Land of the Free: Das R21-Update zur Wahl in den USA
Am 5. November ist Präsidentschaftswahl in den USA. Die R21-Amerikaexpertin Sarah Pines verfolgt den Wahlkampf vor Ort und ordnet die Ereignisse für unsere Denkfabrik ein. In der dritten Folge unserer Interviewreihe „Land of the Free“ spricht sie über die aktuellen Umfragen, die Wirtschaftspolitik der beiden Kandidaten und die geschürte Angst vor Wahlbetrug.
Liebe Sarah, in zwei Wochen wählen die Amerikaner mit Donald Trump oder Kamala Harris einen neuen, ehemaligen Präsidenten oder eine erste Präsidentin.
Und das Rennen ist nervenaufreibend eng.
Welche Umfragen, Wettquoten, oder sonstige Prognosen gibt es derzeit zum voraussichtlichen Wahlausgang?
Umfragen der renommierten Agenturen RealClearPolitics und FiveThirtyEight, die die Durchschnittswerte seriöser Umfragen von Instituten, TV-Sendern oder Zeitungen berechnen, sehen Kamala Harris landesweit mit 49,2 Prozent sehr leicht vor Trump (48,3 Prozent).
Vielleicht sollten wir eingangs kurz erklären, dass es bei den amerikanischen Wahlen auf die Anzahl der Wahlleute ankommt, die ein Kandidat, eine Kandidatin gewinnen kann, nicht auf die Anzahl der Wählerstimmen.
Richtig. 2016 gewann Trump, obwohl Hillary Clinton etwa drei Millionen Wählerstimmen mehr bekommen hatte. Es gibt 538 Wahlleute; ein Kandidat braucht mindestens 270 davon, um die Wahl zu gewinnen. Experten gehen davon aus, dass in den Staaten, die normalerweise republikanisch oder demokratisch Wählen, Harris derzeit 226 Wahlleute bekäme und Trump 219. Die restlichen 93 Stimmen werden in den Swing States verhandelt.
Und wer liegt in welchem Swing State jeweils vorne, was sind das für Staaten, in denen das Rennen voraussichtlich entschieden wird?
Bei den Swing States handelt es sich um Georgia, Arizona, North Carolina, Nevada, Wisconsin, Michigan, und Pennsylvania. Für diese lässt sich allerdings keine verlässliche Prognose treffen, die Kandidaten liegen gleichauf. Noch nie in der Wahlgeschichte der USA war in irgendeinem Swing State ein Präsidentschaftsrennen so eng.
Die Agentur RealClearPolitics prognostizierte am 19.Oktober allerdings einen knappen Sieg Trumps in allen sieben Swing States.
Und zwar, dass Trump, die Swing States inbegriffen, insgesamt auf 312 Wahlleute kommen könnte, Harris auf 226. Doch kleinste Fehler in den Umfragewerten können den Wahlausgang dramatisch beeinflussen. Unlängst warnte Nate Cohn, der politische Chefanalyst der New York Times: Jede grobe Unterschätzung eines Kandidaten wird diesem in den Swing States zum Sieg verhelfen und damit die Präsidentschaft sichern.
Wie präsentieren sich die Kandidaten in den Swing States?
Beide versuchen, sich volksnah zu inszenieren. Nur zwei Beispiele: Am 19. Oktober besuchte Trump Stahlarbeiter am Arnold Palmer Regional Airport in Latrobe, Pennsylvania, und trug einen Werkshelm. Harris besuchte die New Birth Missionary Baptist Church in Stonecrest, Georgia. Ihre Botschaft: Nächstenliebe statt Hass, für den nach Ansicht der Demokraten Donald Trump steht.
Interessanterweise plant Trump grössere Rallys in demokratischen Hochburgen wie Coachella in Kalifornien und am Madison Square Park in Manhattan. Warum?
Platt formuliert: Demokratische Wähler schreiben Leserbriefe, Trump-Anhänger gehen auf Rallys. Die Rallys sind das Herz von MAGA (Make America Great Again), das Spektakel aus Improvisation, Hatespeech, Warnung vor dem inneren wie äusseren Feind, der kommt und Katzen stiehlt und isst, und Liebesbekundungen an die Basis. Ich denke hier immer an Goethes «Faust»: «Farbig glitzert’s in der Ferne, irre leuchtend bunte Sterne, schnaubts heran mit Sturmgewalt» – die Rallys sind Trumps Zauber, seine magische Laterne, sein Spiel mit den Emotionen seiner Anhänger; es wird als Triumph empfunden, sie kurz vor der Wahl ins «Feindesland» zu verlegen.
