Neue Fiskalregeln: Wegweisende Entscheidung für die EU und den Euro
Von Martin Wiesmann und Nils Hesse
Die Mitgliedsstaaten des Euroraumes stehen vor einer wegweisenden Entscheidung: Nach Jahren des fiskalischen Ausnahmezustands geht es in den kommenden Monaten um nichts weniger als um die Rückkehr zu oder eine endgültige Abkehr von regelgebundener, nachhaltiger Finanzpolitik im Euroraum.
Unstrittig ist, dass die Schuldenregeln reformiert werden müssen. Die bisherigen Regeln wurden von den Mitgliedstaaten mit Duldung der Kommission regelmäßig unterlaufen. Zudem wurden sie so komplex, dass sich die Kommission immer wieder bei der Ermittlung sogenannter Struktur-Defizite verrechnete.
Die neuen Regeln sollen dem Prinzip der Schuldentragfähigkeit folgen. In der Definition des IWF bedeutet Schuldentragfähigkeit, dass ein Land seinen „momentanen und zukünftigen Schuldendienst gänzlich leisten kann, ohne auf Schuldenumwandlungen und das Aussetzen von Zahlungen zurückgreifen zu müssen und dabei sein Wachstum zu gefährden.“
Nicht nur mit Blick auf die nach Maastricht vorgegebenen Grenzen der Verschuldung von Mitgliedstaaten ist der Handlungsbedarf offensichtlich. Der IWF hat erst kürzlich den Staaten der Währungsunion die Notwendigkeit der Konsolidierung ihrer Haushalte ins Stammbuch geschrieben – und selbst die Kommission hat dies inzwischen eingestanden. Denn die Euroländer erreichen inzwischen ein Schuldenniveau von über 90%, und Mitgliedsstaaten wie Italien und Frankreich liegen über 140% bzw. 110% ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung.
Allerdings genügt der Vorschlag der EU-Kommission zur Reform der finanzpolitischen Regeln trotz der jüngsten Nachbesserungen weder den eigenen Ansprüchen, noch sind sie eine hinreichende Antwort auf die Größe der Herausforderung.
Anstelle der bisher gültigen und seit der Corona-Pandemie ausgesetzten Regeln des Fiskalpakts soll jedes Land künftig mit den EU-Institutionen aushandeln, wie es mit seinen Schulden und Defiziten umgeht. Die EU-Kommission soll mit Hilfe von Tragfähigkeitsanalysen länderspezifische Ausgabenpfade bewerten.
Tragfähigkeitsanalysen sind an sich eine gute Sache und in der Finanzwelt fest etabliert. In der Welt der EU-Kommission ist jedoch noch lange nicht nachhaltig, was als tragfähig deklariert wird. Ausnahmen, Verknüpfungen mit Themen wie Klimaschutz, Digitalisierung oder soziale Sicherheit und fehlende verbindliche Mechanismen zum schrittweisen Schuldenabbau leisten einer weiteren Politisierung Vorschub, die eigentlich gerade verhindert werden sollte. Überdies redet die Kommission zwar von „Selbstverantwortung“ der Mitgliedsstaaten, verfolgt faktisch aber das Ziel einer möglichst weitreichenden Zentralisierung in Brüssel.
In Zeiten hoher Inflation, hoher Schuldenstände und niedrigen Wachstums ist das Vertrauen in die Stabilität der europäischen Finanzarchitektur ohnehin angeschlagen. Der Vorschlag der EU-Kommission wird weiteres Vertrauen kosten. Die Schuldentragfähigkeit ist keine Variable in einem theoretischen Modell von EU-Beamten, sondern die praktische Voraussetzung dafür, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten in Zukunft überhaupt noch auf aktuelle Herausforderungen und künftige Krisen reagieren können.
Länder mit weiter steigenden Schuldenständen werden nach diesem Plan zwar nicht mehr die EU-Kommission fürchten müssen, wohl aber die Finanzmärkte – denn deren Stabilität hängt an der finanzpolitischen Glaubwürdigkeit und einem überzeugenden wirtschaftlichen Ausblick der Mitgliedsländer.
Es ist daher unbedingt notwendig, dass Finanzminister Lindner dagegenhält. Das Bundesfinanzministerium (BMF) hat moderate, transparente und angemessene Vorschläge gemacht. So schlägt das BMF Schulden-Abbau-Regeln für hoch verschuldete Länder vor, die einerseits weniger Interpretationsspielraum lassen als der Vorschlag der EU-Kommission, andererseits realistischer zu erreichen sind als die geltende Regel. Der vom BMF zudem vorgeschlagene Mechanismus zur Begrenzung der jährlichen Ausgaben berücksichtigt erwartete ökonomische Entwicklungen und ermöglicht eine stärker antizyklische Fiskalpolitik. Kanzler Scholz und die gesamte Bundesregierung müssen Lindner beim bevorstehenden Ratstreffen am 16. Juni den Rücken stärken.
Doch das ist nicht genug. Europa wird das Problem seiner Verschuldung nicht allein durch Schuldenregeln lösen. Große wirtschaftliche Potentiale liegen beispielsweise in gemeinsamer Beschaffung bei der Verteidigung oder grenzüberschreitenden Infrastrukturprojekten.
Und in der Fiskalpolitik darf das Prinzip der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten nicht weiter unterminiert werden. Denn die Finanzierungskosten der Mitgliedsstaaten, die sich entsprechend der Stabilität ihrer Haushalte unterscheiden, sind ein unverzichtbarer Anreiz, um solide zu wirtschaften. Nichts konnte die italienische Regierung Conte / Salvini im Oktober 2018 so sehr zum Einlenken bewegen wie der durch die maßlosen Haushaltspläne selbst verursachte, plötzliche Zinsanstieg bei italienischen Staatsanleihen.
Statt mit bürokratischen Monstern dirigistische Industrie- und Transformationspolitik zu betreiben, sollte Europa zu den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft zurückkehren, die den Kontinent wohlhabend, innovativ und leistungsstark gemacht haben. Sie sind am effektivsten, wenn sie dezentral, in den einzelnen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Deutschland sollte sich mit diesen Grundsätzen für die Zukunft der EU als treibende Kraft einbringen, statt im Defensiv-Modus des „wir verhindern das Schlimmste“ zu verharren.