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Foto: Denkfabrik R21

“Die grüne Deutungshoheit ist passé”

WELT: Herr Rödder, gab es schon mal so eine schlechte Regierung in Deutschland?

Andreas Rödder: Der Fairness halber: Der zeitgenössische Blick ist immer kritischer als die historische Rückschau. Wie hat man über die Regierung Kohl oder über die Anfänge von Rot-Grün hergezogen! Und: Regieren ist immer komplexer geworden – vor 30 Jahren haben klimapolitische Auswirkungen finanzpolitischer Entscheidungen keine Rolle gespielt, heute sind sie ein Nummer-eins-Thema.

Darüber hinaus aber: Die Mischung aus ideologischem Überschwang und fahrlässiger Zögerlichkeit, die Fliehkräfte und die handwerklichen Mängel in der Regierung sind eklatant, und die Watsche des Bundesverfassungsgerichts ist beispiellos.

WELT: Wie gut ist die Union in der Opposition auf künftige Verantwortung vorbereitet? Und: Ist sie zu freundlich mit der Ampel?

Rödder: Die Union steht vor dem klassischen Dilemma einer demokratischen Opposition: gegen die Regierung zu sein, aber die Regierung nicht zu obstruieren, gerade in Krisenzeiten.

Hinzu kommt: Die Union muss sich nach der langen Regierungszeit neu orientieren – und sie muss sich entscheiden, ob sie auf Schwarz-Grün setzt und sich den Grünen anpasst. Oder ob sie eine unterscheidbare bürgerliche Partei sein will, die sich aktiv von den Grünen absetzt. Ich habe den Eindruck, die Notwendigkeit der Eigenständigkeit ist der Spitze bewusst. Die Union als soft-grüne Partei würde sich überflüssig machen – und die Zeichen der Zeit verkennen.

WELT: Erleben wir gerade weltanschaulich die Kernschmelze jener kulturellen Hegemonie rot-grüner Koordinaten?

Rödder: Ja, und das ist ein echter Paradigmenwechsel. Die grüne kulturelle Hegemonie hat sich seit den 80er-Jahren aufgebaut und seit der Weltfinanzkrise von 2008 die politische Öffentlichkeit dominiert. Sie hat die neuralgischen Zonen des Diskurses bestimmt: Klima und Energie, Migration und Integration, Geschlecht und Sexualität.

Und sie hat die Grenzen des Sagbaren festgelegt: Wer als „Klimaleugner“, „Rassist“ oder „transphob“ galt, war aus der Debatte verbannt. Wenn Hubert Aiwanger in Erding sagte, die „schweigende Mehrheit dieses Landes“ müsse sich „die Demokratie wieder zurückholen“, dann war das institutionell falsch; im Hinblick auf die demokratische Öffentlichkeit aber sprach er genau das an, was Allensbach schon seit etlicher Zeit demoskopisch erhebt.

Rödder: Erding war ein ikonischer Moment. Dort ist auch das Heizungsgesetz gescheitert – und die Strafaktion der „Süddeutschen“ ist im Rohr krepiert. Schließlich hat das Attentat der Hamas samt der sympathisierenden Demonstrationen den Schleier über den Problemen ungesteuerter Migration weggerissen. Wie Robert Habeck heute spricht, hätte noch vor Wochen als „rechts“ gegolten – wie zuvor Boris Palmer.

Aber das ist vorbei. Die grüne Deutungshoheit ist passé.

WELT: Wie erklären Sie sich diesen Wandel?

Rödder: Es gibt ein chinesisches Sprichwort, dass eine Sache, die in ihr Extrem getrieben wird, ins Gegenteil umschlägt. Die grüne Hegemonie hat ideologisch überzogen, indem sie den Rahmen des Sagbaren immer enger gezogen und immer aggressiver das Stigma „Nazi“ verteilt hat, etwa an die Teilnehmer einer Konferenz meiner Kollegin Susanne Schröter zum Thema „Migration steuern, Pluralität gestalten“ im April in Frankfurt. Irgendwann setzt dann ein, was man Reaktanz nennt: „Wenn das Nazi ist, dann bin ich eben Nazi“, sagen sich die Leute.

Hinzu kam der Einbruch der Wirklichkeit: das Hamas-Attentat und die Sympathiebekundungen von Linken und Muslimen. Der russische Überfall auf die Ukraine, der die deutsche Ideologie der „Zivilmacht“ ad absurdum geführt hat. Und das Heizungsgesetz hat eine Ahnung verschafft, dass die grüne Klima- und Energiepolitik nicht funktionieren kann.

