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Foto: Denkfabrik R21

Ost-West-Konflikt 2024

Das Rezept für den neuen Ost-West-Konflikt ist fast achtzig Jahre alt

von Andreas Rödder

Der Beitrag erschien erstmals am 3. August 2024 in der NZZ.

Moskau sehe sich eingekreist von einem Westen, mit dem es kein friedliches Zusammenleben gebe, der aber von inneren Konflikten befallen sei. Deshalb tue der Kreml alles, um die eigene Position nach außen zu stärken und die westlichen Gesellschaften von innen zu schwächen.

Diese Beobachtungen stammen nicht aus der Ära Putin, sondern aus der Feder des amerikanischen Diplomaten George F. Kennan. Als „Langes Telegramm“ schickte er sie am 22. Februar 1946 aus der Moskauer Botschaft nach Washington.

Kennan zog daraus drei Schlussfolgerungen für die westliche Politik. Erstens müsse sie das Gegenüber nüchtern analysieren, statt sich Emotionen oder Illusionen hinzugeben. Zweitens: glaubwürdige Abschreckung, denn das sei die Sprache, die der Kreml verstehe: „Wenn der Gegner über genügend Macht verfügt und klar macht, dass er bereit ist, sie einzusetzen, wird er es nicht tun müssen.“ Drittens bedürfe diese Stärke nach außen der Stärke von innen: die Ausstrahlung von Vitalität und Wohlfahrt, eines positiven Selbstbildes und des Selbstbewusstseins westlicher Gesellschaften sei ebenso wichtig wie alle Diplomatie.

Kennans „Langes Telegramm“ markierte den Übergang zum ersten Ost-West-Konflikt nach dem Zweiten Weltkrieg, den der Westen nach vier Jahrzehnten gewann: wegen seiner militärischen Standhaftigkeit und durch die Politik der Abschreckung, mit seiner ökonomischen und technologischen Überlegenheit, aber auch wegen seiner kulturellen Attraktivität. Auch heute richten sich weltweite Flüchtlingsströme in die westlichen Länder, nicht hingegen nach Russland, China, Nordkorea oder in den Iran.

Diese revisionistischen Mächte des globalen Ostens fordern unterdessen die westlich dominierte liberale Ordnung heraus, die sich 1989/90 durchgesetzt hatte. Russland und China haben diese Ordnung nie akzeptiert, und mit der Verschiebung internationaler Kräfteverhältnisse ist insbesondere Russland seit den 2010er Jahren zu einer aktiven, militärischen Revisionspolitik übergegangen. Wie einstmals Stalin, so hat sich Putin seine eigene Weltsicht konstruiert, in der er sich vom Westen in geradezu obsessiver Weise gedemütigt, eingekreist und bedroht sieht. Er hat die internationalen Verbindungen Russlands mit der Achse der Revisionisten systematisch ausgebaut, und er gebietet offenkundig unumschränkt über die russischen Ressourcen.

Realistische Einschätzung statt illusionärer Hoffnungen auf einen Frieden mit Putin, wie sie in vielen westlichen Ländern rechts und links zunehmen und nur eine Chiffre für die Kapitulation der Ukraine sind, wäre die erste Konsequenz, die ein Langes Telegramm anno 2024 anmahnen würde.

Die zweite – glaubwürdige Abschreckung durch Politik der Stärke nach außen – gab es auch im ersten Ost-West-Konflikt nicht zum Nulltarif. Die Entspannung der siebziger Jahre war vielen, gerade in Deutschland, sehr viel näher als die Bereitschaft zur neuerlichen Aufrüstung mit dem NATO-Doppelbeschluss. Es war aber die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa, die Gorbatschows Reformpolitik erzwang. Heute ist mit der „Zeitenwende“ und der Unterstützung des Westens für die Ukraine mehr geschehen, als es aus der Nähe oftmals erscheinen und als Putin erwartet haben mag. Auch er versteht genau wie Stalin nur die Sprache der Stärke. Daher aber schwächt die Selbstabschreckung durch selbst gezogene „rote Linien“ die westliche Überzeugungskraft der Stärke nach außen – und droht die „Zeitenwende“ in ein Spiel auf Zeit zu verwandeln.

Die größte Gefahr aber droht dem Westen durch mangelnde Stärke von innen. Statt Selbstbewusstsein auszustrahlen, polarisieren sich die westlichen Gesellschaften zwischen dem moralisierenden Absolutismus einer woken und klimaaktivistischen Linken, die in der liberalen Ordnung nur strukturelle Diskriminierung und Zerstörung erkennen, und den ressentimentgeladenen Verschwörungstheorien einer nationalistischen Rechten, der die etablierten Institutionen nichts gelten.

George F. Kennan hatte recht: Auf dem Feld der inneren Vitalität wird der Ost-West-Konflikt entschieden, nach 1946 ebenso wie anno 2024. Wenn der Westen sich ein zweites Mal behaupten will, braucht er Stärke nach außen und Stärke von innen: ein positives Selbstbild der offenen Gesellschaft, die nie perfekt war, aber bereit zur Selbstkritik und fähig zur Selbstkorrektur, und die auf diese Weise ein historisch einzigartiges Maß an Freiheit und Wohlstand herbeigeführt hat. Es wäre ein historischer Jammer, würde der Westen dieses einzigartige Erbe verspielen.

Andreas Rödder

Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.

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