Zurück in den vielleicht wichtigsten Swing State, nach Pennsylvania. Dort hat Trump sich vergangenes Wochenende eine Schürze umgebunden und bei McDonalds Essen serviert. Kamala Harris dagegen war im Oktober in Seidenbluse und mit Perlenohrringen auf dem Cover der Vogue zu sehen. Der Kontrast der Bilder könnte kaum größer sein.
Richtig, im Oktober kam Harris zum zweiten Mal – das erste Mal war kurz nach den Wahlen 2020 – auf das Vogue-Cover, fotografiert von Annie Leibovitz. Sie trägt einen mokka-farbenen Anzug, wirkt professionell, nahbar und fern zugleich. Trump hingegen stand mit schütterem Haar am Drive-In Fenster in Featersville-Trevose, sicher nicht zufällig an Harris’ sechzigstem Geburtstag. Allerdings war die McDonalds-Filiale geschlossen. Die Kunden, die vorfuhren, waren vom Secret Service gescreent worden, bestellten nicht, sondern nahmen, was immer Trump ihnen reichte.
Nun ist Trump nicht der einzige Kandidat, der zu Wahlkampfzwecken schon mal im profanen Diner stand und Essen servierte, um Nähe zur Arbeiterschaft zu signalisieren. Was ist hier die spezifische politische Botschaft?
Es war keine Anspielung auf eine gebotene Erhöhung des Mindestlohns für Fastfoodketten-Angestellte. Die Performance war eher ein Seitenhieb gegen Harris, die Trumps Kampagne versucht als unauthentisch und unehrlich darzustellen. In der Drew Barrymore Show und auch bei MSNBC hatte Harris von ihrem eigenen Mittelklasse-Hintergrund gesprochen und erwähnt, sie habe als Studentin einen Nebenjob bei McDonalds gehabt, sie verstehe, wie schwer die Arbeit dort sei und wie prekär, unter gewissen Arbeits- und Lohnbedingungen zu leben. Trump sagt, sie lügt. «Nun habe ich fünfzehn Minuten länger als Kamala gearbeitet», sagte er am Ende seiner fünfzehnminutigen «Schicht».
Verfängt die bodenständige Inszenierung des Republikaners?
Dass Trump Held der unteren Mittelschicht und einfachen Leute ist, geht Jahrzehnte zurück, bis in die 80er Jahre. Trump ist immer das geblieben, was die Amerikaner seit der TV-Serie «The Apprentice» in ihm sahen, sehen wollten: in den Augen der kulturfesten «Eliten» ein zwielichtiger Geschäftsmann, ein D-List Celebrity, eine Ausgeburt des Reality-TV, ein Typ schlechterer Supermarktqualität, ein Kardashian, noch bevor es die Kardashians gab. Aber für die, die «The Apprentice» gerne schauten, und das waren Abermillionen Amerikaner, war und ist er der Inbegriff des Anti-Elitären, eine «self-made» Verkörperung des American Dream (was natürlich lächerlich ist), der amerikanische Traum, der inzwischen am Abgrund baumelt und den die Menschen wiederhaben wollen. Für diese Leute haben die als elitär und realitätsfern empfundenen Institutionen – die Gerichte, die Parteien, die Medien – spätestens seit der Demokratisierung des Wissens im Internetzeitalter – ich beziehe mich hier auf das Buch des ehemaligen CIA-Analysten Martin Gurri «The Revolt oft he Public and the Crisis of Authority in the New Millenium» – ihre Autorität verloren, alle, ausser Trump.
Machen die Demokraten wieder den Fehler, sich zu elitär zu geben?
In Manhattan kostet in vielen Supermärkten etwas Banales wie ein Stück Butter 9 Dollar, Apfelsaft 10 Dollar. Kunden zahlen das klaglos, während die Armen aus den Sozialbauten ein paar Blocks weiter schlimmsten Schrott in One Dollar Stores kaufen. Den Irrsinn des amerikanischen Sozialgefälles kann man kaum noch erklären. Ich kenne ärmere Teile des Rust Belts gut; dort sammeln Leute Bonuskarten für McDonalds, weil das Menu mit 8 Dollar zu teuer ist, sie hoffen auf 5 Dollar. Da ist es wirklich ungünstig für das demokratische Image, wenn Harris auf der Vogue prangt, während Trump in McDonalds Drive-In Pommes verteilt.
