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Foto: Denkfabrik R21

Umgang mit der AfD: Mehr Selbstbewusstsein und Gelassenheit

Der Artikel von Denkfabrikchef Andreas Rödder erschien erstmals am 14. Juli 2024 in der „Welt am Sonntag“. 

Erbarmen, die Rechten kommen? Im drittgrößten Land der EU stellen die Fratelli d’Italia seit fast zwei Jahren die Ministerpräsidentin. Bei der Europawahl im Juni erzielten rechte Parteien in fünf Ländern die höchsten Stimmenergebnisse. Im zweitgrößten Land setzte der französische Präsident daraufhin Neuwahlen des nationalen Parlaments an, aus denen eine zur Abwehr des Rassemblement National gebildete linke Volksfront als stärkste Kraft hervorging.

Im größten Land der Union gewann die AfD trotz vermurkstem Wahlkampf mehr Stimmen als alle Parteien der Bundesregierung und hofft auf satte Gewinne bei den ostdeutschen Landtagswahlen im September. Wie ist es dazu gekommen?

Die üblichen Erklärungen dieses „Rechtsrucks“ – aus Angst vor sozialem Abstieg suchten die Wähler Zuflucht in nationalen Schutzraum – mögen nicht falsch sein. Aber sie haben etwas Wohlfeiles an sich. In Wirklichkeit verbinden sich wohl mindestens drei Entwicklungen.

Erstens haben die Politikwissenschaftler Tim Bale und Cristóbal Kaltwasser die These von der grünen Revolution seit den 80er-Jahren aufgestellt, die im frühen 21. Jahrhundert die kulturelle Vorherrschaft gewonnen hat. Zugleich habe sie eine rechte Gegenbewegung ausgelöst, die sich seit den 90er-Jahren in Europa verbreitet. „Reaktanz“ ist der psychologische Fachbegriff für eine Reaktion, die ins gegenteilige Extrem ausschlägt.

Die zweite Erklärung sind handfeste Versäumnisse einer Politik, die in vielen Ländern unter grüner Hegemonie auch von nicht-grünen Parteien betrieben worden ist. Das gilt für eine Migrationspolitik, die weder Deutschland noch die EU in den Griff bekommen haben, ebenso wie für eine Energiepolitik, die hohe Kosten verursacht, dem globalen Klima aber wenig nützt und wie im Falle des deutschen Heizungsgesetzes oder des europäischen Verbrennerverbots als übergriffig empfunden wird.

Hinzu kommen ideologische Elemente. Maximilian Krah steht für eine AfD, die bewusst an antiliberale Traditionen, an die „konservative Revolution“ (die alles andere als konservativ war) und an Carl Schmitts „Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ aus dem frühen 20. Jahrhundert anknüpft. Solche Traditionsbezüge ebenso wie der Ausschluss der AfD aus der Fraktion „Identität und Demokratie“ zeigen, dass wir es zwar einerseits mit einer gesamteuropäischen Entwicklung, andererseits aber auch mit nationalen Besonderheiten zu tun haben.

Was das für Deutschland bedeutet

In Deutschland hat diese Entwicklung drei Folgen. Erstens hat sie zu einer mehrfachen Spaltung des Parteiensystems geführt. Die grüne Revolution hat die politische Linke in eine identitätspolitische, postkoloniale und klimaaktivistische Linke, die von der grünen Partei verkörpert wird, und eine klassische sozialökonomische Linke gespalten, deren Tradition vor allem das Bündnis Sahra Wagenknecht aufnimmt. Dass SPD und Linkspartei dazwischen schwanken, ist eine Erklärung für ihre existenziellen Probleme.

Zweitens hat die populistische Gegenrevolution zu einer Spaltung der politischen Rechten geführt. Die AfD ging mit ihrer Kritik an der Euro-Rettungspolitik ursprünglich vor allem aus der Union hervor und radikalisierte sich dann zunehmend. Die Union profitierte davon zunächst machtpolitisch, verlor mit erstarkender AfD aber die Möglichkeit einer Mehrheitsbildung ohne SPD oder Grüne.

