Scheitert der Westen an Hybris und Selbsthass?
„Global gescheitert?“ ist der Titel des neuen Buches von Susanne Schröter, Professorin am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main und eine der Initiatorinnen der Denkfabrik R21. Im Interview erläutert sie, warum das Paradox von Hybris und Selbsthass extrem zerstörerisch ist, wie die Grundlagen von Demokratie und Freiheit durch linke Aktivisten in Fragen gestellt werden und wie tatenlos das bürgerliche Lager sich angesichts der vielfältigen Herausforderungen bislang verhalten hat. Das soll sich ändern, und die Denkfabrik wird, so Susanne Schröter, ein wichtiger Motor notwendiger Veränderung sein.
Frau Professor Schröter, in Ihrem neuen Buch attestieren Sie dem Westen ein „krude Mischung aus Hybris und Selbsthass“. Wie passt das zusammen?
Das ist in der Tat ein pathologisches Paradox. Fangen wir mit der Hybris an: Der Westen agiert in der Überzeugung, sein demokratisches System sei so überzeugend, dass alle anderen über kurz oder lang gar nicht anders können, als dieses System zu übernehmen. Man muss nur nett sein, gute Kontakte pflegen, sich wirtschaftlich verflechten, dann werden alle werden wollen wie wir. Spätestens mit dem Überfall auf die Ukraine, wurde offenkundig, dass diese Illusion gescheitert ist. Es stimmt für Russland nicht, für China nicht, und es stimmt für die Staaten des globalen Südens nicht, nehmen Sie nur die Beispiele Afghanistan, Tunesien oder Mali.
Wie äußert sich der Selbsthass?
Der Selbsthass richtet sich gegen die eigene Bevölkerung und basiert auf der Annahme einer ungebrochenen Kontinuität des Kolonialismus. Aktivisten behaupten, der Westen habe Schuld auf sich geladen, die nicht getilgt werden könne. Diese Schuld müsse man bekennen und Abbitte leisten. Flankiert werden solche kruden Vorstellungen durch die sogenannte postkoloniale Theorie, erdacht an amerikanischen und europäischen Universitäten. Sie prägen heute Weltbild und politische Praxis der Linken und werden bis in bürgerliche Kreise hinein unhinterfragt akzeptiert. Das hat dazu geführt, dass der Westen als Hort des Bösen gezeichnet wurde: als verantwortlich für die Kriege dieser Welt, für Armut, die Flüchtlingsströme und den Klimawandel sowie in seiner inneren Verfasstheit zutiefst menschenverachtend. Fakten wurden für diese schrillen Behauptungen natürlich nie präsentiert.
Und das Feindbild ist der viel zitierte „alte weiße Mann“.
Nicht nur der. Die gesamte „weiße“ Bevölkerung trage den Rassismus in ihrer DNA, erzählen Aktivisten und betonen, die Staaten des Westens seien strukturell rassistisch. Man muss sich klarmachen, was das heißt: Der Rassismus soll in die Strukturen unseres Landes und ihrer Bewohner eingewoben sein. Wir sind also gewissermaßen der vergesellschaftete Antichrist.
Wer sind die Opfer dieses „strukturellen Rassismus“?
In den USA sind es Schwarze und so genannte People of Colour, in Europa sind es vor allem Muslime, auch Frauen, indigene Gruppen und Transsexuelle, was besonders erstaunlich ist, da diese Gruppe zahlenmäßig nicht relevant ist, aber plötzlich die Debatte beherrscht. Da Identitätspolitik ein Geschäftsmodell darstellt und mit Milliarden von Steuergeldern finanziert wird, erleben wir zurzeit eine Multiplizierung von Opfergruppen. Viele haben gemerkt, dass es sich finanziell lohnt, „Opfer“ zu sein. Solange Kultureinrichtungen, Medien, Verlagshäuser und Mitglieder politischer Parteien in vorauseilendem Gehorsam den Forderungen der Aktivisten nachgeben und jede Kritik daran gilt als rassistisch oder rechtsextrem denunzieren, geht das Kalkül auf. Kritiker werden eingeschüchtert, jede Diskussion stirbt ab.
Bleiben wir beim Beispiel Muslime: Was bedeutet das für den Umgang mit dem politischen Islam?
Da gilt das Prinzip des laissez faire: Antidemokratische Strukturen in Einwanderermilieus, Islamismus, ausländischer Rechtsextremismus – wird alles toleriert. Das dürfen wir bei diesen Opfergruppen nicht hinterfragen und kritisieren. Wer es trotzdem tut, ist „islamophob“. Ende der Debatte! So läuft das. Gleichzeitig lamentieren die gleichen Personen, die ständig von „antimuslimischem Rassismus“ sprechen, darüber, dass die Taliban die Frauenrechte nicht achten. Es ist wirklich in pathologischer Weise paradox: Einerseits erwartet man, dass überall auf der Welt unser freiheitliches Gesellschaftsmodell übernommen wird – Stichwort Hybris – und andererseits lässt man im eigenen Land zu, dass sich Parallelgesellschaften entwickeln, die vollkommen undemokratisch und freiheitsfeindlich sind und sich in Bezug auf Frauen und Mädchen nicht von den Normen der Taliban unterscheiden.
