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Foto: NadyaEugene

Family Mainstreaming als politische Querschnittsaufgabe

Beitrag zu einer bürgerlichen Familienpolitik

In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts hat die Familienpolitik große Anstrengungen unternommen, indem sie vor allem das Elterngeld eingeführt und Kapazitäten der Kinderbetreuung ausgebaut hat. Dabei stand vor allem das Anliegen im Mittelpunkt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erhöhen und vor allem die Möglichkeit von Müttern zu verbessern, auch mit kleinen Kindern erwerbstätig zu sein. Die Bedürfnisse von Kindern und andere Lebensformen von Familien hat eine Koalition aus Frauenpolitik und Arbeitgeberinteressen dem gegenüber hingegen untergeordnet, in Teilen sogar diskreditiert. Die Auseinandersetzung um das Betreuungsgeld nahm sogar nachgerade Züge eines Kulturkampfs an, wenn die Unterstützung, für Familien, die ihre Kleinkinder selbst betreuen, als „bildungspolitische Katastrophe“ bezeichnet wurde. Solche Äußerungen zielten darauf, die Kinder zu erreichen, die von früher außerfamiliärer Betreuung profitieren. Es ist aber eine Gratwanderung, über diesem berechtigten Anliegen nicht diejenigen Familien zu diskreditieren und in ihrer Freiheit einzuschränken, die ihre Kinder gut und gerne selbst erziehen. Diese Gratwanderung erfordert zielgenaue Maßnahmen, statt ein Modell zur allgemeinen Vorgabe zu machen – dies gilt in alle Richtungen.

Ein Blick auf die Realitäten zeigt, dass in Familien unterschiedliche Logiken und Bedürfnisse wirken: Eltern wollen arbeiten, Kinder wollen ihre Eltern, und Eltern wollen oft mehr Zeit für ihre Kinder, als Vollerwerbstätigkeit es zulässt. Statt Frauen, vor allem Mütter, von Arbeit in Teilzeit abzubringen und ihnen bestimmte Lebensformen aufzudrängen, geht eine neue bürgerliche liberal-konservative Politik von den individuellen und unterschiedlichen Bedürfnissen von Familien aus. Mit ihrer besonderen Wertschätzung für die intermediären Welten jenseits von Markt, Staat und Individuum kehrt sie die Perspektive um: Statt die Familien der Arbeitswelt anzupassen, geht es darum, Arbeits- und Lebenswelten familiengerecht zu gestalten, Lebensverläufe und Karrieren entsprechend zu flexibilisieren.

Eine neue Querschnittsaufgabe

Das Gegenstück zu gender mainstreaming, der systematischen Beseitigung von geschlechterbedingten Benachteiligungen, ist family mainstreaming: die „Beseitigung direkter und indirekter Diskriminierungen von Familien“ und die systematische Berücksichtigung „der Auswirkungen allgemeiner politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Entscheidungen auf Familien“, wie es im Schweizer Familienbericht von 2004 hieß. Denn in den letzten Jahrzehnten hat sich eine neue Dimension sozialer Ungleichheit aufgetan, die der Ungleichheit der Geschlechter nicht nachsteht:

Der Geburtenrückgang seit den 60er Jahren hat die Gruppe der kinderlosen Erwachsenen im Vergleich zu den Erwachsenen mit Kindern substanziell ausgeweitet – in der Coronapandemie wurde dies in der nachrangigen Berücksichtigung der Bedürfnisse von Kindern und ihren Familien besonders deutlich. Wer Kinder hat, weiß nur zu gut, wie Kinder das gesamte Leben verändern und wie die Lebensverläufe im Vergleich zu Kinderlosen auseinandergehen. Tiefseetauchen und Workoutpartys sind mit Kindern kaum vereinbar. Dem Glück, das Kinder in das Leben bringen, stehen vielfältige Belastungen gegenüber: Eltern haben weniger frei verfügbare Zeit, und die monetären Kosten für Kinder übersteigen die staatlichen Leistungen bei weitem. Familien werden durch die umlagefinanzierten Sozialversicherungen benachteiligt, und familiäre Verpflichtungen gehen zu Lasten beruflicher Mobilität und Aufstiegsmöglichkeiten.

Diese Benachteiligungen auszugleichen, ist deshalb gerechtfertigt, weil Familie in ihren unterschiedlichen Formen die Institution der Zivilgesellschaft schlechthin ist, die durch Reproduktion und gegenseitige Verantwortung füreinander in besonderem Maße dem Gemeinwohl dient. Es ist bürgerlich, weil es allen frei gewählten Familienformen freie Entfaltung ermöglicht und weil es die unterschiedlichen Realitäten der Familien berücksichtigt, statt sie zugunsten eines angeblich „modernen“ Modells der Rollenverteilung umzuerziehen.