Drittens markieren die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der CDU mit AfD und Linkspartei eine Spaltung zwischen Zentrum und Peripherie. Quer dazu etablierte sich eine Spaltung zwischen den russlandfreundlichen neuen Parteien BSW und AfD und den prowestlichen etablierten Unionsparteien, FDP, Grünen und zumindest Teilen der SPD.

Diese Spaltungen des Parteiensystems gehen mit neuen weltanschaulichen Systemkonflikten einher. Grüne Politik zielt auf eine grundlegende Transformation der Gesellschaft im Sinne geschlechtlicher und sexueller Diversität gegenüber traditionellen Vorstellungen von Frauen, Männern und Familien. Sie begrüßt Migration pauschal als Bereicherung der Gesellschaft und strebt eine Energiewende zugunsten erneuerbarer Träger an, wobei sie auf die staatsinterventionistische Durchsetzung der von ihr erkannten volonté générale setzt.

Während postkoloniale, identitätspolitische und klimaaktivistische Bewegungen die westlich-liberale Gesellschaft für strukturell zerstörerisch und diskriminierend halten, setzt die bürgerliche Mitte auf den Pluralismus selbstbestimmter und selbstverantwortlicher Individuen statt auf eine quotierte Modellierung der Gesellschaft, auf Ordnungspolitik und Marktwirtschaft sowie auf die offene Gesellschaft auf westlich-kultureller Grundlage.

Demgegenüber bedient die AfD – darin dem BSW ähnlich – ein nationales und soziales Politikmodell. Maximilian Krah imaginiert die Gesellschaft als eine „Gemeinschaft der Ähnlichen“, die vor allem auf gemeinsamer Herkunft gründet und Migration aus anderen Kulturen daher eigentlich grundsätzlich ablehnt. Dass er dabei eine romantisierte Vergangenheit, eine dezisionistische Gegenwart (wenn wir nicht sofort umsteuern, ist alles vorbei) und eine dystopische Zukunft beschwört, deckt sich ironischerweise mit dem Muster der Klima-Apokalyptiker.

Neben den Fragmentierungen des Parteiensystems und den weltanschaulichen Systemkonflikten haben diese Entwicklungen ein Problem der politischen Integration zur Folge. Schon seit ihrer Gründung im Jahr 2013 wurde die AfD durch den Mainstream in Politik und Medien moralisch ausgegrenzt.

So setzte sich eine Spirale aus Radikalisierung und Marginalisierung in Gang: Je mehr die AfD ausgegrenzt wurde, desto stärker solidarisierte und radikalisierte sie sich, desto schärfer wurde sie ausgegrenzt. Dies trug dazu bei, dass eine in anderen westeuropäischen Staaten zu beobachtende Entwicklung in Deutschland ausblieb: die Mäßigung rechter Parteien, jedenfalls ihr Richtungskonflikt zwischen Radikalisierung und Regierungsorientierung.

Ja zu roten Linien, nein zu Brandmauern

Zugleich sind die Strategien zur Schwächung der AfD gescheitert. Themen der AfD nicht aufzugreifen, wie Politikwissenschaftler den bürgerlichen Parteien geraten haben, hat die AfD nur stärker gemacht. Je höher die „Brandmauer“ gezogen wurde, desto höher fielen die Wahlergebnisse der AfD aus. Je mehr Demokratietraining gegen die AfD betrieben wurde, desto attraktiver wurde sie sogar für Jüngere.

Stattdessen finden sich zwischen 15 und 20 Prozent auf Bundesebene und ein Drittel der Wählerschaft in den neuen Ländern von politischen Mehrheitsbildungen ausgeschlossen. Anders als im Falle der Grünen in den 80er-Jahren und der PDS in den 90ern hat in diesem Fall das alte Erfolgsrezept der Bundesrepublik nicht funktioniert, nämlich neue und ursprünglich zumindest teilweise systemoppositionelle Parteien in das politische System zu integrieren.