Welche Forderungen stellen die Opfergruppen an uns?
Es geht um Deutungshoheit, um Geld und natürlich auch um Macht. Mitglieder von selbsternannten Opfergruppen wollen in Entscheidungspositionen kommen und andere daraus verdrängen. Ein Mittel, um dies zu erreichen, ist die Aufstellung von Leitbildern, die sich an „Vielfaltskriterien“ orientieren. Es geht um äußere und unveränderliche Marker: Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung. Jobs, Ämter und Fördermittel sollen nur noch an bestimmte Gruppen vergeben werden. Der identitäre Furor schafft also rassistische Strukturen. Das ist in höchstem Maße diskriminierend.
Sie sagen, Hybris und Selbsthass seien extrem zerstörerisch, diskriminierende Strukturen würden geschaffen. Gemessen daran, sind Unmut und Gegenwehr der „weißen“ Bevölkerung in Deutschland vergleichsweise gering. Woran liegt das?
Viele Menschen wollen Gutes tun und lehnen Diskriminierungen ab. Das macht sie anfällig für die identitätspolitische Propaganda. Doch das könnte sich ändern und zwar ausgerechnet durch die Gender-Sprache. Die neuen Sprachregularien betreffen so ziemlich jeden, und da zeigt sich, dass die Bevölkerung nicht bereit ist, sich einem neuen Paradigma zu unterwerfen, das als sinnlos empfunden wird. Aber es stimmt schon, die Dimension des identitätspolitischen Projekts haben die meisten Menschen noch nicht erfasst. Im Kern geht es um Umerziehung, um die Schaffung eines neuen Menschen. Diese alte kommunistische Idee feiert fröhliche Auferstehung. Das bedeutet im Umkehrschluss das Ende der Freiheitsrechte: Keine Meinungsfreiheit, keine Wissenschaftsfreiheit, keine Freiheit der Kunst mehr.
Sie beschreiben ein Projekt der Linken. Zumindest vor 2021 gab es hierzulande keine linke Mehrheit. Wie ist dem politisch entgegengewirkt worden?
Gar nicht. Teile der bürgerlichen Parteien bis hinein in höchste Regierungsämter haben den Prozess mitgetragen und entsprechende Institutionen geschaffen. Die Anzahl der Opfervertretungen, Anti-Diskriminierungs-, Migrations- und Genderforschungsstellen, die mit öffentlichen Geldern gefördert werden, ist in der vergangenen Dekade zunehmend gewachsen. Wir haben rund 200 Genderlehrstühle an deutschen Hochschulen, aber kaum welche für Zukunftstechnologien. Es entstehen Asymmetrien, die uns noch auf die Füße fallen werden. Vieles wird aus Unwissen und dem Unwillen, sich damit zu beschäftigen, einfach durchgewinkt. Das bürgerliche Lager realisiert in weiten Teilen noch nicht, wem es da auf den Leim geht. Tatsächlich wird so eine anti-demokratische und illiberale Agenda staatlich gefördert, die die Grundlagen der freien Gesellschaft ernsthaft gefährdet!
Der Titel Ihres Buches lautet „Global gescheitert“ und dahinter steht ein Fragezeichen. Was muss geschehen, dass aus dem Frage- kein Ausrufezeichen wird?
Der Westen muss sich klarmachen, was auf dem Spiel steht, und muss sich endlich wieder zu den Errungenschaften der westlichen Demokratie, zu Freiheit und Rechtsstaatlichkeit bekennen. Darauf können wir stolz sein, das müssen wir selbstbewusst verteidigen und bewahren. Nach außen sollten wir demütiger und aufrichtiger sein, klar unsere Interessen benennen, aber davon absehen, andere Staaten mit moralischen Sprüchen zu bevormunden. Nach innen müssen wir uns energisch gegen den identitätspolitischen Schuld-Kult und gegen die Ausbreitung identitätspolitischer Irrwege wehren. Nur so können wir eine Spaltung der Gesellschaft in identitäre Kleingruppen und einen zwangsläufig daraus folgenden Extremismus verhindern.
Welche Rolle kann die Denkfabrik R21 in dieser Auseinandersetzung spielen?
Das bürgerliche Lager hat, kulturell gesehen, in den vergangenen Jahren eine Leerstelle gelassen, die andere jetzt ausfüllen. Genau deshalb engagiere ich mich in der Denkfabrik. Wir formulieren die Grundlagen einer neuen bürgerlichen Politik vor dem Hintergrund der großen Herausforderungen unserer Zeit und greifen Themen auf, die für den Bestand unserer freiheitlichen Gesellschaft von Bedeutung sind. Das bedeutet auch, dass wir zur Korrektur von Fehlentwicklungen beitragen wollen. Die Zeit reif dafür ist, da die Politik der vergangenen Jahre mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, der Niederlage des Westens in Afghanistan und Mali sowie den vielfältigen innenpolitischen Problemen unübersehbar an eine Grenze gekommen ist. Eine Neuorientierung ist nötig und sie ist möglich.
Susanne Schröter, Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass, Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022, 240 Seiten, ISBN: 978-3-451-39367-9, Preis: 20,- Euro.
Weitere Informationen zum Buch finden Sie auf der Website des Verlagshauses Herder