive” Freiheit hat also nicht nur dabei geholfen, Sklaverei zu beenden, Diskriminierung anzuprangern und menschliche Solidarität zu stärken, sondern sie hat auch große Ungerechtigkeiten hervorgebracht. Denn totalitäre Sozialreformer von Mussolini und Hitler bis Lenin und Stalin, von Fidel Castro bis Hugo Chávez und Nicolás Maduro, aber auch der Peronismus in Argentinien haben sich auf die “wahre”, kollektivistische: also die “positive” Freiheit berufen.

Damit nicht “der” Staat, eine politische Bewegung oder gesinnungsethische Überzeugungen Einzelner absolut gesetzt werden und in politische Unfreiheit münden, müssen demokratische Gemeinwesen auf das Ausbalancieren der beiden Freiheitsbegriffe achten. Und sich vor allem immer fragen, ob die Verhältnismäßigkeit politischen Handelns gewahrt ist. Die Bürger eines Landes müssen darauf achten, dass ihnen nicht unter dem Vorwand von “Freiheit” und “Gerechtigkeit” mehr und mehr Bürgerrechte abgeschnitten werden. Und der Staat auf einmal wieder Freiheiten nach Gutdünken “gewährt” – oder auch nicht.

Die Gegenwart bietet dafür Anschauungsmaterial genug. Obwohl keine Überlastung des Gesundheitssystems mehr droht, fordert Gesundheitsminister Karl Lauterbach und mit ihm nicht wenige Politiker der Grünen, an den Einschränkungen der grundgesetzlich garantierten Bürgerrechte – beschönigend “Corona-Maßnahmen” genannt – festzuhalten. Nur die Begründung hat sich geändert: Das Gesundheitssystem steht auf einmal nicht mehr im Fokus. Jetzt müssten ganz allgemein “denkbare Todesfälle” verhindert werden. Es ist Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP zu verdanken, auf die Verdrehtheit dieser Argumentation hinzuweisen: “Nicht die Freiheit muss sich begründen, sondern jeder Eingriff in Freiheit und Grundrechte muss begründet werden.”

Freiheit und Zwang passen nicht zusammen

Wenn es keine unmittelbare Gefahr an Leib und Leben mehr gibt, ist es ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, dass auch die Eingriffe in die Grundrechte zurückgenommen werden. Nach zwei Jahren Coronakrise scheint das nicht mehr selbstverständlich zu sein. Es ist bezeichnend, dass Ricarda Lang, die neue Vorsitzende der Grünen, eine Verlängerung der Coronamaßnahmen befürwortet und sich vehement für eine fragwürdige Impfpflicht stark macht. Ihr Argument: dies diene dem “Schutz der Freiheit”. Dass eine Impfpflicht zu aller erst einen deutlichen Eingriff in das individuelle Recht auf körperliche Unversehrtheit ist, unterschlägt sie ebenso wie die Tatsache, dass Geimpfte auch ansteckend sein können – und vulnerable Personen sich freiwillig mit Masken schützen können, ohne dass eine Impf- oder Maskenpflicht allen Menschen, auch Kindern, aufgezwungen wird. Karl Lauterbach jedenfalls könnte mit dem Hinweis auf eine allgemeine Reduzierung von Todesfällen und Krankenhausaufenthalten auch das Rad- und Rollerfahren verbieten. Das Beispiel zeigt: Die Verhältnismäßigkeit der Grundrechtseinschränkungen ist offensichtlich nicht mehr gewahrt.

Es lohnt sich, zusammen mit Isaiah Berlin einen liberalen Blick auf staatliches Handeln zu werfen und drohende Übergriffigkeiten abzuwehren: diejenigen von Politikern, aber auch von Lautstarken Lobbygruppen. Beispiel Klimapolitik: Aktivisten wie die sogenannte “letzte Generation” oder auch “Extinction Rebellion” inszenieren sich gerne als Kämpfer der Rechte zukünftiger Generationen – und berufen sich dabei auf Freiheitsrechte. Gleichzeitig fühlen sie sich berechtigt, die individuellen, grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte ihrer Mitbürger außer Kraft zu setzen. Auch durch Nötigung, Sachbeschädigung oder gar Körperverletzung.

Aber Freiheit kann niemals eine Spielart des Zwangs sein, wie Susanne Gaschke es so treffend auf den Punkt gebracht hat. Ganz im Sinne von Isaiah Berlin, Mario Vargas Llosa – oder unserem Grundgesetz. Achten wir also darauf, dass uns nicht das Wort im Munde umgedreht wird, wenn wir über Freiheit sprechen. Und wehren Versuche ab, der Freiheit ein neues “Framing” zu verpassen.

Jörg Hackeschmidt

Jörg Hackeschmidt ist promovierter Historiker und arbeitet als Ghostwriter, Politikberater und Autor. Er war zehn Jahre lang als PR- und Public-Affairs-Berater bei Pleon (heute Ketchum Pleon) tätig. 2005 wurde er Grundsatzreferent im Bundespräsidialamt. Im Jahr 2006 wechselte er in den Stab Politische Planung, Grundsatzfragen und Sonderaufgaben des Bundeskanzleramtes. Dort arbeitete er bis Anfang 2018 vor allem als Redenschreiber und Grundsatzreferent und war u. a. federführend beteiligt an der Konzeption und der Durchführung des Dialogs über Deutschlands Zukunft (2011/12) der Bundeskanzlerin. Von April 2018 bis Januar 2021 verantwortete er die Strategische Planung im Bundesgesundheitsministerium unter Bundesminister Jens Spahn (CDU). Jörg Hackeschmidt ist Mitglied des European Speechwriter Network.

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