Noch dazu wurde Obama für seine herablassende Haltung gegenüber jungen, schwarzen Männern kritisiert.
Im Vergleich zu 2016 hat sich der schwarze Wähleranteil bei den Republikanern etwas mehr als verdoppelt, ist von zirka 8 Prozent auf 17 Prozent gestiegen. Anscheinend haben insbesondere junge, prekäre Afroamerikaner Probleme mit Harris, aber ausschlaggebend für den Wahlausgang werden sie nicht sein. Auf einer Veranstaltung in Pittsburgh warf Obama dieser Wählergruppe nun Frauenfeindlichkeit vor, macht aus der ganzen Wahl eine Geschlechterfrage, und Harris möchte sie empowern, indem sie ihnen unter anderem die Legalisierung von Marihuana schmackhaft macht, sogar die Partizipation in der Cannabis-Industrie anrät, die von wohlhabenden Weißen dominiert wird. Harris und Obama – so wirkt es zumindest – betreiben falsche Identitätspolitik, stecken junge Afroamerikaner nolens volens in die Schublade des kiffenden Rapper-Typen, der Frauen mit «hoe» anschreit.
Ich möchte noch etwas übers Thema Wirtschaft sprechen. «It’s the economy, stupid», sagte der politische Berater James Carville bereits 1992.
Der Slogan von Bill Clintons Wahlkampagne. Wir sind im Jahr 2024 und es ist immer noch die Economy. Die Amerikaner fürchten die Inflation, die sind der hohen Mieten, der hohen Supermarktpreise müde. Sie fürchten außerdem die unkontrollierte Migration, die insbesondere für die ärmeren Schichten und den Dienstleistungssektor Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bedeutet. Das ganze Tamtam um Außenpolitik, Russland-Ukraine und den Nahen Osten interessiert sie weniger. «Make America affordable again» ist einer von Trumps meistgebrauchten Sätzen im Wahlkampf und das kommt gut an. Mit ihren Wahlzetteln möchten die allermeisten Amerikaner dafür kämpfen, dass die Supermarktpreise 25 Prozent billiger werden und nicht, dass die USA den Vorstandsvorsitz in der Welt behält.
Trump spricht viel über Wirtschaft, Harris hat den Begriff «opportunity economy» geprägt. Wie sehen die wirtschaftspolitischen Programme der beiden aus?
Harris möchte die Wirtschaftspolitik der Biden-Regierung fortführen, die die Inflationsrate auf 2,4 Prozent senkte, und weitgehend erfolgreiche Maßnahmen wie der American Rescue Plan, der Bipartisan Infrastructure Act, und der Inflation Reduction Act einführte. Sie fordert ein Gesetz gegen willkürliche Lebensmittelpreiserhöhungen in Krisenzeiten – wohlgemerkt nicht für den Alltag –, Steuersenkungen für Familien, und dass Krankenversicherungen die Kosten für Heimpflege mittragen. Außerdem verspricht sie Erstkäufern von Wohneigentum eine Starthilfe von 25.000 Dollar. Das Comittee for a Responsible Federal Budget, das Auswirkungen von Politik auf die Haushaltsverschuldung untersucht, schätzt, dass die Pläne der Demokraten die Neuverschuldung um 3,5 Billionen Dollar erhöhen würden. Es kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass die Wirtschaftspläne der Republikaner – höhere Importzölle für Güter aus China, Steuersenkungen für Unternehmen – die Steuerlast an die Mittelschicht abgäben und prognostiziert eine mögliche Neuverschuldung von 7.5 Billionen Dollar. Paradoxerweise tendieren die meisten Menschen, die von dem Sozialprogramm der Demokraten am ehesten profitieren (älter, angewiesen auf Sozialleistungen und Krankenversicherung), dazu, republikanisch zu wählen, weil sie Trump die größere Expertise in Wirtschaftsfragen zutrauen.
Welche Themen bewegen Amerika noch in diesen letzten zwei Wochen?