Gleichzeitig erleben wir das Ende der grünen Hegemonie, einen politisch-kulturellen Paradigmenwechsel in ganz Europa, der nicht einfach als „Rechtsruck“ abqualifiziert werden sollte. Hier kommt die Schlüsselrolle der Unionsparteien (und der FDP) in Deutschland ins Spiel, wo sie im Gegensatz zu Frankreich eine noch immer starke bürgerliche Mitte bilden. Es ist ihre politische und historische Verantwortung, den Pendelschlag innerhalb der liberalen Ordnung abzufangen, damit er nicht ins Extrem ausschlägt.

Was bedeutet dies in der Konsequenz für den Umgang mit der politischen Rechten? Erstens mehr Gelassenheit, zumal es, wie die französischen Parlamentswahlen zeigen, keine Automatismen gibt: rhetorisch abrüsten, moralisierende Herablassung ablegen und blinde Reflexe wie die des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten vermeiden, der gewaltbereite Demonstrationen unter der Parole „Hass, Hass, Hass“ als „starkes Zeichen für unsere Demokratie“ lobte – zumal diese intellektuell unterkomplexe Attitüde schnell in selbstgerechte Doppelstandards umschlägt.

Man kann Viktor Orbán vorwerfen, dass er staatliche Mittel zur Absicherung seiner Herrschaft verwendet; aber was anderes tut staatliche deutsche „Demokratieförderung“ für linke Vorfeldorganisationen? Der „Kampf gegen rechts“ ist ein zentrales Instrument der grünen Hegemonie zur Delegitimierung aller Politik, die nicht links ist, und bürgerliche Politiker sind zu lange in diese Falle gegangen.

Zielführender ist es, die Entwicklungen in Europa aufmerksam zu beobachten. Wenn rechte Parteien sich mäßigen und auf dem Boden der liberalen Demokratie stehen, gibt es keinen Grund, sie auszuschließen. Davon ist die AfD nach zehn Jahren Radikalisierung weit entfernt. Koalitionen oder Kooperationen stehen nicht zur Debatte. Aber mindestens aus funktionalen Gründen sollte man auch ihr die Chance zur Mäßigung geben.

Zweitens: rote Linien ziehen, die Voraussetzungen der Gesprächsbereitschaft definieren, statt Brandmauern zu bauen, die Menschen ausschließen und Rückkehrmöglichkeiten verwehren. Über rechtsstaatswidrige Positionen wie die qualitative Unterscheidung zwischen Herkunftsdeutschen und Passdeutschen, mit demagogischen Parolen („Vogelschiss“) und dem Tonfall der Verächtlichkeit („Systemparteien“) oder der verschwörungstheoretischen Verweigerung argumentativer Auseinandersetzung („Umvolkung“) gibt es keine Diskussion. Innerhalb dieser Grenzen aber gelten die Regeln der demokratischen Öffentlichkeit: höflich in der Form, hart in der Sache.

Das heißt drittens: selbstbewusst die eigene Politik vertreten, ohne nach Zustimmung der Grünen zu heischen, Zustimmung der AfD zu fürchten oder über Koalitionen zu spekulieren. Bürgerliche Politik unterscheidet sich automatisch sowohl von grüner Transformationsideologie als auch vom Ressentiment der AfD.

Das A und O erfolgreicher Politik ist dabei ein funktionsfähiger Staat. Dafür ist es nicht mit pünktlichen Zügen und einer Digitalisierung der Bürgerämter getan, so wünschenswert beides ist. Ein funktionsfähiger Staat erfordert vielmehr die Konzentration auf seine Kernaufgaben und konsequente Reformen – und den politischen Mut zur Unpopularität. Und dafür braucht es das Allerwichtigste: das glaubhafte Narrativ, dass die liberale Demokratie und bürgerliche Politik in der Lage sind, den Menschen eine bessere Zukunft zu ermöglichen als die einfachen und radikalen Lösungen von rechts und links.

Andreas Rödder

Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.

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