WELT: Welche Chance liegt darin für eine bürgerliche Politik?

Rödder: Die Chance, sich aus der Defensive gegenüber der grünen Deutungshoheit zu befreien und eigene Positionen zu vertreten. Die Herausforderung, das Narrativ der Klimaaktivisten und Postkolonialisten zu überwinden, die bürgerliche westliche Gesellschaft sei im Kern zerstörerisch und rassistisch. Und die Notwendigkeit, ein positives eigenes Narrativ zu entwickeln, dass und wie bürgerliche Politik eine positive und lebenswerte Zukunft eröffnen kann.

Bürgerliche Politik muss sich mit Überzeugungs- und mit Strahlkraft sowohl von grüner Politik als auch von der populistischen Rechten absetzen. Die entscheidende Frage ist, ob die Gegenbewegung nach rechts, die wir erleben werden, in das Lager der populistischen Rechten oder in die demokratische rechte Mitte führt.

WELT: Profitieren am Ende nur Rechtsaußen-Parteien wie die AfD?

Rödder: Sie haben es einfacher, weil sie die eindeutigen Geschichten erzählen und die einfachen Lösungen versprechen. Und das vor dem Hintergrund, dass sich in Deutschland wie in vielen westlichen Gesellschaften gerade durch die Migrationspolitik ein enormes Konfliktpotenzial aufgestaut hat.

Ich bin kein Freund von Kulturpessimismus und Dystopien – aber wenn auf die Sympathie für Hamas islamistische Gewalt in Deutschland folgen sollte, würde ich bürgerkriegsähnliche Zustände nicht ausschließen. Die Extremisten würde es freuen. Daher ist eine bürgerliche Politik so wichtig, die mit harter Verbindlichkeit und Konsequenz die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie verteidigt – nach allen Seiten.

WELT: Warum haben Sie eigentlich hingeschmissen bei der Grundwertekommission der CDU?

Rödder: „Hingeschmissen“ ist ein arg großes Wort – die Arbeit der Kommission war ja schon getan, die Grundwertecharta fertig und verabschiedet. Als mir aber klar wurde, dass meine Unabhängigkeit und die Leitung der Grundwertekommission, auch wenn sie nur noch formeller Art war, nicht vereinbar sein sollten, war das für mich eine Frage der Selbstachtung. Meine intellektuelle Unabhängigkeit war immer die unverhandelbare Grundlage meines politischen Engagements als Christdemokrat.

WELT: Warum wurde die entstellte Version Ihrer Aussagen auch in der Partei so aufgeregt geteilt?

Rödder: Für die Frage bin ich eigentlich nicht der richtige Adressat. Aber auch das war Teil der grünen Deutungshegemonie: Die permanente Moralisierung der Debatte baut einen immensen tagespolitischen Druck auf und verhindert eine sachliche Differenzierung. Das gilt besonders für den hysterischen Begriff der „Brandmauer“, den sich die Union hat aufdrängen lassen und der sie in eine defensive Rechtfertigungshaltung getrieben hat. Ich halte es für nötig, dass die Union demgegenüber aus eigener Kraft in die Offensive kommt.

WELT: Wie geht Ihrer Meinung nach eine Minderheitsregierung der CDU, ohne sich im Osten von der AfD tolerieren zu lassen?

Rödder: Ich möchte die Sache nach dem ganzen Theater jetzt eigentlich nicht noch einmal vertiefen, zumal sie ganz akut nicht ansteht. Nur so viel: Minderheitsregierungen sind ein wiederkehrendes Phänomen in der Geschichte des Parlamentarismus, das ja aktuell auch in den Niederlanden im Raum steht.

Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen Minderheitsregierungen ohne und Tolerierungsregierungen mit Absprachen. Es geht um den Fall, dass Linke und AfD mehr als die Hälfte der Sitze haben und keiner allein eine Mehrheit hat. In einer solchen Situation ist eine Minderheitsregierung ohne Absprachen die einzige Möglichkeit, Bewegung in die Verhältnisse zu bringen. Dass dies keine Wunschvorstellung ist, versteht sich von selbst, aber Wählerbeschimpfung und Politikverweigerung bringen ja auch nichts

WELT: Und wird es nicht im Osten der Republik nächstes Jahr genau so kommen können, wie von Ihnen vorhergesagt?