Kulturwandel

Family mainstreaming bedeutet nach Lage der Dinge nicht mehr und nicht weniger als einen echten Kulturwandel über die Familienpolitik hinaus. Was heißt das konkret? Familienparkplätze gibt es inzwischen an vielen Supermärkten. Aber warum hat der Chefarzt einen reservierten Parkplatz an der Uniklinik, nicht auch die Assistenzärztin oder der Krankenpfleger, die vor Schichtbeginn noch ihre Kinder zum Kindergarten bringen müssen? Der familienfreundlichen Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Familiengerechtigkeit ist eine Frage von familiengerechtem Wohnraum, von Investitionen in Schulen und Universitäten, von Tarifen im öffentlichen Nahverkehr oder von Eintrittspreisen – in Großbritannien zahlt eine Familie in der Regel nicht mehr als zwei Erwachsene ohne Kinder. Und in Frankreich setzte die Familien- und Steuerpolitik lange Zeit explizite Anreize zugunsten des dritten Kindes. Vor allem aber ist der vom Bundesverfassungsgericht vor Jahren betonte Verfassungsauftrag zu erfüllen, die Benachteiligungen von Familien in den umlagefinanzierten Sozialversicherungssystemen endlich auszugleichen.

Und es ist natürlich eine Aufgabe der Wirtschaft und der Unternehmen, nicht nur staatliche Infrastruktur zu erwarten, um Arbeitskräfte zu rekrutieren, sondern selbst Verantwortung zu übernehmen: durch familienfreundliche Arbeitsbedingungen wie flexible Arbeitszeiten, geteilte Führungspositionen oder elternnahe Betreuungsmöglichkeiten; statt eine kommunale 24-Stunden-Kita zu fordern, kann ein großer Schichtbetrieb dafür sorgen, dass Eltern flexibel arbeiten und ihren Kindern in der betriebseigenen Kita begegnen können. Ganz besonders geht es um familiengerechte Berufswege.

Warum hat eine mehrfache Mutter nach einer Familienphase nicht die selbstverständliche Möglichkeit, in einem Unternehmen einen solchen beruflichen Aufstieg zu absolvieren wie Nancy Pelosi im amerikanischen Senat oder Barbara Stamm in der bayerischen Politik? Beide Beispiele zeigen, dass Familiengründung und Karriere nicht in ein und derselben Zeit erzwungen werden müssen – und das gilt erst recht für die jungen Familien von heute, für Männer ebenso wie für Frauen, da eine steigende Lebenserwartung und die allgemeine Veränderung von Lebensverläufen und Arbeitswelt immer größere Spielräume für die Flexibilisierung von Berufsbiographien eröffnen. Dazu gehört auch, Zeiten der Familienarbeit nicht als Bildungs- oder Karrieredefizit zu diskriminieren, sondern als Ausdruck der Selbstbestimmung und sozialer Verantwortung wertzuschätzen.

Family mainstreaming bedeutet, Kinder und Familien als Wert und Ziel an sich zu begreifen, nicht als eine abgeleitete Größe insbesondere von Erwerbstätigkeit. Dabei geht es in erster Linie um einen Perspektivwechsel hin zum Vorrang für Familiengerechtigkeit; politische Maßnahmen sind dann der zweite Schritt. Der Kulturwandel eines family mainstreaming eröffnet reale Chancen sozial gerechter und gemeinwohlorientierter Vielfalt. Und obendrein ist eine solche Willkommenskultur die allerwichtigste Voraussetzung dafür, dass Menschen sich dazu entscheiden, Kinder zu haben.

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Andreas Rödder

Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.

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Kristina Schröder

Kristina Schröder ist stellvertretende Leiterin der Denkfabrik R21 und arbeitet als selbständige Unternehmensberaterin, Publizistin und Kolumnistin bei der Tageszeitung WELT. Von 2002 bis 2017 war die Christdemokratin Mitglied des Deutschen Bundestages. Neben ihrem Mandat schrieb sie ihre Dissertation bei dem Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen W. Falter zum Unterschied zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit. Von 2009 bis 2013 war sie Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. „Danke, emanzipiert sind wir selber. Abschied vom Diktat der Rollenbilder“ lautete der Titel ihrer 2012 erschienenen Streitschrift, in der sie für eine Politik der Wahlfreiheit und des Respekt des Staates gegenüber privaten Lebensentwürfen von Frauen und Familien plädiert. Im September 2021 veröffentlichte Kristina Schröder die Essaysammlung "FreiSinnig. Politische Notizen zur Lage der Zukunft". Schröder engagiert sich ehrenamtlich in der schulischen Elternarbeit und als Botschafterin der Initiative Neue soziale Marktwirtschaft.

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