Man muss zunächst unterscheiden, um was es den Medien auf den letzten Drücker noch geht und auf was die Bevölkerung achtet, das deckt sich nicht immer. Medial werden Trumps Patzer ausgeschlachtet, der Unsinn, den er beizeiten redet, das bald erscheinende Buch des Journalisten Bob Woodward «War», in dem dieser schreibt, dass Trump 2020 Covid-Tests an Putin verschenkt haben soll, anstatt sie dem eigenen Volk zu geben. Bis vor kurzem ging es um die Reaktion der Biden-Regierung auf die Verheerungen der Hurricane Helene und Milton. Hier behauptete MAGA, die Helfer des US-Katastrophenschutzes FEMA würden in Florida nur denen beistehen, die nicht-weiss seien, so dass es in den betroffenen Gebieten gewalttätige Ausschreitungen gegen FEMA-Helfer gab und diese dann von zu Hause aus – virtuell – Katastrophenhilfe boten und nicht mehr an der Haustür.
Und die Wähler?
So abstrus es klingt: Viele republikanische Wähler sorgen sich um möglichen Wahlbetrug, viele fürchten gewalttätige Ausschreitungen am Wahlttag und in den Tagen danach, wenn die Stimmen ausgezählt werden. Als ihn neulich ein Reporter in Milwaukee, Wisconsin, fragte, ob er dieses Mal dem Wahlprozess vertraue, antwortete Trump: «Das werde ich Ihnen in etwa 33 Tagen sagen». Nun läuten überall die Alarmglocken. Trump, MAGA, auch Elon Musk, verbreiten die sogenannte «Big Lie»: Die Erzählung vom gestohlenen Wahlsieg 2020 durch bewusste Falschauszählung, Unterschlagung von Wahlzetteln, und die Einschleusung unrechtmässiger Stimmzettel in Staaten wie Georgia und Arizona. Für 2024 befürchten diejenigen, die an diesen «gestohlenen» Wahlsieg glauben, dass im November ausserdem unüberschaubar viele Nicht-Staatsbürger beziehungsweise Nicht-Wahlberechtigte wählen werden.
Wie sollte das möglich sein?
Nun, in einigen US-Bundesstaaten ist es nicht-registrierten Erstwählern gestattet, ihre Identität nicht über einen amtlichen Lichtbildausweis zu beweisen, sondern alternativ über Nebenkostenrechnungen oder Kontoauszüge mit Namen und Adresse darauf. Deswegen hat das Republican National Committee nach eigenen Angaben zehntausende Freiwillige rekrutiert, die den Wahlvorgang und die Arbeit der von den Bezirksregierungen angestellten Wahlkommissare und Wahlbeobachter in sämtlichen Wahllokalen mitbeobachten werden und deren Berichte, so Trumps Kampagnenchef, die Grundlage für einen Rechtsstreit um den «eigentlichen» Wahlausgang bilden könnten.
Kannst Du abschließend die Stimmung in den USA in wenigen Worten beschreiben?
Beide Seiten sind überzeigt, der Untergang droht, sollte die andere Seite gewinnen. Mir fällt Ahistorizität des Ganzen auf, der Fantasiewelt-Charakter, das Truman-Show-hafte. Das Wunschdenken der Demokraten, ihre bedauernswerten Fehlurteile im Hinblick auf die Stimmung im Land, die irren, traurigen Kulturkriege um Abtreibung und LGBTQ-Rechte, die Faszination, die Trump immer noch ausübt, obwohl Harris die menschlich anständigere Kandidatin ist, nicht mit Diktatoren anbandelt, niemanden beleidigt, nicht vorbestraft ist, niemanden sexuell belästigt hat, von Menschen nicht als Tiere spricht, die Nationalgarde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auf die eigene Bevölkerung loslassen würde
In einem Interview mit Fox Sagte Trump, dass er gegen den “inneren Feind“, den er als «radical left lunatics», darunter Nancy Pelosi und Adam Schiff, spezifizierte zur Not die Nationalgarde einsetzen würde.
Wegen solcher und ähnlicher Aussagen glauben manche Republikaner und fast alle Demokraten, dass sie am 5. November für oder gegen den Faschismus stimmen, sind überzeugt, dass Trump ein amerikanischer Mussolini oder Schlimmeres ist. Viele Amerikaner glauben ausserdem weiter an den geotemporalen Exzeptionalismus ihres Landes, wie Harris es unlängst und zugegeben wunderschön formulierte: «The United States of America is the greatest idea humanity ever devised». Doch wie Thomas Carlyle es formulierte: Amerika bedeutet nicht die konstante Verbesserung von Zeit und Raum, es ist ein Land unter vielen, mit einer Regierung unter vielen. Egal, wer die Wahlen gewinnt, die Amerikaner werden sich damit auseinandersetzen müssen.