Rödder: Ich will mich nicht als Prophet stilisieren, aber ich glaube in der Tat nicht, dass ich komplett neben der Realität gelegen habe. Jedenfalls halte ich es für wichtig, sich rechtzeitig mit dem Fall zu beschäftigen, der in Thüringen bereits eingetreten ist: dass nämlich Linke und AfD eine Mehrheit der Sitze in einem Parlament haben. Dass die CDU auch in einem solchen Fall vorbereitet und handlungsfähig ist, halte ich für eine demokratische Notwendigkeit.

WELT: Bedauern Sie den Crash mit der CDU-Spitze?

Rödder: Als „Crash“ habe ich das gar nicht verstanden. Und ich freue ich mich, dass wir sehr schnell aufeinander zugegangen sind. Mit Friedrich Merz und Carsten Linnemann habe ich besprochen, dass wir in engem Austausch bleiben. Ich werde den Kurs einer bürgerlichen CDU weiterhin unterstützen und meine Ideen aktiv einbringen. Dafür ist mir die CDU und ist die CDU für die Demokratie viel zu wichtig.

WELT: Und was wäre Ihre Hoffnung bei der FDP, wenn die bei möglichen Neuwahlen ihren Kern neu schärfen muss?

Rödder: Zunächst einmal finde ich, dass die FDP auf schwerem Posten ziemlich heldenhaft kämpft. Aber in der Ampel regiert zusammen, was nicht zusammengehört. Deshalb gebe ich die Hoffnung auf eine bürgerliche Koalition nicht auf, in der die FDP für individuelle Freiheit, Ordnungspolitik und Innovationskraft durch Marktwirtschaft und technologischen Fortschritt steht.

Schwarz-Gelb wäre die richtige Antwort auf die Herausforderungen nach dem Zusammenbruch der grünen Hegemonie. Sie könnte auch die demokratische rechte Mitte wieder breiter integrieren.

WELT: Die Feinde des Westens stehen nicht vor den Türen, sondern sind längst in unserer Mitte, erklärte der politische Kommentator und Satiriker Konstantin Kisin in einer viel zitierten Rede jüngst in London. Wie konnte es so weit kommen?

Rödder: Es ist die Folge von Illusionen und Hybris – zu meinen, dass die ganze Welt nur auf die westliche Lebensform gewartet habe, und zugleich zu übersehen, dass es Widerstände und Gegenkräfte gibt, die von außen und von innen kommen.

Das Gebot der Stunde ist daher nicht Weltmission, sondern Selbstbehauptung des Westens. Er hat die offensten, tolerantesten und wohlhabendsten Gesellschaften hervorgebracht, im historischen ebenso wie im internationalen Vergleich. Sie nach außen und im Inneren zu verteidigen, erfordert nicht Illusionen und Hybris, sondern Realismus und Entschiedenheit.

WELT: In den Niederlanden hat jetzt der Rechtsaußen-Politiker Geert Wilders die Parlamentswahl gewonnen, und in Deutschland meinen die Linken, dass das Migrationsnarrativ schuld sei. Wie sehen Sie das? Und wie kommen Linke, Grüne, „Woke“ – wie Sie sagen würden – darauf, dass ein Narrativ Menschen mehr zu Wahlentscheidungen treibe als die Realität?

Rödder: Realität gibt es nicht im Rohzustand, sie wird immer über Narrative vermittelt. Das grüne Narrativ hat Öffentlichkeit und Politik weit über die grüne Partei hinaus geprägt und mit Energie und Klima, Migration, Sexualität und Geschlecht die Agenda der letzten 15 Jahre bestimmt.

Jetzt aber treten die Folgewirkungen von Ideologie und Illusion in der Realität mit harter Offenheit zutage, und das führt zu dem Paradigmenwechsel, der gerade stattfindet. Umso wichtiger ist ein positives und zugleich von der Realität gedecktes Narrativ bürgerlicher Politik, eine gute und lebenswerte Zukunft zu eröffnen. Gute Laune statt Ressentiment und Realismus statt Illusionen, das muss die Devise bürgerlicher Politik sein.

Das Interview führte Ulf Poschardt. Es erschien erstmals am 24. November 2023 in der WELT.

Andreas Rödder

Andreas Rödder ist Leiter der Denkfabrik R21 und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtig wirkt er als Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Er war Fellow am Historischen Kolleg in München sowie Gastprofessor an der Brandeis University bei Boston, Mass., und an der London School of Economics. Rödder hat sechs Monographien publiziert, darunter „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) und „Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems“ (2018), sowie die politische Streitschrift „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“ (2019). Andreas Rödder nimmt als Talkshowgast, Interviewpartner und Autor regelmäßig in nationalen und internationalen Medien zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung; er ist Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft.

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